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Sonntag, 30. Oktober 2016

Ibergeregg News

Die Felstürme des Chli Schijen auf der Ibergeregg bilden ein Kletterparadies für Gross und Klein, für Plaisirkletterer und Hardmover. Die Vorzüge des Gebiets treten vor allem im Herbst zu Tage, weil die Lage auf 1500m für viel Sonnenschein über dem Nebelmeer in den Niederungen sorgt. Einzig um einen Geheimtipp handelt es sich dabei definitiv nicht. Dennoch, auch mir gefällt's dort oben super, und viele Herausforderungen warten noch. Seit heute sogar noch zwei mehr.

Tolles Ambiente am Nebelmeer, welches über dem Vierwaldstättersee wabert.
Am kleinen Zahn, der unmittelbar über dem Zustiegsweg thront und sich unweit vom beliebtesten Sektor am Westgipfel befindet, gab's neben zwei aufgegebenen Technorouten schon seit längerer Zeit das Dynamo-Testpiece "Geduldig & Stark" (8a), welche ich im Mai dieses Jahres rotpunkt klettern konnte (Bericht). Links davon konnte ich das überhängende und grossgriffige, lässige Kanten-Rüteli mit dem Namen "Lapin de Bülach" (6b+) einrichten. Tja, und rechts der "Geduldig & Stark" wartet meine grosse Challenge. Das neu eingebohrte Projekt ist ganz bestimmt kletterbar, unter 8b ist's aber kaum anzusiedeln. Fraglich also, ob ich hier den roten Punkt je werde markieren können - ich freue mich aber umso mehr aufs Probieren, ganz unabhängig vom Resultat.

Facts

Der Klettergarten Chli Schijen auf der Ibergeregg hält gegen 100 Routen von ganz einfach bis 9a bereit. Es handelt sich um eine Gruppe von freistehenden Felsnadeln und Riffen. Das Gelände ist ziemlich verwinkelt und man braucht eine gewisse Zeit, bis man sich orientieren kann. Wer sucht, der findet aber von der grossgriffigen, geneigten Anfängerkletterei bis zu massiv überhängender Wandkletterei fast alles, was das Herz begehrt. Leider gibt es aktuell keinen Kletterführer, welcher alle Möglichkeiten vollständig auflistet und der wirklich auf dem neusten Stand ist. Hier gibt es ein frei verfügbares PDF, welches aber doch ziemlich gut weiterhilft. Und den Rest kann man ja selber entdecken. Die beste Jahreszeit, um am Chli Schijen zu klettern ist ganz sicher im Herbst über dem Nebelmeer. Im Frühling bleiben hingegen viele der schweren Sportkletterrouten recht lange nass. 

Dienstag, 25. Oktober 2016

Rätikon - Hannibals Alptraum (7c)

Diese Route ist ein Meisterwerk von Martin Scheel und Röbi Bösch aus dem Jahr 1986 und damit bereits über 30 Jahre alt. Auch wenn in den Kletterführern bloss eine Maximalbewertung von 7c steht, so gilt Hannibals Alptraum auch heute noch als Testpiece für den alpinen Sportkletterer. Plattig, technisch und anspruchsvoll gesichert, ja einfach so richtig Old-School. Dementsprechend rar sind auch die erfolgreichen Begehungen. Obwohl es viele lockt, so schrecken doch die meisten vor dem Ruf zurück. Nina Caprez hat diesen nach ihrer Begehung mit der Aufwertung von 3 Seillängen auf 8a noch weiter befeuert, siehe (1,2). Trotzdem wollten wir einmal schauen... beide hatten wir kürzliche Erfolge im Grad 8b und darüber hinaus in der Tasche, ob wir wohl auch auf die Welt kommen würden?!?

Die Südwand der vierten Kirchlispitze mit dem Verlauf von Hannibals Alptraum (7c).
Der Oktober 2016 zeichnete sich nicht gerade durch sommerliche Wärme aus, und so waren auch für den Tag unserer Begehung tiefe Temperaturen und eine ziemlich unklare Nebelobergrenze angesagt. Wir kurvten ins gottverlassene Gebirge und tatsächlich: die Temperaturanzeige am Auto mit dem Bindestrich vor den Zahlen war nicht falsch, auch der Boden war gefroren. Immerhin konnten wir das Nebelmeer auf 1500m aber unter uns zurücklassen und bei schönstem Sonnenschein und grandioser Herbststimmung zum Elefantenbauch an der vierten Kirchlispitze hinaufsteigen. Der Weg war uns natürlich bestens bekannt, waren wir doch beide erst kürzlich für die Prix Garantie vor Ort. Wir stellten fest, dass jemand die nicht mehr taufrischen Fixseile ausgetauscht hatte - vielen Dank an unbekannt für diesen Service. Bei angenehmen Temperaturen machten wir uns in der Nische unter dem Silbergeier bereit. Reichlich warme Kleider wurden aber dennoch in den Haulbag eingepackt, denn... wer weiss schon. Bereits jetzt war sichtbar, dass die Nebelschwaden vor allem eine Richtung kannten, nämlich die nach oben. Um 10.30 Uhr ging's los mit der Kletterei.

Der Nebel hatte an diesem Tag das Konzept der Obergrenze leider nicht so ganz richtig intus... überall wölkt's und quellt's!
L1, 40m, 7b+: Entgegen aller Befürchtungen denkt man sich vom Einstieg, dass die Bohrhaken ja eigentlich recht dicht stecken. Dieser Eindruck täuscht zwar nicht, allerdings sind sie natürlich auch nicht grundlos da. Schon vom ersten Meter an ist die Kletterei anspruchsvoll und es lässt nicht nach. Es folgt die erste im Originaltopo mit 8+ bewertete Einzelstelle - wir finden aber eine gute Lösung und kommen zum Rastpunkt nach dem ersten Wandl durch. Die Crux der Seillänge dann aber am steilen Auftakt zur zweiten Hälfte (obwohl hier im Topo nur eine 8 steht). Das vermeintliche Reichweitenproblem lässt sich auch mit meiner Spannweite unmöglich lösen, saublöd antreten und schwer moven ist die einzige Alternative. Danach weitere, erstaunlich athletische Moves dafür, dass die Wand kaum senkrecht ist. Weil es aber auch kaum Tritte gibt und man ständig den Druck auf den Füssen aufrecht erhalten muss, fordert es dennoch enorm Körperspannung, Finger- und Oberarmkraft. Danach kommen tatsächlich ein paar gemütliche Meter (mit 7 bewertet), bevor das etwas weniger schöne Finish nochmals sorgfältige Planung erfordert. Dani steigt Onsight, mich spickt's an der Stelle am Anfang der zweiten Hälfte. Wir gelangen zur Einsicht, dass die Länge vielleicht einen Tick einfacher wie die L1 der Prix Garantie (7c) gleich nebenan ist. Somit ist 7b+ sicherlich ein passender Grad, 7a+ wie in diversen Kletterführern ist fernab jeder Realität, sowieso auch im Angesicht der Tatsache, dass die schwersten Einzelstellen bereits den Grad 8+ (7a+/7b) verlangen.

In L1 (7b+) von Hannibals Alptraum, die schwersten Meter sind eben gemeistert. Rechts vom Haulseil Prix Garantie (7c).
L2, 35m, 7c: Die ersten Meter nach dem Stand klettern sich ohne grössere Schwierigkeiten (7+), doch dann kommt die Stelle mit dem ominösen Doppelbohrhaken. Den unteren der beiden kann man anklettern, derjenige 30cm weiter oben... naja, der hilft halt eben optimal, um den folgenden, heftigen Plattenboulder (Crux der Länge, 9-) A0 zu bewältigen. Wir schmieren an dieser Stelle beide ab - sie ist praktisch grifflos, sauber antreten und Gleichgewicht halten sind gefragt. Da noch viele Meter warten, halten wir uns (dummerweise) nicht länger damit auf und steigen weiter. Die A0-Möglichkeit bezahlt man mit einem fordernden Platten-Runout (8) an kleinen, etwas fragilen Schüppchen, bevor dann ein richtig langer Abstand bei einfacher Kletterei (7) folgt. Die nun folgende Linksquerung ist tricky (8, sehr gut gesichert), das Finish dann einfach affengeil. Genau in der richtigen Menge hat's hier ein paar kleine Schüppchen und Tropflöcher in der ansonsten arschglatten Wand, damit's gerade aufgeht - ein wahres Wunderwerk der Natur. Nachdem wir den Plattenboulder dieser Länge beide nicht lösen konnten, ist es natürlich schwierig, einen präzisen Bewertungsvorschlag abzugeben. So 7c (und damit gleich wie L1 von Prix Garantie) könnte aber etwa hinkommen - man muss hier wohl einfach etwas Üben, damit man einmal schnallt, wohin genau angetreten werden muss, und wie man genau das Gewicht verlagern muss.

Die Stelle am ominösen Doppelbohrhaken in L2 (7c). Von dieser, gut erreichbaren Position muss man horizontal und quasi grifflos über die fein ziselierte, raue Platte klettern, bis man die erkennbaren Schuppen links aussen zu fassen kriegt. Am schwersten sind gleich die Moves aus der abgebildeten Position weg.
L3, 35m, 7c: Schon gleich aus dem Stand raus ist die Kletterei bei sehr guter Absicherung fordernd (8). Total geniale und abgefahrene Moves aber. Hoch antreten, reinstemmen, Tropflochcrims krallen, alles was das Herz begehrt, die Felsqualität super. Nach dieser ersten Mauer geht's kurz easy dahin (ohne Bewertung, ca. 7). Auch die ersten Meter der diagonalen Rechtsquerung klettern sich noch besser, als man vermuten könnte. Die fixen Petzl-Exen in den folgenden Bolts (vielen Dank!) lassen dann aber hohe Schwierigkeiten vermuten und prompt kommt es so (9-). Gut gesichert zwar, aber zwingend gilt es die senkrechte Wand zu klettern. Wiederum für die Steilheit erstaunlich athletisch, aber eben erneut so gut wie trittlos - von den Seitgriffen Druck auf die Füsse zu bringen und vorwärts zu moven ist enorm schwierig. Über etwa 5m ist's anhaltend, dazu mit einem heiklen Klipp garniert, danach lässt's nach und geht mit einem einfacher werdenden Runout zum Stand. Dani zieht es durch, ich kriege die Crux hingegen nicht auf Anhieb gebacken. Als Bewertung würden wir hier in etwa den Grad 7c vorschlagen.

Ausblick auf L3 (7c). Erst formidable Wandkletterei, dann etwas einfacher bei der Schuppe und die Crux durch die obere Wand.
In der Crux von L3 (7c), für links ein Seitgriffsloper, für rechts der ultimative Henkel ;-), die Tritte so gut wie inexistent.
L4, 35m, 7c: Gemäss diversen Topos wird diese Länge als Crux (7c) bezeichnet, uns ist sie hingegen in Summe fast am besten gelaufen. Nach wenigen gut machbaren Metern wird's schon schwierig (8) - rechtsrum oder linksrum ist die Frage. Beide gehen, einfach ist keine, der linke Weg ist aber etwas weniger kühn. Nach einem ziemlichen Runout (8-, eher etwas einfacher), wo die Griffe aber da sind, folgt dann das Herzstück dieser Länge. Eine seichte Verschneidung unter dem Abschlusswulst. Auf einem aus der Luft aufgenommenen Foto von Nina Caprez hatte ich diesen Abschnitt "als sicher noch coole, wohl dem Aussehen nach nicht allzu schwere Kletterei" eingestuft. Aber wie man sich täuschen kann! Griffe und Tritte hat es irgendwie keine nennenswerten, der Fels ist aber rauh und strukturiert. So stemmt, schiebt und patscht man sich in die Höhe... und tatsächlich, es geht, voll genial! Im Vorstieg ist diese Stelle (8+) sicherlich sehr unangenehm. Die Hakenabstände sind wohl nicht extrem weit, aber es ist doch ultrazwingend und so griff- und trittlos 2m über dem Bolt an der absoluten Abschmiergrenze cool zu bleiben, das erfordert einfach ein ultrasolides Nervenköstum. Dani weist das auf und steigt Onsight durch, der absolute Wahnsinn. Mir gelingt dann im Nachstieg etwas überraschend der Flash - irgendwie fühlte es sich vom Schauen her unmöglich an, trotz Seil von oben auch etwas unangenehm, aber mangels Alternativen ich habe einfach gemacht, und irgendwann war die Stelle vorbei. Zum Schluss geht's dann noch über den Wulst hinweg, aber da hat's griffige Risse und daher ist das kein Problem. Schwierigkeit: in etwa gleich wie die Längen davor, ergo 7c. Schwerer kaum, sonst hätten wir das wohl nicht auf Anhieb durchgestiegen. Aber wie erwähnt, für den Vorsteiger psychisch sicher der anspruchsvollste Brocken.

Hey yo, brother, 8a flash!!! L4 (hier die leichten, letzten Meter) fordern vom Vorsteiger alles ab, da man hier deutlich über dem Haken sehr gewagte und kaum kontrollierbare Stemm-Moves an der äussersten Haftgrenze vornehmen muss. Irgendwie waren Grip und Gravitation aber gnädig gestimmt, und so konnten wir hier beide sauber durchsteigen. Deshalb dürfte sich diese Länge kaum oberhalb von 7c bewegen.
L5, 25m, 7b+: Bis zu dieser Stelle hatten wir von prima Bedingungen profitieren können. Wiewohl, die Lufttemperaturen lagen bestimmt unter dem Gefrierpunkt. Das schliesse ich jetzt mal daraus, dass die Nullgradgrenze auf 1900m lag, während wir auf 2400m kletterten. Dank der Sonne, wenig Wind und der trockenen Luft oberhalb des Nebels ging's gut, der Grip war natürlich ideal. Doch nun wurden wir eingenebelt. Feuchte Luft, plötzlich lästiger Wind, unternull - trotz Ausrüstung wurde es rasch garstig. Somit haben wir von dieser letzten Seillänge vielleicht einen schlechteren Eindruck erhalten, als es in Realität ist. Mit klammen Händen geht's gleich los mit einer schweren Boulderstelle (8+/9-) an scharfen Tropflöchern - voll reinkrallen (autsch!) und auf den Sloper links aussen patschen, diffizil auflösen. In der Folge ist dann nicht ganz klar, ob man sich besser an das nicht ganz so kompakte Gelände links hält, oder direkt am Pfeiler klettert. Wir können es nicht recht beantworten - direkt sieht's nicht recht griffig aus, links ist's aber auch mühsam an reichlich runden Rissen. Gemäss dem Originaltopo warten hier nochmals zwei 8er-Stellen und es geht die Wand hoch. Die Absicherung ist prima, die Linie sicher etwas gesucht - wobei ich's bestimmt auch so eingebohrt hätte. Nach einem letzten, heiklen Move (8-) geht's dann ums Eck auf den Pfeilergipfel und wir haben's geschafft. Als Bewertung schreibe ich hier einmal 7b+ auf, ob der garstigen Bedingungen stiegen wir aber beide nicht durch und sind in dieser Hinsicht unsicher. Sicherlich ist's aber nicht markant einfacher wie die unteren Seillängen, zumal auch die Einzelstellenbewertung (8+/9-) höher liegt als in L1 und L4.

Das Top am Ende von L5 (7b+) erreicht, die Temperaturen inzwischen ganz schön frisch...
Vom Top der Route wären es noch rund 60m bis auf den Gipfel. Etwas linkshaltend käme man da in Vierer- bis Fünfergelände hin. Oder aber, man könnte die 20m hohe Wandstufe diagonal rechts hoch zum gut sichtbaren, vorletzten Stand der Prix Garantie klettern (für beides: Keile/Friends nötig). Eine weitere Idee von uns war es noch, über den Silbergeier abzuseilen, um dort mal einen Blick werfen zu können. Aber da hatten wir die Rechnung noch ohne den Nebel und den Windchill gemacht. Die gefühlte Temperatur lag wohl so bei -10 Grad, und was als gemütliches MSL-Sportklettern bei Sonnenschein begonnen hatte, entwickelte sich langsam zum seriösen Alpinabenteuer. Nix wie runter, hiess also die Devise - aber dabei natürlich trotzdem konzentriert bleiben und ja keinen Fehler machen. Effizient gelangten wir zurück zum Einstieg, dort unten blies der Wind nicht mehr so stark und es war schon deutlich angenehmer. Nach einem Vesper und letzten Aufräumarbeiten am Einstieg der Prix Garantie ging's dann an den Fixseilen und per Geröllsurf zügig in die Tiefe. Zurück beim Auto der gespannte Blick auf die Temperaturanzeige - ja, die waren den ganzen Tag nicht über den Gefrierpunkt gekommen. Zwei Spinner auf Tour im bereits winterlichen und deshalb verwaisten Rätikon, könnte man also konstatieren. Für uns war's aber ein genialer Tag, gut den genutzt zu haben. Und Hannibals Alptraum hatte genau das geliefert, was wir uns davon versprochen hatten.

Wie immer, tolles Ambiente im Rätikon. Im Herbst, wenn so ganz menschenleer ist, umso besser!
Ob die Route auch für mich Rotpunkt möglich sein könnte? Immerhin konnte ich bis auf wenige Meter alle Stellen gleich auf Anhieb klettern. Natürlich, dies dann auch im Vorstieg und mit dem Rotpunkt-Druck noch zu machen, ist eine ganz andere Geschichte... Man muss aber auch bedenken, wie solche Route üblicherweise in den Beiträgen geklettert wird, welche wir in den sozialen Medien mit "gefällt mir" beurteilen (habe es nun oft genug live vor Ort gesehen) - da wird die Route komplett mit Fixseilen eingerichtet, so dass man sich die Seillänge, welche man bearbeitet nach Belieben aussuchen kann. Selbstverständlich wird zuerst im Toprope genau ausgecheckt, ausführlich markiert und mit verlängerten Schlingen usw. ideal präpariert. Und selbst so sind sturzfreie Gesamtdurchstiege eine grosse Seltenheit - oft wird die Sache schon abgehakt, wenn alle Längen einmal gepunktet sind. Man darf sich einfach nicht der Illusion hingeben, dass man eine solche Route (noch dazu als Amateur) erfolgreich Rotpunkt meistert, indem man unten mit seinen 10 Express am Gurt einsteigt und dann in einem Anlauf bis zum Top durchklettert. Bei den Profis läuft's meist ein bisschen anders, als wir Normalos das üblicherweise beim Alpinklettern machen. Ob diese Belagerungstechnik hingegen Spass macht, oder der rote Punkt ungeachtet von Aufwand und Stil über allem anderen stehen soll, ist dann hingegen wieder eine andere Frage...

Facts

4. Kirchlispitze - Hannibals Alptraum 7c (7b obl.) - 5 SL, 170m - Scheel/Bösch 1986 - *****;xxx
Material: 2x50m-Seile, 12 Express, Steigklemme fürs Fixseil, Keile/Friends nicht nötig

Ein Meisterwerk des alpinen Sportkletterns in der berühmten Südwand der vierten Kirchlispitze. Praktisch vom ersten bis zum letzten Meter wartet anspruchsvolle Kletterei, welche sich bis auf ein paar noch schwerere Einzelstellen fast durchgehen im achten UIAA-Schwierigkeitsgrad abspielt. Die Moves sind sehr technisch - die Wand ist meist knapp senkrecht und dabei arm an Griffen und Tritten. Der Fels ist aber zum grössten Teil vorzüglich, rau und mit hervorragender Reibung, so dass man sich auch an einem Hauch von nichts in die Höhe zaubern kann. Monieren kann man einzig, dass man sich teilweise an kleinsten Schüppchen bedient, welche hie und da etwas fragil wirken und teils auch schon weggebrochen sind. Trotzdem reicht's auf jeden Fall für 5 Schönheitssterne - Weltklasse! Von den Aspiranten werden gute Fusstechnik, Balance, Körpergefühl, Fingerkraft und trotzdem auch Athletik und Körperspannung gefordert. Und vor allem natürlich ein solides Nervenkostüm. Die Absicherung darf man zwar durchaus als "gut" bezeichnen (xxx), weite Abstände kommen kaum, und wenn dann wirklich nur auf den wenigen einfacheren Metern vor. Trotzdem ist die Kletterei halt aber einfach auch zwischen den Haken anhaltend schwer und zwingend zu meistern, noch dazu in einem mit reiner Kraft schwer kontrollierbaren Stil, oft hart am rauskippen. Keile und Friends kann man getrost zuhause lassen, auch wenn an 2-3 einfacheren Stellen noch die eine oder andere Sicherung platziert werden könnte - in der Regel ist da aber auch ein Bohrhaken in unmittelbarer Nähe, oder man würde nur riskieren, eine zum Klettern wichtige Schuppe beim Sturz abzusprengen.

Topo

Das Originaltopo von Martin Scheel stimmt nach wie vor uneingeschränkt. Die Route befindet sich 30 Jahre nach der Erstbegehung noch im Originalzustand. Das Hakenmaterial besteht aus Mammut-Ringhaken und Kronenbolts, es wirkt ein bisschen veraltet und sanierungsbedürftig. Nachdem die Haken aber relativ eng stecken, fanden wir es durchaus noch im akzeptablen Bereich.

Nach wie vor aktuelles Originaltopo von Martin Scheel. Quelle: azoom.ch
Weiteres

Sehenswert auch das brandneue Video von Dani Arnold, welcher die Route am Tag nach unserer Begehung Rotpunkt klettern konnte...

Sonntag, 9. Oktober 2016

Bockmattli - Gravitation (8b)

Jetzt kann auch in den Bockmattli-Nordwänden im zehnten UIAA-Grad geklettert werden! Daniel Benz und Bruno Wälli haben am Ostturm mit der 6-SL-Route Gravitation (8b) eine neue Extremroute eingerichtet und rotpunkt geklettert. Auch die Kletterei ist wirklich cool: über 4 Seillängen ist's anhaltend schwer bei richtig guter, abwechslungsreicher Kletterei. Von Stellen an Sloperleisten über kleingriffig/technische Passagen zu knallharter Crimperei an Schüppchen/Untergriffen bis zu einem witzigen, sehr athletischen Hin-/Her-Quergang gibt's fast alles, was das Hardmover-Herz begehrt. Noch dazu ist es die einfachste und logische Route durch die eindrückliche Wand, ja vermutlich die einzige Freiklettermöglichkeit durch etwa 3 Hektar steiles Felsmaterial überhaupt, was die Route umso aussergewöhnlicher macht.

Der Routenverlauf durch die steile Nordwand am Bockmattli Ostturm.
Nebst der Tatsache, dass ich mit den Erstbegehern bekannt bin und allein deren Leistung hier schon eine Erwähnung verdient, konnte ich mir auch noch einen kleinen Anteil an der Geschichte dieser Route sichern. Am 12. September 2015 konnte ich nämlich mit Dani die erste bohrmaschinenfreie Kletterbegehung der Gravitation durchführen. Nachdem sich Dani Ende September 2016 eine durchgehende RP-Begehung sichern konnte, kann und will ich an dieser Stelle meine persönlichen Eindrücke wiedergeben. Der Zustieg vollzieht sich wie üblich zur Schwarzenegghöchi. Von dort steigt man aber nicht wie üblich zum Kletterhüttli auf, sondern wählt den markierten Wanderweg, der unterhalb der Türme zur Trepsenalp führt. Über die Geröllhalde unter dem Einschnitt zwischen Ostturm und Grossem Turm steigt man dann hinauf, die Aura der beinahe unendlich hoch und steil scheinenden Türme ist hier gewaltig! Bevor man losklettern kann, gilt es erst über steiles Grasgelände (ca. T5) und danach entlang einem Drahtseil über felsige Schrofen zum Einstieg zu kommen. Man kann und sollte hier bereits sichern, im Prinzip ist der Weg zum Einstieg aber problemlos.

Wandbuch, Seiten 1 und 2. Ab jetzt werden neue Kapitel beschrieben...
Nun, die Frage stellt sich, wer dieses Drahtseil denn überhaupt installiert hat. An dessen Ende beginnt nämlich nicht nur die Gravitation, sondern auch eine historische Route. In technischer Kletterei hat hier jemand im Meterabstand auf der Linie des fallenden Tropfens Bohrhaken angebracht. Vermutlich in äusserst mühsamer, zeitraubender Handarbeit. Aufgrund von Stil und Material dürfte die Linie der Epoche der späten 1960er- oder 1970er-Jahre zuzuordnen sein. Es ist sozusagen die Kompressorroute am Bockmattli - und sowas gilt ja heutzutage eher als Schandfleck. Trotz vielerlei Anstrengungen konnten wir nicht herausfinden, wer der Urheber ist, bzw. was es mit diesem in Wandmitte abgebrochenen Versuch auf sich hat. Weder ist in den früheren Ausgaben der Bockmattliführer (vor 1992) etwas darüber erwähnt, noch wissen Gebietskenner und Locals etwas darüber. Unsere Recherchen führten auch zur interessanten Geschichte von Heini Ryffel und seinem Gefährten Juli Hensler, welche nachweislich am Ostturm abgestürzt sind. Allerdings kaum in diesem Projekt, denn die Beschreibung passt gemäss den Texten (1,2) von Emil Zopfi und den Kommentaren dazu ganz und gar nicht. Und zudem hätte sich ein solch talentierter Freikletterer wie Heini Ryffel, der damals in kurzer Zeit viele der zeitgenössischen Masterpieces wiederholen konnte, wohl auch kaum einer solchen Nagelei hingegeben. Wie auch immer, legen wir den Fokus nun auf die neue Linie der Gravitation. 

L1, 25m, 7a: In steiler, athletischer und griffiger Kletterei geht's in einer kleinen Rechtsschleife aufwärts. Fordernde Kletterei bereits, die Felsqualität gut, aber im Vergleich zu dem was noch folgt nicht erste Sahne. Gut eingebohrt ist's auch, im Runout zum Stand hin wird man aber bereits etwas getestet.

Bereits fordernde Kletterei in L1 (7a), trotzdem ist's natürlich nur ein Aufwärmen für das, was kommt.
L2, 45m, 7c+/8a: Eine Monsterlänge! Zuerst geht's dem markanten, grauen Streifen entlang, noch gemeinsam mit der Artifroute. Bald werden die Griffe aber kleiner und die Kletterei schwer. In abschüssigem Gelände gilt es sich an sloprigen Leisten in die Höhe zu arbeiten. Sobald man nach rechts in die gelbe Wand hinausquert, gibt's auch wieder etwas positivere Griffe, die Länge bleibt aber bis zum Schluss fordernd, auch weil gegen das Ende hin die Hakenabstände immer grösser werden.

Betont senkrechte, anhaltend schwierige Wandkletterei wartet in L2 (7c+/8a). Der Kontrast zum Brüggler hinten enorm!
L3, 20m, 7b: Vom Stand gilt es, zuerst ein Stück über L2 zurückzuklettern, um dann in fordernder Wandkletterei im gelben Fels hinaufzumoven. Man kommt schliesslich zu einem Ruhepunkt, von welchem ein witziger, technischer Boulder am einem 1-Finger-Untergriff folgt - ob man's glaubt oder nicht, mir ging es tatsächlich bei Verwendung des kleinen Fingers am besten. Zuletzt dann noch etwas weniger schön (flechtig/dreckig) aber doch nicht ganz einfach in die Oase (Grasinsel in Wandmitte), wo sich noch einige Relikte der früheren Kletterer befinden.

Der Move am Pinky Mono in L3 (7b) - unglaublich aber wahr, mit den anderen Fingern fühlte es sich schlechter an.
L4, 45m, 8b: Eine weitere Monsterlänge! Der Auftakt in einer Querung nach rechts einfach (ca. 6a), aber oft dreckig und nass - für diesen Fall haben die Erstbegeher ein kurzes Seilstück zurückgelassen. Danach die steile Verschneidung hinauf (ca. 6c), auch noch nicht so überzeugend. Das Herzstück folgt dann aber, wenn beim Ende der Hakenleiter das markante Dach überquert wird. Auf der senkrechten oder gar leicht überhängenden Platte geht die Post ab - an kleinen, scharfen Kratzern und ein paar Untergriffschüppchen arbeitet man sich in die Höhe. Erst die allerletzten Meter zum Stand mit Wandbuch unter dem markanten Dachriegel bieten wieder etwas makroskopische Griffe.

Knallharte Crimperei an Tropflöchern und kleinen Schüppchen in der überhängenden Wand: L4, 8b.
L5, 25m, 7c+: Es bleibt zu hoffen, dass während dem Eintrag im Wandbuch wieder etwas Kraft zurückgekehrt ist. Denn die braucht es hier definitiv. Die einzige frei kletterbare Linie führt erst in einem Quergang etwa 7m nach links, dann anspruchsvoll mit einem dynamischen Move 3m hinauf. Danach quert man wieder zurück, bis man oberhalb vom Stand steht - also 15 richtig schwere Klettermeter für nur 3-4m Terraingewinn. Vor allem die Rückquerung hat es in sich, an runden Griffen und sehr trittarm (im hier nun typischen, glatten Bockmattli-Nordwandfels, bis dahin kommt das Tanzparkett kaum vor) gilt es zu klettern. Wegen der eher knapp gehaltenen Absicherung muss hier der Nachsteiger ebenso sehr parat sein - ein idealer Ort, um eine neue Freundin auf Alpintauglichkeit und stabile Psyche zu testen ;-) Nach einem fordernden Dynamo und einer Hangelstelle sind dann erst die letzten Meter entlang einer Verschneidung etwas einfacher (ca. 7a), dafür teilweise selber abzusichern.

Auch die letzten Meter in der Verschneidung der anspruchsvollen L5 (7c+) sind nicht geschenkt.
L6, 55m, 6c+: Eine wirklich genussvolle Abschlusslänge im typischen Bockmattli-Nordwandstyle. Erst durch eine lässige Verschneidung, dann ein griffig-überhängender Wulst und zuletzt dann noch etwas Auslaufen in einfacherem 6a-Plaisir-Gelände. 

Typische, sehr schöne Bockmattli-Kletterei in L6 (6c+). L1-L4 haben jedoch anderen Charakter (schärfer & steiler).
Das Routenende befindet sich auf einem breiten Band. Ich hatte erst noch moniert, dass eine Route doch schliesslich auf dem Gipfel zu Ende sein solle - vor Ort musste ich dann aber auch klar eingestehen, dass eine Weiterführung keinen Sinn gemacht hätte. Wer will nach einem 8b-Testpiece noch 2-3 SL in schrofigen Vierern rumeiern, nur um danach mühsam wieder darüber abseilen zu müssen. Anwärter, welche nebst hohem Niveau auch noch ein richtiges Alpinistenherz mitbringen, könnten den Gipfel aber mit etwas Trad-Gear (oder evtl. einem Queren in die Kälin/Steiner) vermutlich erreichen - wahrscheinlich käme man dann über den Trubadur auch wieder runter. But try at your own risk! Die steile Abseilfahrt über die haltlose Wand ist dann ebenfalls sehr eindrücklich und erfordert Aufmerksamkeit. Witzig ist auch der reproduzierbare Peitschenknall vom Seil, welches hier fast 120m ungebremst in die Tiefe fällt - inmitten der steilen Arena hallt es besonders laut, nur nicht zu Tode erschrecken! Über den Vorbau kann dann ebenfalls in direkter Linie und erstaunlich bequem abgeseilt werden. Bald darauf steht man also wieder unter den Türmen und blickt auf eine grandiose Kletterei zurück. Ich bin gespannt, wann die Route ihre ersten Wiederholer findet, und wie sie diese dann einschätzen.

Eindrücklich steile Abseilerei bei haltloser Perspektive...
...beim Seil abziehen macht's reproduzierbar "peng", und das ist das Resultat am Seilende.
Steiles Abseilen über den unteren Wandsteil, der Fels hier scharf und gar nicht bockmattlitypisch.

Facts

Bockmattli Ostturm - Gravitation 8b (ca. 7b obl.) - 6 SL, 215m - Benz/Wälli 2015/16 - ****;xxx
Material: 2x60m-Seile, 15 Express, Camalots 0.5-2, Handschuhe fürs Drahtseil

Eine wirklich coole Extremroute, die über 4 Seillängen anhaltend anspruchsvoll ist. Die schweren Stellen sind nicht total abgefahrene und halbwegs unmögliche Boulder, sondern "normale Kletterei", halt einfach an entsprechend kleinen/schlechten Griffen und Tritten. Es wird einem viel Abwechslung in einem super Ambiente geboten: Sloperleisten, Kratzer-Passagen, Untergriffe und ein witziger Quergang. Es handelt sich zudem um den leichtesten und damit logischen Wanddurchstieg, die Schwierigkeiten sind überhaupt nicht gesucht oder erzwungen. Somit darf man für die Schönheit auf jeden Fall 4 Sterne vergeben, der Fels ist gut und solide, wenn auch nicht auf jedem Meter von 1a-Qualität (sprich da und dort auch mal etwas staubig oder belagig). Die Absicherung würde ich über weite Strecken als xxxx bezeichnen, einige Stellen (Ende von L1 und L2, Beginn von L3, L5) sind aber fordernder, deshalb insgesamt xxx. Es stecken solide Inoxbolts, stellenweise muss man in leichterem Gelände noch etwas mit Cams ergänzen, was aber bei offensichtlichen Placements problemlos möglich ist. Nach starken Regenfällen und im Frühjahr braucht die Route etwas Zeit, bis sie richtig abgetrocknet ist. Sie bleibt im Hochsommer bis gegen 15.30-16.00 Uhr im Schatten, im Herbst erreicht die Sonne die schweren, unteren Seillängen kaum mehr. Das hervorragende Topo der Erstbegeher kann man hier als PDF runterladen: klick!