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Samstag, 12. Mai 2012

Mathematik des Schlappseils

Die Diskussion ist altbekannt, bei Könnern sieht man es immer wieder: viel Schlappseil, weil dies einen allfälligen Sturz beim Klettern weicher und damit angenehmer mache. Aber ob das auch wirklich stimmt? Einfache Physik liefert eine ziemlich konkrete Antwort, und die lautet nein!


Einfache Physik

Um die Sache einfach zu machen, betrachten wir ein konkretes Szenario. Der Kletterer befindet sich auf 10m Höhe, mit dem Anseilknoten über der letzten Sicherung. Nun kommt es zum Sturz. Wir betrachten die beiden Fälle:
  • Ohne Schlappseil: die Sturzstrecke beträgt 2m, bis die Wirkung des Seils einsetzt und damit der Abbremsvorgang beginnt. Der Sturzfaktor beträgt also 2m/10m=0.2.
  • Mit 2m Schlappseil: das nutzlose Schlappseil wird einfach durchgezogen, bis der Bremsvorgang beginnt. Die Sturzstrecke beträgt also 4m anstatt nur 2m. Der Kletterer weist, bevor das Seil zu bremsen beginnt, doppelt so viel kinetische Energie und eine gut 40% höhere Geschwindigkeit auf. Anstatt 10m Seil wie vorher sind jetzt 12m Seil vorhanden, welche die Energie aufnehmen können. Der Sturzfaktor beträgt 4m/12m=0.33
Ohne Zweifel führt also unnötiges Schlappseil nicht nur zu längeren Sturzstrecken, sondern auch noch zu härteren Stürzen. Schlussfolgerung aus dem obigen, einfachen physikalischen Ansatz: Schlappseil macht einen Sturz nicht angenehmer, sondern bietet nur ein zusätzliches Gefahrenpotential.


Instruktionen zum sicheren (Hallen)klettern: in Bodennähe wenig Schlappseil geben! Quelle: DAV


Die Realität

Die obige Argumentation mit den Sturzfaktoren beinhaltet die Annahme, dass alleine das Seil die Sturzenergie aufnimmt, und dies erst noch konstant über dessen ganze ausgegebene Länge zwischen Anseilknoten und Sicherungsgerät. Das ist in der Praxis so sicher nicht erfüllt. Welche Aspekte sind bzgl. Schlappseil in der Realität also auch noch zu beachten?

  • Die reale Physik ist deutlich komplizierter: v.a. die Reibung des Seils dürfte da der wesentliche Faktor sein. Am meisten Energie wird vom Seilstück zwischen Umlenkpunkt und Anseilknoten aufgenommen. Gegenüber diesem Referenzpunkt sind die Stürze 2m in 1m Seil (ohne Schlappseil) und 4m in 3m Seil (mit Schlappseil). Dieser Vergleich ginge also sogar zu Gunsten des Schlappseils aus. Der wahre Sturzhärtenunterschied (welch ein Wort...) dürfte also wegen der Seilreibung kleiner sein, als das einfache physikalische Modell vorschlägt. 
  • In der Realität, d.h. mit einem Menschen als Sicherungsperson, wird nicht statisch gesichert, sondern es gibt stets eine Bewegung des Sichernden in Richtung des ziehenden Seils. Je grösser diese ist, desto dynamischer ist der Abbremsvorgang, und desto weicher wird der Sturz empfunden. Es ist nun vorstellbar, dass der kürzere Sturz ohne Schlappseil den Sichernden noch nicht wesentlich aus dem Gleichgewicht bringt und er quasi statisch sichert, wohingegen ihn der grössere Sturz mit Schlappseil zur Wand hinzieht. Verstärkt wird dieser Effekt, dass sich Sichernde, die viel Schlappseil geben, meist auch weiter weg vom Wandfuss aufhalten und dementsprechend beim Sturzabbremsen den weiteren Weg zurücklegen.
  • Ein Klettersturz hat nie nur eine vertikale Komponente, sondern es gibt stets auch eine horizontale Bewegung zur Wand hin. Bei ungünstig wenig Schlappseil und damit Bewegungsfreiheit "im Flug" kann diese deutlich höher sein als ohne. Da bei Sportkletterstürzen in einigermassen steilem Gelände meist der Anprall an die Wand (=horizontale Komponente) problematisch ist, dürfte zusätzliches Schlappseil oft als angenehmer empfunden werden.
Fazit

Während die einfache Physik die klare Antwort "vermeide jegliches Schlappseil" liefert, muss die Sache in der Realität differenziert betrachtet werden. Der theoretisch errechnete Sturzhärtenunterschied dürfte nämlich meist kleiner sein, als die einfache Physik vorgibt. Und in weniger steilem Terrain kann zu enge Sicherung sogar einen unangenehmen Peitscheneffekt hervorrufen, so dass man zum Sturzende mit hoher Horizontalgeschwindigkeit an die Wand geknallt wird.

Was lernen wir daraus? Wohl in etwa das, wie es durch erfahrene Kletterer gehandhabt wird. Befindet sich der Kletterer noch in Bodennähe oder droht ein Sturz auf ein Band, so wird so eng wie möglich gesichert, so dass ein Sturz auf den Boden bzw. das Band soweit möglich verhindert wird. Hat der Kletterer eine gewisse Höhe (~8-10m) erreicht, so ist in idealem Sturzgelände etwas Schlappseil nicht so kritisch. Auf jeden Fall soll der Kletterer genügend Bewegungsfreiheit beim Moven und Einhängen haben, und auch ein allfälliger Peitscheneffekt beim Sturz soll ausgeschlossen werden.

Ich handhabe das in der Praxis so, dass ich mich, wenn der Kletterer auf den ersten Metern unterwegs ist, sehr nahe an der Wand positioniere und kaum Schlappseil gebe. Befindet sich der Kletterer nicht mehr in Gefahrenzone für einen Grounder, so positioniere ich mich in bequemem Abstand zum Wandfuss, ohne aber noch meterweise Schlappseil zu geben. Dies hat gleich mehrere Vorteile: Stürze werden weich abgefangen, rasches Seilgeben zum Einhängen lässt sich mit zwei, drei Schritten zur Wand hin subito und ohne Seil durch Sicherungsgerät zu ziehen bewerkstelligen und nicht zuletzt kann man den Kletterer so in nackenschonendem Modus auch besser beobachten.

Kommentare, Gedanken und Ergänzungen sind erwünscht!

3 Kommentare:

  1. Was ich bei Hallenkletterern oft beobachte:
    zu weit weg von der Wand, unpassende Platzierung (hinter dem Kletterer, statt daneben) und eben Schlappseil. Vor allem in der Halle ist die Reibung an den Schuhen (horizontal) schlecht. Bei einem Sturz aus geringer Höhe knallt es den Sichernden, bei obigem Verhalten, meist an die Wand - wenn der Gewichtsunterschied gross ist um so mehr (und den Kletterer auf den Boden). Massnahme: Die Person darauf aumerksam machen (nicht lehrermässig) oder Klippen der 1. Exe in der parallelen Route. Bis zum ersten Einhängen: Spotten.
    http://www.sac-cas.ch/unterwegs/sicherheit/sicher-klettern.html

    Sehr schön zeigt folgendes Video das Einhängen in überstreckter Stellung vs. auf Hüfthöhe. Speziell auf den ersten Metern von Bedeutung!
    http://youtu.be/hXlhVqDi_FQ

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  2. Merci für die Ausführungen, Marcel!
    Vor allem der Tipp mit den zwei, drei Schritten an die Wand zum Einhängen und von der Wand weg beim Überklettern des Hakens ist wertvoll. Ich beobachte oft, dass Sichernde Wurzeln schlagen, dabei ist das "gehende" Seilmanagement gleich mehrfach nützlich:

    a) man hat stets die richtige Länge Seil, um mit dem Körper dynamisch zu sichern: viel Spielraum beim Sturz über der Exe, gute Kontrolle beim Einhängen und wenig Schlappseil für eventuelles Reinsetzen danach.
    b) das Sicherungsgerät wird in der gefährdeten Phase nicht bzw. wenig manipuliert, die Hände sind am richtigen Ort, um den Sturz zu halten, die Gefahr von Handhabungsfehlern sinkt.
    c)man nimmt den (Sturz-)Raum unter der Route physisch ein, bzw. nimmt menschliche/natürliche Hindernisse im Sicherungsraum zwangsläufig wahr. Ebenso latschen einem weniger Unbeteiligte in die Quere.
    d) die Aufmerksamkeit ist höher dank steter Bewegung
    e) spekulativ: in Bewegung oder bei regelmässiger Bewegung steht man besser und ist sich der potentiellen Belastungsrichtung bewusster, man wird nicht so leicht von den Beinen gerissen

    Natürlich sind dieser Technik am steilen Wandfuss oder auf MSL-Touren Grenzen gesetzt, in der Halle aber ideal.

    Das Schlappseil sollte meiner Meinung nach nie den Boden berühren, es darf aber ruhig etwas durchhängen.

    G, Rise

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  3. Jeden Vorteil, den man sich vom Schlappseil erhofft, kann man gut durch die versierte Bedienung eines dynamischen Sicherungsgerätes erreichen. Eine solide funtionierende Sensorhand und feinfühlige Bremshand sind das Salz in der Sicherungssuppe.

    Grüße,

    Thomas

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