Die Breitwangflue ist für das Schweizer Eis- und Mixedklettern das, was die Wendenstöcke fürs alpine Sportklettern sind. Nämlich der Ort, wo die Routen mit Anspruch, Nimbus und Qualität behaftet sind. Rund ein Jahr nach meinem ersten Besuch für den grossen Eisfall-Klassiker Crack Baby sollte es nun zum Ende der Eissaison zu einer Reprise kommen. Geklettert wurde schliesslich die Alphasäule, gekommen ist das wie folgt.
Nach unseren jüngsten Erfolgen beim Eis- und Mixedklettern diskutierten wir unsere Pläne mit viel Selbstvertrauen und hatten in erster Linie eine der anspruchsvollen Touren im linken Wandteil im Visier. Doch schliesslich entwickelten sich die Dinge etwas anders: nach einer anstrengenden Woche mit viel Arbeit und Kinderbetreuung aber wenig Schlaf setzte mir der nächtliche Aufbruch daheim deutlich mehr zu als sonst. Im Gegensatz zum Vorjahr schien so schon nur der Zustieg gegen die Alp Giesenen hinauf wie eine kleine Ewigkeit. Kommt hinzu, dass am Vortag rund 25cm Neuschnee gefallen war, durch welchen wir anstrengend mit den Schneeschuhen zu spuren hatten. Das Wetter tat noch das seinige hinzu, im Aufstieg fiel nach wie vor etwas Schnee, und auf einige Aufklarungen mit freier Sicht folgte wieder dichter Nebel.
So standen wir also unter der bedrohlichen Fluh, und zumindest mein Mumm für eine harte Mixedkletterei war arg zusammengeschrumpft. Ich versuchte mir möglichst wenig davon anmerken zu lassen und liess meinem starken Kletterpartner freie Routenauswahl. Doch auch er konnte sich dem eher grimmigen Ambiente nicht entziehen, so dass wir uns für die auf dem Papier noch etwas moderatere Damokles (M7+) entschieden, und den linken Sektor mit seinen Hammertouren auf ein nächstes Mal verschoben. Unter dem Betasektor angelangt, zeigte sich, dass wir die Startnummer 3 gezogen hatten. Das hätte soweit kein Problem dargestellt, wollten die anderen Seilschaften sich doch an der Alphasäule und an den Elementarteilchen (M8) versuchen. Schliesslich sollte aber nochmals alles anders kommen...
Die erste Seilschaft war nicht eben zügig unterwegs und tat sich mit der etwas ungeschmeidigen Eisqualität in den ersten Seillängen schwer. So hatten wir uns auf eine längere Wartezeit am Wandfuss einzustellen und unsere Entscheidung beinahe nochmals überworfen. Bereits etwas ermattet vom Aufstieg begann sich nun auch noch ein unangenehmes Fröstelgefühl einzustellen. Statt an der Grenze meines Könnens in Eis und Fels zu klettern, hätte ich mir dort zeitweilig lieber ein warmes Bad und einen bequemen Liegestuhl zum Ausruhen gewünscht. Um etwa 11.00 Uhr waren wir dann aber doch an der Reihe, die erste Seilschaft hatte in der zweiten Seillänge das Handtuch geworfen und die Bahn frei gemacht.
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Unsere Vorgänger im Kompakteisschild der ersten Länge, die Eisqualität war hier nicht über jeden Zweifel erhaben. |
L1, 40m: Erst ein Kompakteisschild mit rund 80 Grad Neigung, dann quert man auf einem Schneeband nach rechts. Bevor man über blumekohliges Eis zur folgenden Säule hinaufsteigt, besteht eine Standmöglichkeit (NH, Cams, evtl. Schrauben weiter rechts). Alternativ kann man auch am Säulenbeginn geschützt dahinter Stand beziehen. Während man rein von Neigung und Morphologie her hier wohl nur WI3+ geben würde, so war das ziemlich spröde, glatte und teilweise mit einer Kruste versehene Eis unangenehm zu klettern - ein herber Auftakt.
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Yours truly am unteren Stand nach L1, die eine Seilschaft setzt eben zum Rückzug an. |
L2, 50m: Hier wartet die erste steile Säule mit einer längeren senkrechten Passage von rund 30m. Zu Beginn will sogar ein Überhang geklettert sein, Unterarme und Technik werden also zum ersten Mal getestet. Im Vergleich zu dem was weiter oben folgt, ist's aber trotzdem eher noch Zustiegsgelände. Dennoch, die Schwierigkeiten hier waren mit Sicherheit weit über jenen der kürzlich gekletterten
Haizähne (WI5+/6-) anzuordnen. Die Absicherbarkeit war zwar ok, dennoch konnten hier nicht überall perfekt zuverlässige Schrauben à discretion angebracht werden. Im gestrigen Zustand würde ich hier das erste Mal den Grad WI6 vergeben.
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Diverse krasse Zapfen hat es schon an der Breitwangflue. Hier die dieses Jahr nicht durchgewachsene Betasäule. |
L3, 60m: Schräg nach rechts hinauf zielt man zum Sockel der dieses Jahr nicht gewachsenen Betasäule. Über weite Strecken ist es nicht sehr steil, dafür war das Eis dort teilweise etwas überschneit und krustig. Am Säulenkonus selber wartet dann aber trotzdem noch eine steile Stelle an Blumenkohlen und Blüten, wo sogar ein kurzer Überhang geklettert sein will, auch nicht ganz einfach abzusichern dort. Insgesamt ist hier wohl so WI4/4+ zutreffend. Verblüffend ist dann der bequeme und geräumige Standplatz hinter der Beta- und Alphasäule. Hier könnte man im Schutz des Überhangs sogar problemlos ein Zelt aufstellen! Das hatten wir zwar nicht vor, dennoch kann man sich hier ideal auf das bevorstehende Eismonster vorbereiten.
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Stand, chasch cho! Abgeseilt wird durchgehend an solchen Abalakovs. |
L4, 35m: Die Alphasäule ist dieses Jahr richtig fett gewachsen. Als wir an ihrem Sockel hinaufstiegen, so zeigte sich zwar, dass sie an der Basis gerissen war. Das beunruhigte uns jedoch nicht weiter, weil sie oberhalb über weiteste Strecken grundsolide mit dem Fels verwachsen war. Schon ein sehr eindrückliches Gebilde, das hier an der überhängenden Felswand klebt, mit diversen Überhängen, Balkonen und herabhängenden Zapfen. Die Kletterbedingungen waren gut, oft konnte man an passablen Löchern hooken und morsches Eis das man hätte abräumen müssen war gar keines vorhanden. Ebenso fehlten aber auch die bequemen Fusstritte, welche an den viel begangenen Routen im Oeschiwald die Begehung so erleichtern. So war die Sache einfach anstrengend, athletisch und sehr ausdauernd. Trotzdem, Move um Move mit etlichen Schüttelpausen an Ruhepunkten dazwischen ging es in die Höhe. Nach rund 30-35m erreicht man einen Durchschlupf nach links auf ein Podest, wo man entweder Stand an Schrauben beziehen kann, ebenso ist der BH-Stand der Betasäule links aussen erreichbar. Nach meinem Empfinden war die Schwierigkeit hier klar höher als im Crack Baby letztes Jahr, und das WI6+ durchaus gerechtfertigt.
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Jetzt geht's loooos! Blick vom Start der Säule auf den geräumigen Platz darunter. Hier könnte man gar zelten! |
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Der Blick nach oben erklärt, dass es überhängende Stellen im Eis tatsächlich gibt. |
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Die Gegenperspektive vom Stand aus auf die Alphasäule. |
L5, 35m: Weiterhin geht es betont senkrecht weiter, um einige Absätze herum muss sogar überhängend geklettert werden. Erst auf den allerletzten Metern lässt dann die Neigung und damit auch die Schwierigkeiten am (im Aufstiegssinn rechten Rand) etwas nach. Wiederum sehr erstaunlich erreicht man hier ein bequemes Band, auf welchem man hinter dem Fall durchschlüpfen kann und ideal an Schrauben bzw. vorhandenen Abalakovs Stand bezieht. Insgesamt gute bis sehr gute Eisqualität hier, solide abzusichern aber einfach steil. Gefühlt vergleichbar mit den schweren Längen von Crack Baby, WI6 sicher gerechtfertigt.
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Ankunft in der Eishöhle, welche nach der steilen L5 einen sehr bequemen Stand ergibt. |
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Tiefblick aus dem Eisfenster zur Alp Giesenen und ins nach wie vor neblige Kandertal hinunter. |
L6, 20-40m: Aus der Eishöhle hinaus wartet nochmals eine praktisch senkrechte Passage von rund 10m in gutem Eis (ca. WI5/5+), dann hat man den wesentlichen Teil der Alphasäule geklettert. Oberhalb flacht das Terrain deutlich ab. In einem Couloir kann man noch zwei weitere, lange Seillängen von moderater Schwierigkeit zurücklegen - aber Vorsicht vor Lawinen, Spindrifts und überschneitem Eis. Der oft mögliche Wechsel zu den steileren Ausstiegslängen der Route Elementarteilchen ist dieses Jahr hingegen nicht gewachsen und daher unmöglich.
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Die letzten steilen Meter in L6 klettert man gleich aus der Eishöhle hinaus. |
Weil die Uhr schon auf 16.00 Uhr vorgerückt war, nun auch die Sonne an den Hängen oberhalb ihre Aufwartung machte und die Ausstiegslängen sowieso unter dem frisch gefallenen Pulverschnee begraben waren, liessen wir es dort gut sein. Einerseits wäre die Kletterei von minderem Interesse gewesen, andererseits wollten wir auch nicht das Risiko eingehen, hier noch durch einen Schneerutsch in Probleme zu geraten. Also wurden die Seile eingefädelt und es ging, durchwegs an Abalakovs, in die Tiefe. Die Abseilerei ist an Luftigkeit und Eindrücklichkeit auch kaum zu überbieten. Frei hängend und zwischen den vielen Zapfen hindurch gleitet man im Nu in die Tiefe.
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Interessante Weitwinkel-Perspektive beim Abseilen. Links die Beta-, rechts die Alphasäule. |
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Abseilerei über L3, oben nochmals gut sichtbar das Eismonster der Alphasäule. |
Bald darauf standen wir wieder im tiefen Pulverschnee am Wandfuss. Die dritte Seilschaft hatte ihre Bemühungen, unterdessen in der Tsunamix, auch aufgegeben. Wir räumten zügig unser Gear zusammen, schnallten die Schneeschuhe ab und stiegen dem Tal entgegen. 50 Minuten nach Aufbruch trafen wir dort ein. Auf dem Heimweg blieb genügend Zeit, um Bilanz zu ziehen. Schliesslich war es ganz anders gekommen wie geplant - doch an der Breitwangflue gibt es weder schlechte noch einfache Routen, somit gibt es auch an der Alphasäule rein gar nix zu meckern. Das ist eindrücklichstes Eisklettern der höchsten Güteklasse!
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Unsere "Nachbarseilschaft" kämpft in der M8-Länge von Tsunamix. |
Verbleibt noch die Frage, welches denn nun die einfachste Route an der Breitwangflue ist: Crack Baby oder die Alphasäule? Nun denn, nebst ein paar einfacheren und flacheren Seillängen haben beide ein 60m langes Stück, wo anhaltend senkrecht oder leicht darüber geklettert wird. Bei Crack Baby folgen danach gleich nochmals zwei vertikale, aber nicht mehr ganz so extreme Längen. Bei der Alphasäule zieht man als Vergleich die steile Länge im "Zustieg" und das letzte Steilstück heran, was in Summe etwas weniger (ca. 20-30) an steilen Metern ergibt. Dafür ist Crux, d.h. die Alphasäule selber eher steiler und wilder. Insgesamt geben sich die beiden Routen wohl nicht viel, beides sind anspruchsvolle Touren, welche sich rein im steilen Eis abspielen.
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Yo, da wirsch halb zum Schneemaa, hey! Happy über die gelungene Tour :-) |
Facts
Breitwangflue - Alphasäule - ED V WI6+ - 8 SL, 370m - Weber/Haberstock 1999 - *****
Material: 14-16 Schrauben, 2x60m-Seile empfehlenswert
Auch wenn die Alphasäule nicht ganz denselben Bekanntsheitsgrad wie Crack Baby nebenan hat, so handelt es sich dennoch um einen der besten und eindrücklichsten Eisfälle der Alpen. Dem berühmten Bruder steht sie jedenfalls in nichts nach, die nicht jedes Jahr gewachsene Säule an der Schlüsselstelle ist vermutlich sogar noch einen Tick wilder. Falls sie nicht vorhanden ist, so kann die Stelle auch im Fels bewältigt werden und läuft dann unter dem Namen
Alpha Rocker. Die Bewertung ist dann stark von der Eismenge abhängig. Man bedenke: die Routen an der Breitwangflue sind nochmals von einer ganz anderen Schwierigkeit und Ernsthaftigkeit wie die viel öfter begangenen Routen in den Sektoren Staubbach und Oeschiwald. Selbst eine Route wie
Bück Dich (M7+) kam mir subjektiv einfacher vor wie die Alphasäule. Zudem drohen an der Breitwangflue alle alpinen Gefahren, von Lawinen über heftige Spindrifts, überschneitem Eis bis hin zum Eisschlag von kollabierenden Zapfen, Vorhängen oder gleich ganzen Eisgebilden.