Herbstferien, aber keine Zeit zum Verreisen 😬 Die Kinder nehmen an internationalen Wettkämpfen teil, sind in Trainingslager eingeladen, die Erwachsenen sind an ihrem Arbeitsplatz unabdingbar. Würde oder Bürde, das ist dabei die gute Frage. Doch halten wir uns an die Facts: eine Destination am Meer liegt im verfügbaren Zeitfenster nicht drin, so muss wieder einmal das Tessin "herhalten". Wobei, was braucht es mehr als das?!? Es ist schlicht und einfach eine Weltklasse-Destination, es gibt da noch so viel zu entdecken und zu tun. So verbringen wir die 4 Tage Herbstferien mit Bouldern in Chironico, einem Kletter- und Entdeckungstag im Valle Bavona, einem Besuch im bereits bekannten Settore Underzero in Avegno und zuletzt, eben hier im Zentrum dieses Beitrags, einem hammermässigen Tag an den Blöcken von Brione im Verzascatal.
Hinter Lavertezzo mit seinem pittoresken Ponte dei Salti, bzw. der Abzweigung hinauf zum Parkplatz für den Pizzo d'Eus beginnt für mich Terra Incognita. Allerdings komme ich auch an diesem Tag nicht viel weiter, bereits zusätzliche 4 Kilometer taleinwärts überquert die Strasse den Fluss, wir stellen unser Gefährt auf den kostenpflichtigen Parkplatz (10 CHF/Tag), laden die Matten aus und wollen uns dem Bouldern im Sektor Ganne widmen. Nur ein paar Schritte sind es in den Kastanienwald hinein, bis wir den ersten, attraktiven Block am Wegesrand finden. Er ist im hervorragenden Topo nicht verzeichnet, scheint aber ein prima Warm-Up an wohlgeformten, ergonomischen Gneisgriffen herzugeben - naja, so ganz einfach war es dann nicht einmal, ca. 6A+ wäre zu veranschlagen.
Nicht im Topo verzeichnetes Warm-Up im Sektor Ganne, ca. 6A+. |
Wir ziehen weiter, um auch die Wadenmuskulatur und die Psyche auf Betriebstemperatur zu bringen, eignet sich hervorragend die King Slab (6A+). Die ging im Flash weg, fühlte sich allerdings schon in etwa so wie am Reibungslimit an. Chapeau speziell an Larina, die hier zwischen den Strukturen jeweils gegenüber mir noch einen zusätzlichen Move einlegen hat müssen.
Heikle Reibung und bald ist man 3-4m über dem Pad... King Slab (6A+). |
Nur ein Katzensprung ist es zum nächsten Boulder, den wir bereits im Topo als interessantes Projekt erkannt haben. La Piattosa (6B) ist eine Slopertraverse, für welche wir beide eine besondere Affinität haben. Einerseits zählt da meist mehr die bei uns beiden besser ausgeprägte Ausdauer wie die Rohkraft, zudem kann man auch mit technischer Subtilität und geschicktem Body Positioning viel beitragen. Nun gut, allzu viel davon war da noch nicht nötig, mir gelang's im Flash, Larina musste 2-3 Versuche investieren. Dafür konnte sie hier wieder einmal auf ihre für derlei Traversen bereits bewährte 3-Handed-Technique zurückgreifen. Sehr interessant übrigens, dass sie den Toehook bevorzugt und damit viel stärker ist wie mit dem Heel, während es bei mir genau andersrum ist.
3-Handed-Bouldering in der Slopertraverse La Piattosa (6B). |
Inzwischen waren wir definitiv auf Betriebstemperatur. Wir gingen wenige Schritte zurück und wollten mit der Bisex (6C) noch eine Schippe drauflegen. Man kann die Aufgabe gleich vom Boden exzellent begutachten, so besprachen wir die Beta und heckten einen Plan für den Flash aus. Larina setzte das zu 100% perfekt um. Doof nur, dass ihre Methode sich für mich als nicht umsetzbar erwies. So musste ich doch einige Versuche investieren und bereits etwas an den Reserven für Haut und Kraft zehren, um zum Erfolg zu kommen. Gross war dann die Erleichterung, als endlich der Schlusshenkel in Reichweite gelangte...
Henkel in Griffnähe, die Erleichterung steht ins Gesicht geschrieben: Bisex (6C) |
Um die Ecke in der Nähe des Flussufers fanden wir die nächste Herausforderung. Schon bei der ersten Betrachtung nahm ich La Manovra (6C) als idealen Boulder für Larina wahr und vermutete, dass er mir wohl ungleich mehr Schwierigkeiten machen würde. Noch in der Wand war ein mantleartiger Aufsteher vonnöten, wo sich klein gewachsene unvergleichlich besser platzieren können. Gewürzt ist diese eigentliche Crux mit einem hohen Topout, wo gefühlvoll Hand auf abschüssigen Gneis gelegt werden muss und viel Vertrauen in die Füsse nötig ist. Wohl jenen, die a) ausreichend Pads und b) einen guten Spotter dabei haben. Für Larina war das gegeben, sie zockte es easy weg. Bei mir waren die Gegebenheiten logischerweise deutlich ungünstiger. Es waren erst einige Probeabsprünge nötig, um das Vertrauen zu gewinnen... angefühlt hat es sich etwa wie ein weiter Wenden-Runout, wo man statt einem Flug ins Seil rückwärts das Flussbord hinunter purzelt und schliesslich im Wasser zu liegen kommt. Viel Text hier, schliesslich kostete es mich doch ein paar Versuche, einen "scharfen Abgang" im Topout, bevor ich hier den Tick holen konnte, uff! Das folgende Video und sein Titelbild zeigen die Gegebenheiten schön (watch until the end 😁, Youtube-Link).
Larina in La Manvora (6C), zumindest bis vor das Topout... 😎 |
Larina konnte indessen am idyllischen, smaragdgrünen Fluss chillen und neue Kräfte sammeln. Ich wurde während meiner Pausen am Block auch bestens unterhalten. Ein 4er-Trupp aus fremden Ländern war inzwischen eingetroffen, der sich dem Giuliano Cameroni Testpiece Paglia di Fuoco (8A+) widmen wollte. Es führt mit Start unmittelbar links von unserem Projekt in denselben Ausstieg. Im Topo ist die Linie noch als 8B drin, der Erstbegeher hat später auf 8A+ korrigiert, gehandelt wird das Problem auch als 8A soft. Wobei eben... die Crux liegt bei diesem Boulder ganz offensichtlich im allerersten Move. Und der wird umso schwieriger, wenn man einen sauberen Sitzstart hinlegt, und zwar von maximal 1 Pad, nicht von einer Erhöhung fürs Füdli! Interessant waren vor allem die Gespräche der Athleten à la "wenn ich es nur als 8A zähle, dann ist auch ein Bescheissen mit einem Crouch Start ok". Jedenfalls gelang einem der Sponsored-Pro-Athleten schliesslich eine solche Halb-Begehung (ein Sitzstart war das nämlich definitiv nicht!), worauf die Mannen und Frauen gleich wieder von dannen zogen, vermutlich auf der Suche nach dem nächsten Soft-Tick. Tja, so läuft es halt wohl einfach, wenn schnelle oder viele Begehungen die Währung sind, in welcher man bezahlt wird.
Ein idealer Spot auch für die ganze Familie. Blick von La Manovra (6C) zu Larina am Fluss. |
Die Atmosphäre am Flussufer ist einfach unschlagbar und weil es daselbst Blöcke gibt, war dies die logische, nächste Wahl. Zumal mit L'Orso Voga (6C+) eine sloprige Traverse in genau unserer Kragenweite bereitstand. Tolle, glattgewaschene Sloper, geschicktes Hooken, etwas Power und Resi sind das Programm, ein geniales Problem. Es gelang uns beiden ziemlich schnell, ich konnte die Anzahl meiner Zusatzversuche gegenüber Larina für einmal im Rahmen halten.
River-Bouldering der Extraklasse mit L'Orso Voga (6C+), direkt an der Verzasca. |
Nicht direkt am Ufer, aber unmittelbar oberhalb davon lag der Masso 06 mit seinem Problem Chestnut Five (7A+). Ein wenig Reserven schienen wir ja noch zu haben auf der Schwierigkeitslatte, warum also nicht. Wobei wir da schlussendlich vor ähnlichen ethischen Dilemmata standen wie die Pros vorher. Schwierig an dem Boulder ist das Wegkriegen des Hinterteils vom Boden und der erste, weite Zug. Larina machte Teil 1 (Anziehen aus dem Sitzen) keine Schwierigkeiten, dafür war ihre Reichweite für den Move zu klein. Dieser Teil 2 war für mich unbedenklich, nur kamen mir die langen Glieder dermassen in den Weg, dass ich den Boulder nur mit einem "Profi-Start" begehen konnte. Um noch mehr Halbheiten ins Geschäft zu bringen, fiel uns schliesslich ein Start ganz wenig rechts auf. Man bedient sich da an 2 etwas verdächtigen Monos. Sie ähneln in ihrer Natur den zu 100% natürlichen Shotholes, wie es sie unweit am Pizzo d'Eus gibt. Trotzdem, ich bin mir nicht sicher, ob sie hier nicht von Menschenhand stammen, erzeugt vor langer, langer Zeit als Befestigungsmöglichkeit für eine Flussüberquerung?!? Diese Variante ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Erstbegehung und nach unserer Ansicht die lohnendere Variante zu Chestnut Five. Wir benannten sie mit Shotholes (6B), die Bewertung checkt bei ca. 6B ein. Im Video (Youtube-Link) Larina beim FA, mit dazu ein Foto der Linie. Sagt mir jetzt bloss nicht, ich hätte diese Begehung hiermit überdokumentiert und sie einfach als Erfolg in Chestnut Five zählen sollen... 🙄
Unsere Variante Shotholes (6B) am Masso 06 im Ganne-Sektor. |
Youtube-Video mit unserer Variante Shotholes (6B) am Masso 06 im Ganne-Sektor. |
Somit waren die interessantesten Probleme im engeren Umkreis geklettert, Matten packen und etwas weiter verschieben hiess da eigentlich die Devise. Dazu musste aber zuerst einmal am Fluss unten noch all unser Material eingesammelt werden. Aber Halt, da stach mir ein Block mit einer attraktiven Sloper-Traverse ins Auge. Eine kurze Inspektion bezeugte die potenzielle Machbarkeit, die Linie war absolut logisch, gut zugänglich mit angenehmer Landezone. Keine Frage, Pads her, das mussten wir probieren. Wobei es sich herauskristallisierte, dass der Boulder verschiedene Optionen bot. So kann sowohl von links nach rechts wie auch umgekehrt traversiert werden. Und in beiden Richtungen gibt's einen etwas kürzeren Mittelausstieg am höchsten Punkt des Blocks, wie auch die Option zur vollen Traverse. Start- und Endpunkte all dieser Varianten sind dabei vollkommen gegeben, ohne dass man zu irgendwelchen Definitionen greifen müsste. Die von-links-nach-rechts Richtung schien uns attraktiver, sie dünkte uns die etwas logischere Variante und dürfte zudem einen Ticken einfacher sein. Die ganze Traverse betitelten wir als Under the Bridge (7A). Im Vergleich zum Orso Voga (6C+) schien uns dieser Grad richtig, aber das ist beim Bouldern natürlich immer so eine Sache. Erwähnt sei, dass sich der Block direkt unter der Strassenbrücke befindet (daher der Name). Die Atmosphäre am Fluss ist aber dennoch top, der Kunstbau beeinträchtigt sie kaum. Ob wir mit dieser ziemlich offensichtlichen Linie eine Erstbegehung gemacht haben, darf man natürlich gerne bezweifeln. Da sie nicht im Topo ist, hier die grafischen Details.
Cooler Block direkt unter der Strassenbrücke im Flussbett mit einer lässigen Sloper-Traverse. |
Um sich möglicherweise noch mehr FA-Punkte zu sichern, sollte danach auch noch die halbe Traverse geklettert sein. Der arg sloprige Ausstieg hat es dabei in sich - mit mehr Körpergrösse anscheinend umso mehr, wenn man unsere Performances vergleicht. Es kam noch hinzu, dass ich inzwischen langsam auf dem Zahnfleisch lief. Sowohl die Kraft- wie auch die Hautreserven waren nur noch in begrenztem Mass vorhanden. Sozusagen auf dem letzten Blatt gelang es mir, auch den Mittelausstieg noch zu klettern, den wir Terabithia (6C) nannten. Eine längere Pause hätte wohl geholfen, aber Larina hatte ihren Job bereits souverän erledigt und pushte mich entsprechend. In diesem Youtube-Video lässt sich der Moment nacherleben (hör genau hin... "Aaalte, hey, doch no gschafft!" 😂)
Animierte Impressionen von meiner Zahnfleisch-Begehung von Terabithia (6C). |
Inzwischen waren nicht nur der Power Level gesunken, sondern auch die Uhr schon vorgerückt. Also war es langsam aber sicher Zeit heimzugehen. Für einen letzten Plausch fiel mir aber noch der Block im Rücken des vorherigen auf, wo der Schuh mit der Handykamera deponiert war. Da liess sich noch kurzerhand eine schöne Traverse holen, die sich auch nicht im Topo befindet. Ja, die Möglichkeiten zum Boulder-Spielen an diesem Fluss sind fast endlos. Die Kurzvariante ist ein idealer Auf- oder eben Abwärmer mit nicht ganz trivialem Start. Nennen wir sie doch Concrete (5+). Die Langvariante erfordert dann wegen der Absenz von schlauen Tritten schon einige kräftige aber witzige Hangelzüge. Der logische Name wäre From Concrete to Smaragd (6A/+), weil dieser Block ein ideales Sprungbrett in den wunderschönen Smaragd-Pool gleich dahinter ist (nur hatten wir leider die Badehose nicht dabei 🤥).
Noch zwei witzige Abschlussboulder, die ebenfalls nicht im Topo dokumentiert sind. |
Nun liessen wir es aber endgültig beim Guten bewenden und machten uns aus den Heimweg. Nach diesen 4 intensiven Klettertagen konnte ich gut und gerne wieder etwas auf dem Bürostuhl Platz nehmen und Meetings beiwohnen. Eine kurze Reflexion über den Bouldertag in Brione brachte zu Tage, dass ich wohl am Ende genau dieselben Boulder wie Larina hatte durchsteigen können. In Sachen Versuche und Style hat sie mich dabei aber zweifellos übertrumpft. Ich würde sagen, das war das erste Mal so glasklar der Fall am Fels... daran werde ich mich in Zukunft wohl gewöhnen müssen (was ich natürlich nur zu gerne mache!). Zum Schluss sei noch bemerkt, dass Kathrin und Jerome die Heimreise schon einen Tag früher hatten antreten müssen. Es lohnte sich insofern, dass Jerome beim FIS-Schüler-Grand-Prix und damit der inoffiziellen Europameisterschaft auf seiner Altersstufe in Ruhpolding (DE) im Teamwettbewerb der Skispringer für die Schweiz die Goldmedaille gewinnen konnte. Tja, wer mag bei solchen Erfolgen und Erlebnissen wie im Tessin noch über "verpasste Herbstferien" lamentieren - das wäre dann definitiv einfach nur unanständig.
Bravo les gamins: 1. Switzerland, 2. Austria, 3. Poland |
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