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Montag, 23. Oktober 2023

Val Calnègia - Tis-sa-ack (6c+)

Schon seit im Jahr 2006 der erste SAC-Kletterführer von Glauco Cugini über die Tessiner Klettereien erschienen ist, habe ich das Topo der Tis-sa-ack bestaunt und mich auf eine Begehung gefreut. Dieser Zustand dauerte also geschlagene 17 Jahre, da war einiges an langem Schnauf gefragt. Ganz erstaunlich ist das nicht: ziemlich peripher liegt das Val Calnègia, als Seitental des Val Bavona, welches wiederum ein Ast des Valle Maggia ist. Hinzu kommt ein zwar schöner, aber mit 1.5-2.0h relativ langer Zustieg und eine eher kurze Saison: im Sommer ist es auf diesen südexponierten Platten viel zu heiss, während im Frühjahr lange Schnee liegt und es im Herbst wegen den hohen Bergen rundherum nur noch eingeschränkt Sonne gibt. Dementsprechend existieren auch nicht viele Berichte und Erzählungen, welche das Unternehmen anpreisen. Naja, all dies ist nun Geschichte - die Geduld hat sich sehr gelohnt, denn weit hinten in den Tessiner Tälern schlummert ein wahres Juwel für die amici dell'arrampicata in aderenza.

Yosemite Vibes im Val Bavona, einfach wunderschön das Tal und die Cascata di Foroglio.

Ich war in einer speziellen und intensiven Herbstferienwoche mit Larina unterwegs, als uns die Begehung gelungen ist. Sie begann mit der Realisierung einer 6-SL-Neutour im Rätikon (Blog folgt...) und nahm ihre Fortsetzung mit dem Punkten eines 8a-Sportkletterprojekts. Die darauf folgende, 2-tägige Pause scheint aufgrund von diesem Programm vielleicht logisch, war jedoch durch unverrückbare Arbeit bedingt, welche intensiv, zügig und effizient erledigt wurde. Nach dem Neustart widmeten wir uns erst einmal 2 Tage dem Bouldern in Chironico, bevor wir ins Maggiatal dislozierten und den gehörig zum Rauchen gebrachten Fingerspitzen und -flexoren etwas Pause gönnen wollten. Dies nicht mit einem Ruhetag, sondern mit dem Versuch, denselben Zustand auch in den unteren Extremitäten und der Gummisohle zu erreichen. Von unserem Basecamp in Bignasco hatten wir nur eine kurze Anfahrt nach Foroglio, wo sich die eindrückliche und wunderschöne Cascata befindet, die wie das ganze Tal stark an das Yosemite Valley erinnert (nur die Frequentierung ist im Val Bavona zum Glück markant tiefer). Für 5 CHF kann man sich auf dem grossen Platz unmittelbar an der Strasse den ganzen Tag stationieren. Um 9.40 Uhr starteten wir von dort zur Tour.

Mit grosser Vorfreude geht's los, im Background die Cascata di Foroglio.

Steil geht es zuerst über einen treppenartig angelegten Weg neben dem Wasserfall hinauf. Um lange Sightseeing zu betreiben waren wir eher etwas zu spät aufgebrochen. Trotzdem, hat man einmal den Sockel erklommen und kommt dem Wasserverlauf vor den Hütten von Puntid nahe, so sollte man unbedingt einen Blick auf den absolut fantastischen, tief in den Granit eingefressenen Verlauf des Fiume Calnègia werfen. Wenig später ist man beim gepflegten Maiensäss, von wo man den Sektor Puntid rasch erreichen könnte. Auch diese Felsen sehen toll aus und dürften einen Besuch absolut verdienen, ich freue mich schon sehr darauf. Wir indessen überquerten die markante Bogenbrücke aus Natursteinen und gingen weiter ins menschenverlassene Hochtal hinein. Der Weg verläuft ab Puntid am Nordhang, wobei es im tief eingeschnittenen Schlitz im Herbst wie bereits erwähnt sowieso kaum mehr Sonnenstrahlen zu geniessen gibt. Immer wieder aber geben sich spannende Ausblicke frei, ebenso könnte man mit mehr Zeitbudget einige wunderbare 'Splüi' (unter die Felsen gebaute Ställe bzw. einfache Unterkünfte) bestaunen. Kurz vor 11.00 Uhr waren wir beim verlassenen Steindorf von Calnègia. Nun nur noch den Fluss überqueren, einen kurzen Hang hinauf und schon ist man am Einstieg, so schien es. Doch die zunehmend verbuschende Wiese zog sich irgendwie in die Länge. Nichtsdestotrotz, nach 1:30h Zustieg waren wir am mit dem Fototopo aus dem SAC-Führer problemlos zu identifizierenden Start der Route (Kartenlink) und konnten uns bei angenehmen Bedingungen auf die Kletterei vorbereiten, bzw. um 11.40 Uhr loslegen.

Natursteinbrücke bei Puntid, ab dieser Siedlung wird es deutlich einsamer.

L1, 45m, 6c+: Ja, vom Boden aus sieht's plattig aus. Auf den ersten Blick eigentlich nicht mal allzu steil oder gar schwierig, doch einerseits verriet uns die Erfahrung, andererseits die wenigen Berichte zur Route, dass dies eine Täuschung wäre. Dem kann ich absolut beipflichten, denn wenn man einmal (schon alles andere als trivial) vom Boden abgehoben und den ersten BH geklippt hat, so folgt gleich die Crux der Route. Prädikat 'unlösbar', so liest man auf dem Netz... uns ist die Stelle nach einigem Nachdenken und Befühlen aller Lösungsansätze onsight/flash gelungen, aber sie ist echt knifflig. Ob ich den Trick hier verraten sollte?!? Naja, sicher nicht im Haupttext, aber wenn einmal jemand danach fragt (und ich es bis dann nicht vergessen haben sollte), so bin ich gerne bereit, ihn in einem Kommentar hinzuzufügen. Einen Bewertungsvorschlag abzugeben ist nicht so einfach. Ganz bestimmt bereitet einem eine 6c+ in der Halle nicht adäquat darauf vor und auch den den Tessiner Blöcken würde dieser Cruxboulder vermutlich mindestens im Bereich von 6B/6B+ gehandelt, somit wäre eine 7a/+ in Routenbewertung nicht zwingend übertrieben. Aber item, es gilt nicht einen Schwierigkeitsgrad zu klettern, sondern ebendiese Stelle... oder auch nicht, denn falls nötig ist sie auch A0 zu haben. Das gilt jedoch nicht für das Stück von BH #2 zu #3, in welchem man so richtig gescheit und zwingend auf die Füsse zu stehen hat, 6b obbligatorio, oho! Darauf legt sich das Gelände etwas zurück, wodurch sich die weiter werdenden Abstände als unbedenklich erweisen und selbst die finale, nun wieder steilere Querung nach rechts zum Stand entpuppt sich als gut machbar.

Nach dem vielen Text fühlt sich dieses Foto von L1 (6c+) womöglich fast etwas banal an. Doch nach dem taffen Auftakt geht's im Mittelteil dann tatsächlich für eine gewisse Zeit kommod voran. Vielleicht kann man auch sagen, dass man auf den ersten Metern gleich auf das härteste kalibriert wird, so dass einem jedes Grad weniger an Neigung nachher geschenkt erscheint.

L2, 50m, 6a: Nach rechts hinaus und hinauf, etwas kühn und womöglich gleich der schwierigste Abschnitt in L2. Ist man einmal um die Ecke, so wird es flacher und die Schwierigkeiten beschränken sich auf zwei, drei Schritte. Diese befinden sich zum Glück jeweils in Nähe der Haken, denn global gesehen muss man hier mit 7 BH auf 50m Kletterstrecke schon jeweils wegsteigen. Nicht so aber, dass es besonders unangenehm oder gefährlich wäre.

Sommerliche Vibes beim Klettern von L2 (6a). Wie man sehen kann, bleibt der Talboden aber Mitte Oktober bereits ganztags schattig, weiter vorne im Tal sogar auch die Felswände am Südhang. Der Klettersektor von Calnegia hat jedoch auch um diese Jahreszeit noch ein schönes Sonnenfenster, welche eine Begehung bei angenehmen Bedingungen erlaubt.

L3, 40m, 6b: Der Blick nach oben verrät es glasklar, hier wartet eine richtige Knallerplatte. Wobei sich der Auftakt am oder sogar neben derer linkem Rand abspielt, man wähle seine Linie geschickt. Die Linienwahl bleibt auf dem ganzen Abschnitt ein Thema. Die BH geben wohl das Ziel vor, wie man jedoch vage Dellen, ein paar Verflachungen und hin und wieder den Ansatz von einem Griff in eine Sequenz zusammenreimt, bleibt der Intuition des Kletterer überlassen. Spannend ist's auf jeden Fall, sehr sogar - denn auch die Option A0 hülfe wohl meistens nur sehr beschränkt weiter und es muss doch ordentlich zwischen den Haken geklettert werden. Später führt dann eine lässige Diagonale in eine quarzig-weisse Zone, wo man für den Abschnitt vom letzten BH zum Stand noch einmal spekulieren darf, auf welchem Weg die kontrollierbarsten und am wenigsten rutschgefährdetsten Moves abgefragt werden. Eine absolute Hammerlänge für 'Lovers of the game'.

Hammermässige Kletterei über superkompakte Platten in sauberem Gneis, hier L3 (6b).

L4, 45m, 6b: Ähnlich toll geht es weiter, wobei hier im ersten Teil der Seillänge einige diagonal verlaufende Strukturen ein vergleichsweise kommodes Vorankommen erlauben. Bei der Crux im letzten Drittel will dann aber wieder sehr entschlossen angetreten werden, ebenso darf man sich bei der Beta wiederum nicht verspekulieren - wobei man da vielleicht auch einfach alles mögliche zusammenklettern kann, wenn man einfach noch einen Tick besser auf den Füssen stehen kann wie das bei der Familie Dettling der Fall ist.

Kompaktissimo auch hier, das ist die Cruxzone gegen das Ende von L4 (6b) hin.

L5, 35m, 6b: Ein HIGHLIGHT, ein absolutes Wunderwerk der Natur! Nach einem kurzen, sorgenlosen plattig-piazigen Auftakt stellt sich ein überhängender Riegel in den Weg, der bei der lokal vorherrschenden Felsstruktur in freier Kletterei garantiert unbezwingbar wäre - wenn es nicht diese absolut fantastische, ca. 50cm breite Quarzader gäbe, welche mit Griffen und kantigen Henkeln nur so auftrumpft. So turnt man elegant in die Höhe, einfach total genial - allfällige Bedenken, wie stabil die Griffe wohl seien, kann man nach einem Anklopfen und Anprobieren auch in den Wind schlagen. Wobei die eng gehaltene Absicherung einen kompromisslosen Angriff erlaubt. Es scheint, als ob sich der Erschliesser Glauco auf den glatten Platten viel mehr im Element fühlt als bei dieser athletischen Kletterei. Die 6b gibt's auch da global gesehen nicht geschenkt, logischerweise waren wir da aber um Meilen weiter von unserem Limit weg wie bei den plattigen Passagen in den anderen Seillängen, welche mehr oder weniger die Grenze unserer Leistungsvermögens ausreizen. 

Oberhalb vom Dach in L5 (6b) ist die Quarzader eher braun als weiss und schmaler.

L6, 45m, 6b: Hier setzt sich die zuvor genutzte Ader noch fort - nicht mehr als weisses, henkliges Quarzband, sondern nur noch als bronzene Spur, die vorwiegend für die Füsse genutzt wird. Das hilft aber doch auch recht gut weiter, so dass die erste Hälfte der Länge ohne maximale Schwierigkeiten über die Bühne geht. Die folgen dann aber schon noch, in Form einer steileren Crux. Diese offeriert jedoch ein paar seichte Ansätze von Löchern, die mit abgefahrenen Bouldermoves nutzbar sind. Zum Stand hin geht's dann wieder etwas einfacher. Ein Foto können wir leider keines präsentieren, da der Rucksack mit dem Handy drin ungeplant am Standplatz zurück blieb und für einmal auf dem Rücken der Nachsteigerin transportiert wurde.

L7, 45m, 6b: Nun heisst es aber nochmals parat sein! Über die ersten 3 BH wartet nochmals ein Hammerplatte, wo man den Füssen zu 100% zu vertrauen hat. Zwar sind die Abstände nicht weit (oder gar gefährlich), wegen der anhaltenden Schwierigkeit ist es aber doch zwingend und echt aufregend. Mich dünkte diese Passage im Vergleich zu den anderen 6b-Längen fordernder, so dass ich da eher zur 6b+ oder 6c greifen würde. Doch wer weiss, vielleicht ungünstig erwischt oder schon mit der Angst im Nacken, die saubere Begehung noch zu vergeigen? Die 'fear of onsight failure' kann ja schon auch ein ziemlich hartnäckiger Gegner beim Klettern sein und das Schwierigkeitsempfinden in die Höhe treiben. Diesen Auftakt einmal geschafft, geht's mit einer Querung nach rechts und später links einer ungenutzt bleibenden Verschneidung ziemlich gut voran, auch die Linkstraverse zum scheinbar mitten in einer blanken Plattenzone gelegenen Stand geht lange gut... bis es kurz vor Schluss nochmals glatter wird und sich unweigerlich wieder ein paar Stimmen aus dem Hinterkopf melden. Mit einer geschickten Linienwahl lassen die sich aber hoffentlich besänftigen.

Bei dieser Perspektive auf L7 (6b) gilt erneut: YOSE...MITICO!

L8, 25m, 6a+: Gleich zu Beginn nochmals fordernd, aber mit der richtigen Beta dann doch recht gängig. Nach BH #1 bot sich der nach rechts führende geniale Dike Walk zum offensichtlichen Silberling an, von welchem man in sich zurücklegenden Terrain bald einmal den finalen Standplatz erreicht. Erst beim Abseilen habe ich dann wahrgenommen, dass wir da womöglich in die Nachbartour rechterhand abgedriftet sind?!? Die Tis-sa-ack führt wohl nicht über den Dike, sondern nicht unbedingt logisch leicht links nach oben. Es kommt dann nochmals ein BH, der aber deutlich weniger gut sichtbar und offensichtlich wie jener der Nachbarlinie ist. Im Gesamtkontext spielt es aber auch keine grosse Rolle, auf welchem Parcours man die letzten zehn, sich zurücklegenden Meter klettert.

Erst die allerletzten Meter der Route in L8 (6a+) sind etwas einfacher.

Um 16.20 Uhr und somit nach 4:40h an genialer und anspruchsvoller Kletterei hatten wir es geschafft und die Route einwandfrei onsight/flash durchstiegen. Das war sehr befriedigend, denn es war über weite Strecken ein "Tanz auf der Bananenschale", wo man jederzeit hätte wegflutschen können. Nachdem wir unterwegs nie auf einen richtig bequemen Standplatz für eine ausgiebige Pause getroffen waren, so holten wir dies nun am Top nach, auch wenn wir dafür ein Jäcklein überziehen mussten. Sonst hatte uns während dem ganzen Tag die Sonne gebadet, die Temperaturen waren sommerlich warm gewesen und zwar nicht unangenehm, aber tendenziell doch eher an der oberen Grenze für den Grip und vor allem das Wohlbefinden der Füsse in den Kletterfinken. Wobei die Temperaturen im Oktober 2023 ja generell auf Rekordwerten waren. Zu erwähnen ist, dass die Sonne den Einstieg Mitte Oktober von ca. 10.30-15.30 Uhr bescheint. Am Routenende gibt's noch ca. eine Stunde länger Wärmestrahlung, wobei deren generierende Quelle am Ende längere Zeit nur haarscharf über den Grat kratzte. Sprich, wenn der Kalender noch weiter voranschreitet, so verkürzt sich das Sonnenfenster täglich und womöglich stark - bereits Mitte November sieht die Route wohl keinen einzigen Sonnenstrahl mehr. 

Doch noch Gelegenheit gefunden, um die Glücksbällchen zu verspeisen.

Wir machten uns an Abseilen. Die Standplätze von Tis-sa-ack sind dazu eingerichtet, jedoch mit älteren, rostigen Kettengliedern, nicht verbunden und nur beschränkt Einhängepunkten. So wichen wir nach 2 Manövern gerne auf die Nachbartour Una sfuggente vena di follia aus. Da ist alles etwas kommoder und man spart sich auch noch ein Manöver, so dass man nach 6 Strecken zurück am Boden ist. Noch dazu gab's natürlich detaillierte Einblicke in diese Linie, welche ja ab sofort eines der nächsten logischen Projekte an dieser Wand ist. Im SAC-Führer und auch im Extrem Sud sind alle Routen der Wand mit 3 von 4 bzw. 3 von 5 Hakensymbolen bewertet. Was uns etwas fragwürdig dünkt, denn in der Sfuggenta vena ist die Hakendichte definitiv markant höher. De visu sehen die Cruxlängen eher nach Stufe 4 bis 5 von 5 aus und auch die einfacheren Passagen scheinen freundlicher geboltet wie in der Tis-sa-ack. Schlussendlich wird aber nur Ausprobieren die Antwort liefern ob dem effektiv so ist, ebenso für die Frage, ob die bis 7b+ angegebenen Schwierigkeiten tatsächlich nochmals so viel höher wie in der Tis-sa-ack sind. 

Die Tour passte gut in den Herbsttag, das Znacht gab es aber trotzdem erst in Dunkelheit.

Um 17.50 Uhr waren wir schliesslich abmarschbereit. Dies mit der Erkenntnis, dass wir es a) entweder bis um 19.00 Uhr in den Coop von Cevio schaffen oder b) einen etwas schmalen Znacht aus den übrig gebliebenen Vorräten geniessen. Einen Plan C hätte es natürlich schon auch noch gegeben, aber man muss es ja nicht übermässig kompliziert machen. Auf jeden Fall schien die Einkaufsmöglichkeit noch wahnwitzig weit weg dafür, dass nur noch eine gute Stunde Zeit zur Verfügung stand. Aber man glaube es oder auch nicht. Es reichte und das sogar noch relativ komfortabel. Um 18.35 Uhr waren wir nach 45 Minuten zügigen Gehens (um jetzt nicht zu sagen einem Trailrun) retour beim Parkplatz, so konnten wir den Einkauf sogar noch vor Ladenschluss beenden und diesen genialen Tag bei einem feinen Campingznacht mit den gewünschten Frischprodukten geniessen. Wenn's läuft dann läuft's und an diesem Tag ging es wie geschmiert. Vielen Dank Larina, das war einfach genial!

Facts

Calnègia - Tis-sa-ack 6c+ (6b obl.) - 8 SL, 310m - Cugini/Branca/Zanda 1995 - *****;xxx
Material: 2x50m-Seile, 10 Express, Cams/Keile nicht nötig und kaum einsetzbar

Der Erschliesser Glauco sagt, es handle sich bei der Tis-sa-ack um die schönste Reibungsroute im Tessin. Das glaube ich nur zu gerne und nach meinen bisherigen Erfahrungen würde ich sie auch schweizweit unter den absoluten Toprouten dieses Genres einreihen. Der Gneis ist super, sehr sauber und adhärent, die Kletterei stets spannend und von bemerkenswert homogener Schwierigkeit. Aber natürlich, man muss diese Art der Kletterei mögen, allzu viel Abwechslung gibt's nicht. Wobei der Überhang mit der einzigartigen Quarzleiter in L5 schon für sich alleine fast die Anreise lohnt. Nimmt man noch die absolut geniale Umgebung hinzu, so darf man sehr gerne von einer 5*-Route sprechen! Die Absicherung mit rostfreien BH darf man als gut bezeichnen, wobei sie alles andere als üppig ist und man viele gewagte Schritte auf Reibung auch zwischen den Haken macht. Die Bolts stecken aber fair und vor allem auch an den genau richtigen Orten, so dass es nie gefährlich scheint. Es sei hier auch noch erwähnt, dass es da hinten keinen Handyempfang gibt, im menschenleeren Tal ein bei der Kletterei zu berücksichtigender Faktor. Auch hierhin gehört, dass die angegebenen Schwierigkeiten nur dann einigermassen zutreffend erscheinen mögen, wenn man in dieser Art der Kletterei versiert ist. Topos und Infos zu Route und Gebiet findet man wie erwähnt im SAC-Kletterführer Tessin oder im Extrem Sud.

Sonntag, 15. Oktober 2023

Horefelliflue - Knecht Klemenz (7a+)

Die Horefelliflue ist eine 350m hohe, eindrückliche Wand mit grossen, glatten Plattenschüssen in der Voralp, einem Seitental der Göscheneralp. Lange Zeit hatte ich dieses verlockende Gemäuer auf meinen Touren im Gebiet nur bestaunt, denn die wenigen Routen aus den 1980er-Jahren waren spärlich abgesichert und in Vergessenheit geraten. Im 2021 wurde Mastermind (6b+) dann saniert, ich konnte sie kurze Zeit später mit Kathrin und Larina an einem Top-Herbsttag wiederholen (Blog dazu folgt...). Nicht nur mir hatte diese Wand gefallen, auch die Urner Locals Bruno und Kurt Müller waren so begeistert, dass sie kurzum eine neue Linie in die Wand legten. Es dauerte dann noch einige Zeit bis zu deren kompletter Fertigstellung und Freigabe im 2023. Nachdem der Kalender auf Oktober vorgerückt war, kam für uns die Chance zu einer frühen Wiederholung.

Blick auf die tolle Wand der Horefelliflue mit dem Verlauf von Knecht Klemenz

Unsere Tour startete um 8.30 Uhr bei der Voralpkurve (1402m), wo wir das Glück hatten, den letzten freien Parkplatz zu ergattern. Auf bekanntem Weg liefen wir die Kehren durch den Wald hinauf und ins Tal hinein. Es ergab sich ein interessantes Gespräch mit einem Urner Wanderer, der mit seiner Oldtimer-Ducati angereist war. Er erzählte von den winterlichen Töfffahrten mit seiner Maschine zum Nordkap, bei Temperaturen von bis zu -40 Grad. Wir Kletterer seien etwa gleich verrückte Vögel, war schlussendlich das Fazit. So verging die Zeit rasch, wir erreichten die Alp Horefelli und folgten der inzwischen recht deutlichen Spur zur Wand hinauf. Nach einer Stunde und ein paar Zerquetschten waren wir am durch das Bohrmaschinen-Graffitti gut identifizierbaren Einstieg und bereiteten uns auf die Kletterei vor. Um 10.00 Uhr ging es los, die Sonne hatte gerade eben den Wandfuss erreicht.

L1, 45m, 6a+: An einem kleinen Pfeiler geht's los, erst kann dieser einfach erstiegen werden. Doch schon bei dritten BH wartet eine knifflige Stelle, wo man mit Seitgriffen seine Füsse auf Reibung anpressen und durchmoven muss. Einfacher geht's zu einem Riegel hinauf, wo man sich einen geschickten Weg zwischen einigen dumpf klingenden Schuppen hindurch suchen muss. Der Weiterweg zum Stand ist dann Formsache.

Los geht's! Von L1 haben wir allerdings kein Lichtbild, das ist schon der Start in L2 (6b).

L2, 40m, 6b: Zuerst geht's über einen einfachen, etwas durchzogenen Vorbau hoch und dann um die Ecke (was in der Fortsetzung leider ziemlich Seilzug generiert). Die steil-imposante Wand danach klettert sich schliesslich leichter, wie man von unten zuerst denken würde. Der Fels ist da toll strukturiert und die Crux besteht darin, den Wechsel von der einen zur anderen Rissspur gut zu erwischen. Nach meinem Empfinden leichter wie L1, ich würde die Schwierigkeitsgrade tauschen.

Prima strukturierter, kletterfreundlicher Fels am Ende von L2 (6b).

L3, 40m, 6b: Mit einem Piaz-Vorgeplänkel geht's zu einer steilen Stufe, welche an Seit- und Untergriffen erklettert wird. Mir ging das problemlos auf, wobei die Körpergrösse da vermutlich recht stark hilft. Danach legt sich das Gelände wieder zurück und bietet schliesslich anspruchsvolle und auch recht zwingende Plattenkletterei. Für den Vorstieg vermutlich die anspruchsvollste Passage der Route.

Die Sequenz in der oberen Hälfte von L3 (6b) fand ich taff, aber vielleicht bin ich da im Nachstieg auch ein wenig unbedarft reingeklettert.

L4, 45m, 6a: Eine sehr gemütliche Seillänge zum Erholen. Der Anfang über Rampen und Piazschuppen klettert sich total lässig, zügig und genussreich. Auf etwa zwei Drittel habe ich einen kurzen, etwas schwierigeren Einzelmove im 6a-Bereich gemacht, der womöglich auch hätte umgangen werden können. Am Ende geht's nochmals über einen Aufschwung, aber auch das geht gut. Vielleicht auch eher nur eine 5c, diese Länge.

Wow, so richtig fotogen - dabei ist L4 (6a) echt ein chilliger Abschnitt.

L5, 40m, 6b: Zuerst geht's in gut strukturiertem, schuppigen Gelände rasch und ohne besondere Schwierigkeiten vorwärts. Das ändert sich im oberen Teil, wo sich eine relativ glatte Plattenzone in den Weg stellt. Der ökonomische Kletterer fragt sich schon, ob er das Teil mit Ausweichen ins erdige Gelände links leichter bewältigen kann. Dem ist kaum so, denn dies wäre a) mühsam und b) offeriert die Platte bei genauem Hinsehen genau an der richtigen Stelle eine kleine Leiste. Elegant über die Kante geht's zum Stand.

Die Stelle in L5 (6b) wo der ökonomische Kletterer... im Fels bleiben soll.

L6, 40m, 7a: Nun gilt's ernst - das sagt nicht nur das Topo, sondern das wird auch im Gelände subito klar. Die superkompakte Platte mit der eng gesteckten Absicherung gleich ob dem Stand macht es aus. Ich mache mich mal ans Werk, das aber nicht so einfach ist. Klar sind die Abstände kurz, aber grifflos und mehr im Schlittern wie im Stehen das Seil einzuhängen ist dann eben doch schwierig. Schliesslich lässt sich aber eine tragfähige Beta entschlüsseln und wenn man einmal weiss wie und wo, so kann das Seil mit Minimalaufwand in den Karabiner einschnappen. Einzig der letzte BH dieser Sequenz steckt nach unserem Gusto ausserhalb der einfachsten Linie und ist nur erschwert zu klippen. Ich entschliesse mich zu einem 2nd Go und kann tatsächlich Rotpunkt passieren - gefühlt mit 0.0% Marge an der Abrutschgrenze, aber es geht, geilo! Wirklich eine extrem fusslastige Bewegungspassage, bei der man einfach den Glauben in die Haftreibung nie verlieren darf! Den einfacheren, oberen Teil der Seillänge klettere ich dann im Onsight. Er bietet genüssliche, abwechslungsreiche Granitkletterei mit am Ende tollem Tiefblick in die Schlucht linkerhand.

Das Foto zeigt nicht so viel von L6 (7a), aber nach der Cruxzone geht's noch lange einfacher weiter zum Stand hoch.

L7, 25m, 7a+: Als Viktor bei mir ankommt, heisst er mich die nächste Seillänge ebenfalls zu führen, ich hätte es ja so gut gemacht (in der Tat sind es wohl eher seine nach dem Effort schmerzenden Füsse, welche eine Pause verlangen). So mache ich mich auf den Weg in die grosse, diagonale Querung. Die Haken stecken auch da freundlich, ob dem diagonalen Verlauf kann man auch im Vorstieg fast beständig im Toprope moven. Das macht es sicher (noch) einfacher als in L6, voll das Limit auszuloten. Zudem ist dieser Abschnitt doch einen Tick weniger fusslastig, sprich mehr mit kleinen Leisten gespickt, welche das Aufbauen des nötigen Drucks erlauben. Ich kann alle Klippen umschiffen (von denen es zwei wesentliche und etliche kleinere gibt) und mir den Onsight holen.

L7 (7a+) ist zwar die Crux, auf dem Foto sieht's aber blanker aus, wie ich es empfunden habe.

L8, 30m, 5c: Während die Route bis dato fast ausschliesslich Wandkletterei bot, kommt nun doch noch ein Riss. Viktor korrigiert mich gleich, das sei bloss eine "Schuppe" und kein "Riss". Stimmt vermutlich und ist kein Nachteil, denn so kann man sich an dem Ding wenigstens gut festhalten. So ist trotz der Steilheit der Grad wirklich nur bei einer 5c, die man vielleicht noch mit einem Plus versehen darf. Genau genommen hatte ich diesen Abschnitt schon damals auf der Mastermind geklettert. Das gereicht mir besonders insofern zum Vorteil, dass ich aus puristischer Sicht ja sowieso keinen Komplett-Onsight der Route hätte holen können... so spielt auch der "nur" 2nd Go Erfolg in L6 keine Rolle 😁

Viktor turnt dem Himmel entgegen in L8 (5c), welche eigentlich zur Mastermind gehört.

Um 15.00 Uhr sind wir nach ziemlich exakt 5:00 Stunden der Kletterei am Top. Während ich auf den ersten zwei Seillängen noch nicht ganz restlos überzeugt war, bin ich später in einen tollen Kletterflow gekommen und erreichte das Top komplett begeistert. Wir notieren im Buch die sechste Begehung der Route, halten uns sonst aber nicht lange auf, denn Viktor muss noch weiter ins Tessin. Eventfrei geht's über die Mastermind in die Tiefe und dann wandernd das Tal hinaus. Wir diskutieren, was das Tal wohl sonst noch an Klettererlebnissen für uns zu bieten hat... da wird wohl noch etwas kommen in Zukunft 😎 Um rund 17.00 Uhr sind wir zurück bei der Voralpkurve. Glücklich über diesen tollen Klettertag mache ich mich auf den Heimweg.

Facts

Horefelliflue - Knecht Klemenz 7a+ (6b obl.) - 8 SL, 300m - B. & K. Müller 2023 - ****;xxxx
Material: 2x50m-Seile, 12 Experess, Cams/Keile nicht nötig und kaum einsetzbar

Eine richtig lässige Route vom Typ Sportkletter-Plaisir. Der Fels ist über weite Strecken prima und gut mit Schuppen, Leisten und hin und wieder einer Rissspur (bzw. Verschneidung, Piazschuppe) garniert. Die beiden schwierigsten Sequenzen bieten 15m an extremen Reibungsmoves und 25m an plattiger Wandkletterei. Die Absicherung mit rostfreien BH ist prima. An den einfacheren Stellen bzw. Seillängen sind die Abstände etwas weiter. Nie aber heikel, gefährlich oder psycho, die Haken stecken auch einfach am richtigen Ort. Die beiden Cruxlängen sind eng gebohrt, so dass die Schwierigkeiten mit Griff zum Haken entschärft werden können. Wir hatten mangels genauerem Wissen ein kleines Camset mitgenommen, welches aber ungenutzt blieb und bald einmal den Platz am Klettergurt des Nachsteigers innehatte. Das Topo zur Route sowie den Bericht zur Erstbegehung findet man auf der Seite von Bruno Müller. Vielen Dank für die Route und die Informationen dazu, das ist einfach toll!

Montag, 2. Oktober 2023

Chalchschijen - Dornröschen (6c+)

Der Chalchschijen ist ein gewaltiges Kalkriff im hinteren Maderanertal. Aufgrund seiner abgelegenen Lage gibt es an seinen vielen Quadratkilometern an Wandflucht nur wenige Kletterrouten, welche denn auch nur sehr selten Besuch erhalten. Über unser Ziel, das 1994 eröffnete Dornröschen, lässt sich auch nur relativ wenig in Erfahrung bringen. Warum genau ist uns a priori nicht klar: ist es einfach der weite Zustieg oder der tiefe Bekanntheitsgrad, weil es die Route nur in lokale Topos geschafft hat?!? Oder stimmt am Ende etwas anderes nicht? Solche Sachen zu ergründen macht ja aber auch Spass. So machen wir uns nach langen Jahren des Wartens und Aufschiebens auf ins Urnerland.

Gewaltig, der Chalchschijen! Dornröschen verläuft über die schon sonnigen Platten rechts im Profil bis auf den ersten Absatz im Grat.

Vom Ausgangspunkt bei der Talstation der Golzernbahn (P.834) wo schon manch ein Abenteuer gestartet hat, sind es doch geschlagene 9km Luftlinie und netto rund 1500 Höhenmeter bis zum Einstieg. "Nur für Marschtüchtige" trifft es da wohl ziemlich gut. Ob wir das wären oder nicht ist eine gute Frage. Tatsache ist aber, dass wir statt per Pedes zu gehen einen wesentlichen Teil mit dem E-Bike abgekürzt haben. Nach einer ärgerlichen Weckerpanne starteten wir mit 1h Verspätung erst um 7.30 Uhr. Zügig ging's via Lägni - Rüteli - Stössi - Balmenschachen - Hotel Maderanertal in 25 Minuten Fahrt nach Butzli (1400m). Die ersten 5.5km und 600hm waren somit flugs im Kasten, weit ist der Zustieg von da aber immer noch. Wer die Landeskarte konsultiert, erkennt problemlos die Fortsetzung ab dem Bikedepot via Sass und Tritt nach Schwerzi.

Jonas im Schwerzifad, gut sichtbar die zahlreichen, pinken Farbmarkierungen.

Dort verlieren sich die Spuren und es heisst, ca. 70hm zu den dunklen Felsen hinaufzusteigen. An dieser Stelle befindet sich die erste von zahlreichen Farbmarkierungen, welche die beste Passage über den berüchtigten Schwerzifad zeigen. Wegspuren gibt's nur teilweise und undeutlich, aber mit den pinken Klecksen findet man die beste Passage mühelos. An sich ist das Gelände nicht sonderlich schwierig, meist kann man gut ohne Einsatz der Hände gehen, hin und wieder braucht es sie jedoch und vor allem ist das Gelände doch sehr exponiert, Fehler liegen da nicht drin (ca. als T5 zu werten, meinen wir). Nach einem guten Kilometer ohne Höhengewinn im Schwerzifad erreicht man die Älpeliplanggen. Man geht über das Geröllfeld hinweg, ersteigt eine Rippe aus braunen Felsen (an 2 BH fixiertes Drahtseil vorhanden) und steigt dann in nördlicher Richtung über ausgewaschene Felsen oder Grasgelände rechts davon hinauf. Auf ca. 2200m geht's dann mit etwas Auf und Ab die Höhe haltend in weglosem Gelände hinüber zum Chalchschijen, wo wir nach 2:20h um 9.50 Uhr eintrafen und Depot errichteten. Man befindet sich da in etwa auf Höhe der dritten Seillänge, zum Start der Route heisst es weiter absteigen (Tipp: Schuhe mitnehmen und diese dann an Stand 4 zurücklassen). Um 10.15 Uhr starteten wir mit der Kletterei.

So that you know what you have to look for...

L1, 50m, 6b: Der Start der Route ist (immer noch lesbar, wenn auch unscheinbar) angeschrieben und mit einem rostfreien BH markiert. Er befindet sich kurz vor dem Punkt, wo man nicht mehr in einfachem Gelände weitergehen könnte. Das Wandbild auf dem SAC-Tourenportal zeigt die Situation falsch, fündig werden wird man vermutlich trotzdem. Hinweis: unmittelbar rechts startet ein (immer noch?!?) Projekt, dort ist ein NH am Einstieg. Es sei noch erwähnt, dass im Dornröschen eckige BH-Laschen stecken, im Projekt sind diese rund. Über tiefe Wasserrillen geht's über 2 BH hinauf, bevor sich einem das erste Hindernis in den Weg stellt. Eine ca. 20m lange, zwar flache aber dafür arschglatte, ungesicherte Platte. Ein Sturz in die tiefen, scharfen Wasserrillen darunter wäre bald prekär, später würde man dann wohl am Einstieg landen... Noch dazu steckt der BH am danach folgenden Cruxwulst unangenehm hoch (alte Fixexe mit sehr dünnem Maillon vorhanden, Vorsicht!). Der Wulst dann mit einem kniffligen technischen Boulder an staubigem Fels (A0 möglich). Zuletzt dann nochmals über schöne und leichte Wasserrillen nach links zu Stand - ein herber Auftakt.

Schöne Rillenpassage am Ende von L1 (6b), die sich nicht überall angenehm klettert...

L2, 45m, 6a: Gerade mal 4 BH säumen dieses lange Teilstück, Möglichkeiten zum Legen sind prekär bis inexistent. Natürlich ist die Kletterei nicht extrem schwierig, aber doch auch nicht entspannt. Der Fels ist eher glatt, es gibt kaum positive Strukturen, üppige Griffe sind auch nicht vorhanden und man steht irgendwie beständig "auf Abpfiff" weit über der letzten Sicherung. Immerhin ist der Verlauf da durch die gut sichtbaren Bolts gegeben.

L2 (6a) sieht schon cool aus - ist auch gut zu klettern, wenn auch etwas schlabbrig glatt und runoutig.

L3, 25m, 5c+: Ein kurzer Abschnitt, welcher eine sehr schöne und hier auch relativ tief eingeschnittene Wasserrillen bietet und bei einem bequemen Standplatz auf einem Band endet. Mit 2 BH auch nicht üppig gebohrt, hier passt es aber schon gerade so.

L4, 30m, 6a+: Hier ist der Quotient von 5 BH zu 30 Seilmetern für die gesamte Route rekordverdächtig hoch! Heisst aber nicht, dass die Sache anspruchslos wäre. Vorerst geht's bis zur Kreuzung mit der historischen Bender/Schelbert (1958, 6 A3, welch verrückte Unternehmung!) noch relativ gemässigt dahin. Das Finish mit glattem Parkett und ein paar feinen Wasserrillen wartet dann aber mit einer zu 100% zwingenden Crux auf - nein, gefährlich ist es da zwar nicht wirklich, das Potenzial für einen unangenehmen Sturz hat es trotzdem.

Sehr zwingende Passage mit der Crux in "Cheesegrater"-Fels in L4 (6a+).

L5, 35m, 6a+: Eine sehr schöne Seillänge, vielleicht die beste in diesem unteren Teil?!? Eine technische Rechtsquerung, wo man immer schauen muss, wo es langgeht, führt zu einer Passage mit sehr markanten Wasserrillen, welche nur mit 2 gebohrten Sanduhren mit dünnen Uralt-Schlingen gesichert ist. Ja keinen Fehler machen heisst die Devise - aber ok, besonders schwierig ist dieser Schlussabschnitt schon nicht mehr.

Die Umgebung ist schon traumhaft! Hier in L5 (6a+) mit Blick zum Hüfigletscher.

L6, 45m, 5c+: Etwas einfachere Kletterei, dafür weniger schöner, manchmal etwas splittriger Fels. Knappe Absicherung gibt es natürlich auch hier, neben 5 BH bringt man vielleicht auch noch 1-2 mobile Gerätschaften unter. Sicher zu klettern hat man aber dennoch.

Che bello! Hinten die Pyramide des Gross Düssi (3256m), der Akteur in L6 (5c+, chossy)

L7, 45m, 6a+: Mutmassungen aufgrund von Ausblick und Topo könnten hier einen richtigen Schocker vermuten lassen: 45m, 3 BH, 6a+. Und dabei bietet nicht etwa die Hälfte der Länge Gehgelände, sondern es ist anhaltendes Terrain. Viel Legen kann man ebenfalls nicht, vielleicht sogar gar nix zuverlässiges. Dafür ist der Fels hier tatsächlich für einmal etwas üppiger strukturiert und bei den weiten Abständen entfernt man sich eher seitlich als vertikal von den BH. Führt zwar auch zu einem üblen Pendler, aber es ist halt doch weniger Energie im Sturz - vielleicht darum hat es mich hier nicht besonders gefürchtet.

Taffe Plattenquerungen am Ende von L7 (6a+).

Nach der zweiten Sicherung in L8 endet unsere Begehung... nein, zum Glück nicht mit einem Unfall. Wer mich kennt, der weiss wie ungerne ich MSL-Routen vorzeitig abbreche und nicht bis zu deren Ende klettere. Aber hier war mir das Risiko schlicht zu gross und ich wollte nicht meine Gesundheit und mein Wohlergehen auf's Spiel setzen.

  • Der nächste sichtbare Bohrhaken war mindestens 15m, eher 20m entfernt.
  • Das Gelände dahin sah nach anhaltenden Schwierigkeiten im Bereich von 6a+ aus.
  • Es sah nicht danach aus, als ob zuverlässige mobile Sicherungsmöglichkeiten kämen.
  • 3m über dem Haken war der Point of no return. Von dort konnte ich knapp noch Abklettern, nachher wäre dies nicht mehr kontrolliert möglich gewesen. Hier zu committen hätte somit bedeutet, weitere 10-15m zum BH steigen zu müssen, egal was kommt.
  • Die Lage vor Ort liess sich nicht wirklich mit dem (Original)topo in Einklang bringen. Die erste als BH verzeichnete Sicherung war nur ein Fixkeil. Die gezeichnete Linie mit queren und hinauf vom zurückliegenden BH liess Interpretationsspielraum für 3 verschiedene Optionen. Sicher alles kletterbar, aber womöglich nur eine davon als 6a+ und die anderen als Freesolo-6c?!? Nein danke...

Ja, normalerweise nervt das Scheitern. Vor allem wenn es wegen einer Fehlplanung oder noch mehr wegen persönlichem Unvermögen passiert. Sprich wenn man der Route einfach nicht gewachsen ist, d.h. eine Kletterbewegung nicht ausführen kann oder sich nicht traut, weil es zwar vielleicht unangenehm, aber  eigentlich nicht wirklich gefährlich wäre. Meistens geht man dann ja auch mit dem Gefühl weg, dass man wiederkommt und es der Route (oder viel mehr sich selber) zeigt, was man draufhat. An dieser Stelle im Dornröschen waren meine Emotionen aber ganz anders. Natürlich hätte ich das Klettern können, aber es war ein bewusster Verzicht. Das war einfach zu viel an Risiko, klar jenseits meiner Toleranzschwelle. Von einem "I will be back" keine Spur. Macht ja auch keinen Sinn, es wäre absolut töricht mich bei einem nächsten Mal dieser Gefahr hinzugeben. Und nein, es war nicht weil ich einen schlechten Tag hatte, sich meine Wahrnehmung aus irgendwelchen Gründen verschoben oder der Biss fürs MSL-Klettern nachgelassen hat.

Stimmungsbild auf dem Rückweg, hier im einfacheren Gelände nach dem Schwerzifad.

Rückzug also, das war insofern kein Problem, als dass der Umkehrkarabiner im entsprechenden BH schon vorhanden und ich subito retour beim Standplatz war. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, waren wir nicht die erste Seilschaft, welche die Begehung an dieser Stelle abgebrochen hat. Während die Absicherung von Beginn weg knapp ist (Stufe xx von xxxxx), sicheres Steigen verlangt und bei einem Sturz öfters unangenehme Konsequenzen haben könnte, so war es bis zu dieser Stelle doch einigermassen fair und verantwortbar. Dies im Sinne, dass der Verlauf meist klar genug gegeben war, man vor schwierigen Stellen eine Sicherung hatte und nirgends auf Teufel komm raus mit unkalkulierbarem Risiko ins Unbekannte steigen musste. 

Item, 4 weitere Manöver später (mit teils deutlichem, seitlichem Versatz) waren wir retour bei unserem Depot. Achtung, beim letzten Abseiler auf das Ausquerband reichten (meine) 2x50m-Seile nur ganz knapp. Tja, das war's mit dem sagenumwobenen Dornröschen. Vom Tag blieb aber noch viel übrig, so konnten wir gemütlich noch etwas beim Depot rumfläzen, bevor wir ohne Eile den Weg zurück antraten. Für diesen brauchten wir knappe 2 Stunden, wenn's pressiert ginge es bestimmt noch etwas schneller. Nicht restlos zufrieden, aber mit einer längeren Kondi-Einheit in einer sehr schönen Umgebung und doch gegen 300 Klettermetern in den Beinen machten wir uns auf den Heimweg.

Blick das Tal hinaus zum Bristen - auch einer der gewaltigen Maderaner Skitourenberge!

Facts

Chalchschijen - Dornrösli 6c+ (6b obl.) - 15 SL, 580m - Fullin/Müller 1994 - ***;xx
Material: 2x50m-Seile, 10 Express, Camalots 0.2-1, Keile

Da wir nur die Hälfte der Route geklettert haben, sind die hier porträtierten Facts natürlich nicht vollständig. Ich vermute die Materialempfehlung sollte so in etwa passen. Die Absicherung in L1-L7 ist knapp (Expo-Stelle in L1, dann xx), natürliche Möglichkeiten sind rar. Die ganze Umgebung da hinten am Chalchschijen ist echt traumhaft. Die Kletterei ist schon gut, aber definitiv nicht super. Nebst einigen lässigen Passagen an Wasserrillen ist das Gelände ziemlich flach, der Fels dafür meist ziemlich glatt und wenig strukturiert. Vielfach hat's nur Untergriffe, welche meist einen etwas splittrigen Eindruck machen. Zu erwähnen: es hat keinen Handyempfang und man befindet sich ziemlich weit abseits von der Zivilisation (unser zügiger Zu-/Abstieg soll hier keinen falschen Eindruck vermitteln). Ein Sturz mit Verletzungsfolgen kann einen sicherlich in gröbere Schwierigkeiten führen, zumal (weiter oben) auch ein Rückzug aus der Route schwierig scheint. An dieser Stelle das Originaltopo zum Download.