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Donnerstag, 20. Juni 2019

Mittagflue - Abadia (7a)

Die Mittagflue ist für ihre Plaisir-Klettereien in der Südwandplatte bekannt und beliebt. Von der Abadia, welche grösstenteils in der steileren Westwand verläuft, hört man hingegen nur relativ wenig. Ich stellte mir immer die Frage, woran das wohl liegen möge. Die Qualität der Kletterei kann es jedenfalls nicht sein: interessante und abwechslungsreiche Seillängen führen zum Prunkstück, der stark überhängenden, henkligen und äusserst luftigen 7a. Ich habe ja im Berner Oberland weissgott schon viele MSL-Pitches geklettert, aber die Crux der Abadia ist definitiv eine der besten! 

Die charakteristische Mittagflue im Grimselgebiet unweit vom Ausgangspunkt gesehen. Die Abadia verläuft (meist) unmittelbar links der Schatten/Sonnengrenze in der steilen Westwand. Im sonnigen Plattenschuss befinden sich diverse, sehr beliebte Plaisirrouten im fünften Franzosengrad.
Meine 9-jährige Tochter wollte mich auf eine MSL begleiten. Nach ausgiebigem Topostudium einigten wir uns auf die Abadia. Das Spezielle daran: die figurierte auf meiner persönlichen Projektliste und nicht auf meiner Kids-Projektliste. Jetzt ist es also soweit! Kurzfristig ergab sich dann auch noch die Möglichkeit, endlich einmal die Mission "Spanking the Frido" anzutreten. Sprich, ein Kollege kam auch noch mit und endlich konnte einmal der schon ältere Wunsch meiner Tochter erfüllt werden, ihm auf einer MSL zu zeigen, wie gut sie schon Klettern gelernt hat. Über die Bedingungen war ich im Vorfeld etwas im Unklaren. Im Frühsommer 2019 lag in den Alpen noch extrem viel Schnee und leider gibt's in der Gegend keine Webcam, welche die Situation repräsentativ zeigt. Doch der Einstieg der Mittagflue liegt nur auf 1400m, das Top auf 1750m und sie geht generell früh in der Saison. Sollte also machbar sein, und perfekt wie erhofft war es dann auch.

Aus der Nähe ändert sich die Perspektive! Verlauf der Abadia, der Einstieg ist auf dem Bild nicht sichtbar.
Obwohl an diesem Tag erstmals im Jahr die 30-Grad-Marke geknackt wurde, befürchtete ich eher frühmorgendliches Kältezittern in der schattigen Westwand als später schon zu extreme Hitze. Somit entschieden wir uns für einen späten Aufbruch, zumal dies auch absolut dem Gusto aller Beteiligten entsprach. Wie sich zeigen sollte, lag ich mit dieser Einschätzung goldrichtig. Somit brachen wir erst um 10.50 Uhr bei Tschingelmad (1160m) auf, etwa 5-6 andere Seilschaften waren bereits mit dem Ziel einer Plaisirroute in der Südwand unterwegs. Der Zustieg umfasst gerade etwa 300hm, je nach Gehtempo macht das eine gute halbe Stunde. Wie so oft im Frühling war am Wandfuss noch ein steiles Schneefeld vorhanden. Sofern dieses hart ist, entpuppt sich eine Überquerung ohne alpine Ausrüstung (Bergschuhe, Pickel, evtl. Steigeisen) als heikel und gefährlich. Um den ca. 50hm tiefer liegenden Einstieg der Abadia zu erreichen, konnte der Schnee gerade unten herum umgangen werden. Um rund 11.45 Uhr waren wir aufgeschirrt und es ging los.

L1, 45m, 6a+: Steilplattige Kletterei der Marke "gar nicht so einfach". Alles ein bisschen rund und abschüssig, noch dazu ziemlich anhaltend, ohne auch mal über den Haken beherzt anzutreten geht's nicht. Der Stand dann wieder einmal in typischer Remy-Manier. 3m tiefer oder 3m höher könnte man offensichtlich bequem stehen, aber nein mitten in der Steilzone befindet sich der Hängestand.

Der Einstieg scheint schon weit entfernt, aber wir befinden uns erst am Ende der langen und ziemlich anspruchsvollen  L1 (6a+). Im Hintergrund die Schneesituation. Solange der Schnee hart ist, bleibt die Querung des Couloirs heikel. Zur Abadia liess er sich jedoch untenrum umgehen.
L2, 35m, 5a+: Diese Seillänge hätte sich fürs Aufwärmen hingegen bestens geeignet: gemütliche und schön griffige Kletterei, ein echtes Plaisir!

L3, 40m, 6b+: Kurz links und dann in die kompakte Wand hinauf, wo einige kleine Leisten gehalten werden müssen. In der Folge geht's weiter schön, aber etwas gemässigter dahin bis zur kniffligen Crux. Hohes Aufstehen auf eine gute Trittleiste aber ohne Griffe ist gefragt und zwar ohne, dass man nach hinten wegkippt. Das Finish etwas kühn über eine Platte regt auch nochmals zum Nachdenken an.

Die nicht banale und auch nicht eben kurz abgesicherte Platte am Ende von L3 (6b+). Die Nachsteiger haben gut lachen!
L4, 30m, 6a+: Schon bald nach dem Auftakt eine kurze Cruxsequenz an ein paar Leisten. Sicherlich etwas grössenabhängig, nach meinem Geschmack eher gutmütig für den Grad. In der Folge dann einfacher und (nicht ganz einfach zu finden) zu Stand auf der Kante.

L5, 40m, 5b: Mehr oder weniger direkt der Kante entlang aufwärts, ohne dabei nach rechts in die Route "Südkante" abzudriften. Das ist ziemlich verlockend, weil die dort steckenden Inox-BH deutlich besser sichtbar sind wie die angerosteten Exemplare der Abadia. Schöner Genuss!

L6, 35m, 5b: Auch wieder +/- der Kante entlang hinauf, maximal leicht rechts davon. Erneut ist man dann richtig, wenn man die alten, verrosteten Haken mit (weitgehend) Mammut-Plättli klippt. Ebenso schöne Genusskletterei wie in L5, jedoch einiges einfacher als jene?!? Zuletzt dann unbedingt den unteren Stand der Abadia benützen und nicht jenen der Südkante 3m diagonal rechts oben.

Genüssliche Kletterei rechts der Kante in der Südwandplatte in L6 (5b).
L7, 40m, 6b: Nun geht's wieder in die Westwand! Horizontale Querung von 5m, dann gerade hinauf über eine sehr fotogene Leistenwand. Nochmals etwas nach links, um dann der ausgeprägten Rampe zu folgen. Prima Kletterei, recht anhaltend, mir kam's ingesamt aber doch deutlich leichter wie L3 vor. ACHTUNG: wenn man diese Länge klettert, so muss man danach bis zum Routenende durchsteigen, um Abseilen zu können!!! Sprich von den Ständen 7-9 ist ein Rückzug nicht möglich!!! Gut, was ist schon unmöglich... aber man nehme mich beim Wort, wer irgendwo von den Ständen 7-9 zurück muss, hat wegen dem traversierenden Routenverlauf im überhängenden Steilgelände echt massiv die Arschkarte gezogen!

Coole Kletterei und super fotogener Routenverlauf in L7 (6b), die wieder zurück in die Westwand führt.
L8, 45m, 6a+: Der Rampe entlang weiter, nach ca. 25m muss man rechts abbiegen und über einen kurzen Überhang in die steile Wand darob steigen. Das ist nicht so offensichtlich, es stecken nur relativ wenige Bolts und zudem sind auch noch die beiden Nachbarrouten "Formkurve" und "Stabon" hier in der Nähe. Es kam wie es kommen musste, unser Vorsteiger wählte eine falsche Abzweigung, so dass wir schliesslich in der Stabon strandeten. Das Malheur wieder zu korrigieren war dann eine etwas aufwändige Geschichte :-/. Anyway, das Finish von L8 noch recht kühn (6a+ deutlich über dem Bolt obligatorisch, meine ich). Sowieso dünkte mich diese Länge klar schwieriger wie L7, ich würde wenn, dann auf jeden Fall hier 6b und dort nur 6a+ geben.

Die Sache spitzt sich zu in L8 (6a+). Der Weg nach Hause führt unweigerlich über den oben drohenden Überhang!
L9, 30m, 7a: Nun eben das Prunkstück: überhängende Henkelzieherei entlang von schwach ausgeprägten Verschneidungen und über 3 kleinere Dächer hinweg. Und das Ganze mit 300m Luft unter dem Hintern in äusserst luftiger Position. Einfach absolut genial, mir hat das mega Spass gemacht und ich konnte diese Länge (wie auch die ganze Route) souverän onsighten. Genau in solchen Momenten amortisieren sich die jahrelangen Mühen um auf dieses Niveau zu kommen einfach 1000x. Erwähnt sei, dass die Haken zwar teilweise sehr eng stecken, dann aber zwischendurch auch wieder mal zwingend mehrere Meter geklettert werden müssen. D.h., dass der Vorsteiger 6b+ schon einigermassen souverän beherrschen sollte, insbesondere wegen der fehlenden Rückzugsmöglichkeit! Am hinteren Seilende geht's in solch steilem Gelände ja nicht wirklich besser und wenn der Nachsteiger im dümmsten Moment stürzt, so erreicht er u.U. den Fels nicht mehr und muss eine Prusikaktion durchführen. Genau so ist es passiert und es hat uns eine ganze Menge Zeit gekostet, dieses Malheur wieder zu beheben.

Yours truly on lead in L9 (7a). Schwierig wahrzunehmen, wie steil und athletisch die Länge ist!

Da ist einer auf dem Weg zu 'Schinken luftgetrocknet' ;-) Unglaublich luftige und exponierte L9 (7a).
L10, 50m, 5b: Die verschiedenen Ausgaben vom Plaisir West zeigen hier unterschiedliche Gegebenheiten, wobei mich die ältere Version mehr überzeugt hat. Zuerst gerade hinauf, dann leicht rechts haltend über 3-4 rostige, schlecht sichtbare Remy-Bohrhaken. Dann schien mir eine 5m-Querung nach rechts in die "Südkante" der logische Weg, auf dieser noch 10m aufwärts zum oberen Ende der Wand. Fürs Abseilen viel bequemer dann noch 7-8m der Kante entlang hinauf zu einem weiteren Muniring bzw. Abseilstand mit Kette.

Geschafft! Die letzten Meter zum Top in L10 (5b). 
Um 18:15 Uhr und damit erst nach geschlagenen 6:30h hatten wir als letzte Seilschaft am Berg doch noch das Top erreicht. Zwei Verhauer und das "Baumel-Malheur" hatten massiv Zeit gefressen, dazu die Dreierseilschaft und mehrere Führungswechsel: unsere Zeit ist deswegen nicht wirklich repräsentativ - nicht dass noch jemand denkt, meine Tochter klettere bloss wie eine Rennschnecke ;-). Aber schlussendlich spielt das ja keine Rolle, Wetter und Stimmung waren bestens und wir hatten das Top erreicht. Da sonst bereits niemand mehr in der Wand war, setzten wir guten Gewissens aufs Abseilen anstatt dem Weg oben- und aussenherum. Aufgrund meiner Beobachtungen schien mir dies über die Route 'Durststrecke' deutlich speditiver zu machen zu sein als über die 'Südkante' (da steileres, plattigeres und weniger strukturiertes Gelände). So sind es dann 8 Strecken à jeweils 35-40m. Wir verzichteten darauf, im unteren Teil über die Westwand bzw. die Abadia zurück zum Einstieg zu seilen. Es wären 2 zusätzliche Strecken fällig, mit einem kurzen Fussabstieg um die deponierten Sachen aufzulesen ist man sicher deutlich schneller. Schlussendlich schloss sich der Kreis um 20:15 Uhr am Parkplatz. Die Kleine? Bis auf die 7a konnte sie alle Seillängen im Nachstieg flashen. Sie meinte auf dem Rückweg, sie sei jetzt müde, aber es sei cool gewesen. Dann begann sie davon zu sprechen, welche MSL sie mit welchen Begleitern als nächstes Klettern möchte. Das dürfte man dann wohl als ziemlich gutes Zeichen werten... :-)



Facts

Mittagflue - Abadia 7a (6b+ obl.) - 10 SL, 400m - C. & Y. Remy 1991 - ****;xxx
Material: 1x oder 2x50m-Seile, 12 Express, Keile/Cams kaum notwendig

Schöne und abwechslungsreiche Granitkletterei durch die Westwand und auf der Südkante an der eindrücklichen Struktur der Mittagflue. Es warten 4 Seillängen aus dem Genre Plaisir, 5 durchaus fordernde Strecken im Bereich 6a+/6b sowie die exquisite, luftige und henklig-überhängende Crux. Insgesamt ergibt das ein Produkt, welches m.E. eher dem Genre "alpines Sportklettern" als einer Plaisirtour gleichzusetzen ist. Dies insbesondere auch aufgrund der fehlenden Rückzugsmöglichkeit ab L7. Mit hat das prima gefallen und ich gebe solide 4 Sterne! Die Absicherung darf man als gut (xxx) bezeichnen. Die nötigen Bolts stecken und sind an den Schlüsselstellen sinnvoll und angemessen platziert. In den einfacheren Passagen und auch ein paar mehr fordernden Stellen wartet aber doch der eine oder andere Runout. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die ungünstige Mischung von verzinkten Ankern und rostfreien Plättli verwendet wurde. Die Korrosion hat seit 1991 zum Teil schon massiv genagt... aktuell scheint's mir noch safe machbar, aber ewig taugen diese Bolts nicht mehr. So haben sich die Haken auch farblich sehr stark dem Gestein angeglichen. Aufgrund der Felsstruktur sind sie oft nur schwierig erkennbar, so dass die Route in manchen Passagen nicht so einfach zu finden ist und ein Gespür für den Verlauf erfordert. Ich hatte, wie es in der Literatur empfohlen wird, einen Satz Cams am Gurt. Gelegt habe ich schliesslich keinen einzigen. Nach meinem Empfinden sind sie verzichtbar. Wegen der fehlenden Rückzugsmöglichkeit im oberen Teil und weil man bei Gegenverkehr nicht über die Südwandrouten abseilen sollte, kann man die Route auch mit einem 1x50m-Seil angehen. Ein Topo findet man im Plaisir West oder auch im Topoguide Band II.

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