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Freitag, 7. Juli 2023

Gastlosen - Voie des Biennois (7b+)

In den letzten Wochen herrschte bei uns Ausnahmezustand. Der war darin begründet, dass Larina das Schweizer Nationalteam an drei European Youth Cups im Leadklettern vertreten durfte 😍 Mit der Selektion, allen Trainings, Vorbereitungen und der Begleitung zu den Wettkämpfen blieb mir zum Bloggen keine Zeit und auch meine persönliche Kletterei stand weniger im Vordergrund. Immerhin, quasi "auf dem Heimweg" von der Comp in Saint-Pierre-en-Faucigny hatte ich die Gelegenheit, noch eine Route in der westlichen Landeshälfte oder im angrenzenden Ausland klettern. Logischerweise war es eine organisatorische Herausforderung, noch dazu gab es Last-Minute-Planänderungen, so dass die Sache schliesslich zu den Gastlosen konvergierte. Für einen warmen Sommertag ist deren NW-Seite definitiv eine sehr geeignete Destination. Die Wahl fiel schliesslich auf die Voie des Biennois am Gross Turm, welche 1961 als klassische Kletterei mit Schlaghaken und sehr abenteuerlichen Fortbewegungs-BH eröffnet worden war. In den letzten Jahren wurde das Equipment modernisiert, für die Freikletterei optimiert und eine teilweise neue Linie gefunden. Bei einem Grad von 7b+ liebäugelt man gerne mit einem freien Gesamtdurchstieg und genau das wollten wir probieren.

Der begeisternde Blick auf die Gastlosenkette vom Ausgangspunkt Chli Sattel.

Zu Anreise und Zustieg gibt's nicht viel zu vermerken - es war erst mein zweiter Besuch an der Gastlosen NW-Seite. Da kann ich keine Insider-Tricks geben, wir hielten uns an die Literatur. D.h. Ausgangpunkt bei Chli Sattel (1430m), dann zum Chalet du Soldat (1751m) und über den in der Landeskarte verzeichneten Climbers Trail zur prominenten und im Aufstieg sichtbaren Wand (1880m). In zügigem Schritt brauchten wir ca. 40 Minuten für die 450hm. Der Wandfuss ist als Sportklettersektor eingerichtet - das scheint am Fusse einer 250m hohen Wand aus Alpinisten- und MSL-Sicht ein wenig "lazy" 🦥 Doch es ist ein bequemer Platz, schön schattig und eben, dazu hat der untere Wandteil richtig Schwung, somit macht es absolut Sinn. Für uns galt es noch, den richtigen Einstieg zu identifizieren. Von Wand über überhängende Verschneidung bis zu Fingerriss gibt's da mancherlei Option im untersten Stockwerk. Schliesslich waren wir uns nach einer Analyse trotz eher rudimentärem Fototopo sicher, wo es losging. Präzise Informationen zu diesem Sektor und dem Einstieg der Biennois wären übrigens im brandneuen Extrem West Band I von Filidor zu finden. Um 9.45 Uhr stiegen wir ein.

Der Gross Turm mit dem Verlauf der Voie des Biennois.

L1, 25m, 6c: Ja, der markante Fingerriss gleich links der überhängenden Verschneidung ist es - was die Bewertung von 6c gleichzeitig beruhigend wie unberuhigend macht. Denn der Riss sieht irgendwie grausam glatt und kompromisslos aus. Zu des Sportkletterers Glück lässt es sich dann jedoch weitestgehend in normaler Wandkletterei moven. Der Riss ist nämlich effektiv glatt und seifig, da ist man froh, nicht ausführlich auf Jams angewiesen zu sein. Mich dünkte die Sache doch ordentlich pumpig, irgendwie war der Grip so richtig ätzend schlecht und ich musste tiefer in die Tasche greifen wie in dem Grad üblich 🥵 Vielleicht eher eine 6c+?

L1 (6c) ist steil und kam mir sehr pumpig vor!

L2, 50m, 6b+: Hier hatten wir mit unserem Fototopo, das nur eine einzige Linie ausweist, kurz etwas Orientierungsschwierigkeiten. Als Fortsetzung von L1 liessen sich nämlich ca. 4 verschiedene Linien klettern. Die Biennois quert 5m horizontal nach rechts und nimmt die Fixé-Plättli, die erst Wandkletterei bieten und ultimativ in eine Verschneidung führen. Diese in anhaltender, aber nie extremer und vor allem sehr interessanter 3d-Kletterei hinauf, meist ist der Fels toll strukturiert und der Riss prima griffig. The Meat of the Pitch ist das Dach ein paar Meter vor dem Ende der Seillänge. Nach meinem Empfinden deutlich leichter wie L1.

Schöne Wand- und später Verschneidungskletterei in L2 (6b+).

L3, 25m, 7a oder 7b (?): In dieser Seillänge wurde die Route augenscheinlich schon zu einem früheren Zeitpunkt saniert und mit einer neuen, für die freie Kletterei besseren Linienführung optimiert. Das bedeutet dafür weitere Hakenabstände, gerade der zweite Klipp ist durchaus etwas engagiert. Die Wandkletterei im scharfen Tropflochfels ist aber genial. Nach einer Rastposition geht's dann in die zweite Wand hinein - kräftige Tropflochpuncherei mit einem erneut recht engagierten Klipp führen zur Crux. Da lässt sich die Sache dann kaum mehr mit Kraft wegdrücken und es wird verdammt knifflig. Mein Onsight-Go endet mit dem Move an die grundsätzlich rettende Kante, wobei die von mir gewählte, offensichtliche (oder vielleicht besser "in Spekulation und Hoffnung auf den Henkel") Beta halt einfach keine machbare Lösung darstellt. Summa summarum finde ich die Bewertung von 7b oder 6c A0 laut altem Topo passender wie jene im neuen (7a oder 6b+ A0).

Too much information?!? Ein genaues Studium des Fotos hilft womöglich beim Ausstieg aus der Cruxpassage in L3 (7a oder 7b, von mir aus gesehen eher zweiteres). Wobei das Foto dann vermutlich höchstens dazu hilft, nicht machbare Lösungen zu erkennen...

L4, 35m, 6c A0 oder 7b+ (?): Der Stand bietet eine bequeme Ruheoase, wo man sich auf die Crux vorbereiten kann. Wobei sich diese vorerst nicht zeigt, denn dass die Verschneidung ob dem Stand nicht die 7b+ ist, lässt sich zweifelsfrei prognostizieren. Wobei der Fels aufgrund seiner Glattheit diese Passage doch schwieriger macht, wie man zuerst gedacht hätte - lässig zu klettern ist der Part aber absolut. Auch dass es später beim Linksknick nach dem Zwischenstand verdammt schwierig wird, braucht dann keinen Propheten. Die Stelle ist uns schliesslich auch nach längerem Tüfteln und Probieren aller erdenklicher Beta nicht frei gelungen. Das passiert in einer 7b+ sonst nicht - ob das als Richtschnur für eine höhere Bewertung dient ist zwar durchaus fraglich. Jedoch sollte man sich als Normalsterblicher vielleicht nicht zu viel Hoffnung machen, diese Stelle klettern zu können, schon gar nicht im Onsight. Es hat den Charakter von einer extremen Zauberstelle, welche zudem sehr 'aleatory' scheint. Angetreten wird auf der äusserst glatten Seitenwand, dann heisst es von quasi inexistenten Griffen den nötigen Druck auf die Sohlen zu bringen und gleichzeitig weite Moves nach oben zu machen ohne dass die Füsse wegflutschen. Nach ca. 2m geht's wieder "normal schwierig" (ca. 6c) weiter. Der Fels ist wieder strukturiert, bietet lässige 3d-Kletterei, die durchaus etwas Engagement erfordert. Fast ein wenig schade, dass die Natur hier kurz mit den Strukturen gegeizt hat.

Ergänzung: erst im Nachhinein habe ich erfahren, dass der Originalparcours der Biennois vom Zwischenstand in einer Rechtsschleife hochführt. Dieser Abschnitt wurde inzwischen auch saniert und ist als 6b bewertet. Somit kann man die für uns nicht frei kletterbare 7b+ Crux umgehen.

Sowas à la Raupentechnik hilft am Anfang von L4 (6c A0 oder für uns nicht nachvollziehbar, 7b+).

L5, 40m, 6b+: Hier trifft man mit der 2ème à Emile zusammen. Offenbar führt(e) die Biennois original dem sehr alpinen Schuppensystem entlang gerade hoch, was aber auch modernen Gesichtpunkten keine lohnende Kletterei darstellt. Die neue Variante geht in der linken Verschneidung den Fixé-Plättli entlang. Eine klassische Linie, überaus steil, cool zu klettern! Dank dem meist sehr griffigen Riss und den stets guten Trittmöglichkeiten zwar durchaus athletisch und luftig, jedoch ohne extreme Schwierigkeiten. Zu erwähnen ist, dass der Fels bisweilen etwas mehlig-belagig ist, passt aber schon. Ebenso wurde zum Zeitpunkt unserer Begehung kürzlich geputzt, so dass auch teilweise der Dreck rieselte und für noch etwas alpinere Verhältnisse sorgte (das dürfte sich bestimmt wieder legen).

Steile, klassisch anmutende, aber gut eingebohrte Verschneidung in L5 (6b+).

L6, 40m, 5b: Ab hier legt sich das Terrain zurück und wird auch weniger lohnend - der Weiterweg zum Gipfel gehört aber absolut dazu und wird in der letzten Seillänge auch nochmals belohnt. Erst links in gutgriffiger Wandkletterei über die gut sichtbaren Haken, womit man eine ziemlich grasige Rampe erreicht. Auf dieser nach links aufwärts, die Bolts sind dabei wie auch der Stand auf der rechten Seite zu suchen (nicht so gut sichtbar). Ein letzter Hinweis noch: das Sanierungstopo der 2ème à Emile zeigt deren Routenverlauf im oberen Teil sehr ähnlich wie bei der Biennois, aber in verschiedenen Details doch nicht 100% deckungsgleich. Ob sich da nun tatsächlich 2 unterschiedliche Linien befinden oder nicht, kann ich beim Schreiben dieses Blogs nicht wirklich klären.

Sieht gar nicht so nach "Gelände legt sich zurück" aus: L6, 5b.

L7, 50m, 6a+: Hier folgt ein durchaus nochmals lässiges Schlussbouquet. Erst wenige Meter weiter der Rampe entlang, dann rechts die Seitenwand erklettern, um eine grasige Fläche unter der markanten Rissverschneidung zu erreichen. Der breite Riss klettert sich lässig, wenn auch ein wenig mit Techniken 'à l'ancienne'. Die BH sind da zwar nicht weit auseinander, aber aufgrund vom Seilverlauf führt ein Sturz in der Crux auf den ersten 5-7m vom Riss doch mit einer nicht zu vernachlässigenden W'keit zurück auf den Grasboden. Wer dies Entschärfen will, kann Cams der Grösse 3 und/oder 4 shuffeln - zwingend ist das nicht, wer den Grad einigermassen im Griff hat, verspürt wohl einige aufgestellte Nackenhaare, aber nicht Lebensgefahr. Zum Ende hin dann wieder etwas flacheres Gelände und etwas Gras zum Abschluss-Kettenstand bei kleiner Föhre am Grat.

L7 (6a+) kriegt man nicht adäquat vor die Linse. Unten das Chalet du Soldat.

Um 15.00 Uhr hatten wir nach 5:15h der Kletterei das Top erreicht. Tönt nach ziemlich lange für die bloss 7 Seillängen. Die Erklärung dazu: die meisten SL sind relativ lang und anhaltend steil, wir hatten uns nicht übermässig gestresst und auf eine komplette RP oder zumindest freie Begehung aspiriert. Und natürlich hatten wir auch die Zeit dazu gehabt. Gerade zum Zeitpunkt unseres Ausstieg begann die Sonne, die Wand zu bestreichen. Wir indessen stiegen die wenigen Meter zum Gipfel des Gross Turms hinauf, um das vollständige Panorama zu bewundern. Retour ging es auf dem gleichen Wege, in 6 Manövern (zuletzt über einen routenunabhängigen Stand) geht's zurück an den Einstieg. Wobei sich zeigte, wie steil die Wand doch ist. Der Schlappen, der an Stand 5 vom Fuss rutschte, fiel im freien Fall zu Boden und traf etwa 15m vom Einstieg entfernt auf - was übrigens auch die Steinschlaggefahr für allfällige Sportkletterer in den Baseclimbs relativiert. Um 16.30 waren wir schliesslich retour am Parkplatz und machten uns auf den ziemlich langen Heimweg. Auch mein (erst) zweiter Ausflug an die NW-Seite der Gastlosen hatte mich begeistert. Auch wenn's nicht gleich um die Ecke ist, da komme ich sicher wieder hin - es gibt noch viel zu tun!

Facts

Gastlosen / Gross Turm NW-Wand - Voie des Biennois 7b+ (6c obl.) - 7 SL, 255m - ***;xxxx
Material: 2x50m-Seile, 15 Express

Eigentlich eine klassische Kletterei aus dem Jahr 1961, welche über weite Strecken einer naturgegebenen Verschneidungslinie folgt. Dazwischen gibt es diverse Passagen in Wandkletterei und zusammen mit einer üppigen Sanierung (leider verzinktes Material) mit teilweiser Linienverbesserung sprechen wir heutzutage von einer aus modernen Alpinsportkletterperspektive tollen Unternehmung. Die Felsqualität ist im unteren Teil sehr gut bis super, zudem sind die ersten 5 SL überaus steil, für Ambiance ist also gesorgt. Oben wird es dann ein wenig klassisch-alpiner mit stellenweisen Grasbewuchs, das passt aber schon. Die Hakenabstände sind meist klettergartenmässig eng gehalten, trotzdem besteht ein gewisser Anspruch an den Vorsteiger, so 6b+/6c obl. kommt durchaus hin. Cams und Keile könnte man wiederholt anbringen um für noch kürzere Sicherungsabstände zu sorgen, nötig ist dies jedoch nicht (wir hatten kein mobiles Material dabei). Zur Route gibt es 2 unterschiedliche Online-Topos mit auch unterschiedlichen Bewertungen. Aus unserer Sicht passen die älteren Bewertungen (L3 als 7b oder 6b+ A0, L4 als 6c A0) besser wie die neueren und tieferen. Vielleicht ist die Route sowieso am lohnendsten für eine 7a-Kletterer, der in L3 und L4 zwei Stellen à je 3m hakentechnisch macht. Denn ob's für einen 7c-Kletterer frei geht, steht dann doch eher in den Sternen... Anbei mein schematischer Toposudel (vielleicht hilft's ja für mehr Klarheit in der Wand) und die beiden erwähnten Fototopos. Ebenfalls hilfreich sein kann das Sanierungstopo zur 2ème à Emile.

Meine persönliche, schematische Toposkizze der Biennois.

Älteres Fototopo zur Biennois, für mich passen da die Bewertungen von L1-L5 (Quelle)
Das neuere Fototopo zur Biennois. 7a hard in L3 und L4 war für uns definitiv A0 (Quelle)

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