Die Kinder waren mit den Grosseltern in den Ferien, so blieb Kathrin und mir Zeit vor dem angesagten, ersten Wintereinbruch nochmals eine MSL-Tour zu klettern. Einen Strich durch die Rechnung machte uns dabei der Hochnebel. Angesagt war eine maximale Obergrenze von 1800-2400m, in Realität zeigten dann nur gerade die Webcams auf dem Titlis (3020m) und dem Schilthorn (2970m) den gewünschten Sonnenschein. Weil auch die Sidelenhütte (2700m) Nebel meldete, verzichteten wir auf den geplanten Ausflug an den Furkapass und suchten stattdessen das Bedrettotal auf.
Der Poncione di Cassina Baggio im Bedrettotal. Sehr schöne Gegend, insbesondere im Herbst! |
Dort zeigte sich nämlich auf den Webcams strahlender Sonnenschein. In der Tat war dieser dann auch anzutreffen, doch was man am Computer nicht oder nur unzureichend mitbekommt war die Tatsache, dass es einerseits im engen, schattigen Gebirgstal ganz schön frostig war, und andererseits die Nebelschwaden mit aller Macht von Norden her drückten. Einmal in All'Acqua fragten wir uns inständig, wie der Kampf von Sonne gegen Nebel wohl ausgehen würde. Schliesslich entschieden wir uns gegen die Klettereien am Poncione di Ruino, weil höher gelegen, mit weiterem Zustieg und höheren Schwierigkeiten. Oder ganz einfach: es war uns nicht danach zumute, die Saison zähneklappernd mit einem Gewürge abzuschliessen.
Nahaufnahme der Wand mit Routenlinie. Der Start der Route kann vom Wandfuss auch direkt erreicht werden (SL 0, ca. 5b). |
Und vor allem stand mit der etwas tiefer gelegenen und schön besonnten Südwand des Poncione di Cassina Baggio ein Ziel bereit, an welchem wir den erhofften Klettergenuss mit grösserer Sicherheit würden antreffen können. Im Juli 1997 hatte ich diese das letzte und bisher einzige Mal besucht, um 'dr grüen Nils' zu klettern, da war ein Besuch doch irgendwie mal wieder fällig. Von der Kurve bei P.2099 bei der Alpe di Cruina an der Nufenenstrasse starteten wir den Zustieg. Entgegen den Angaben in der Literatur waren wir bereits nach 45 Minuten am Einstieg. Ein Teil dieser Ersparnis liegt sicher daran, dass von Manio di Sopra P.2116 erst noch etwas dem Weg entlang Richtung Lago delle Pigne stiegen, und dann weglos direkt gegen die Wand traversierten. Untenrum dem Piansecco-Hüttenweg entlang und der Wegspur folgend zur Wand hoch ist umwegig und dauert spürbar länger, wie wir beim Rückweg feststellen mussten. Um 12.15 Uhr waren wir bereit und packten die Sache an.
Teil 1: Die ersten vier Seillängen der Route bieten noch nicht den riesen Plaisirspass. Die Wand ist hier noch stark gegliedert und auch nicht sonderlich steil. Die Route sucht sich einige schwierigere Kletterpassagen, die man auch durch leichtes, aber unschönes Gelände hätte umgehen können.
Kathrin folgt in SL 3 (5b). Der untere Wandteil ist plattig, gegliedert und etwas unhomogen, d.h. noch nicht sehr überzeugend. |
Weil die Route ziemlich unlogisch erst etwa 50m über dem Wandfuss beginnt und rechtsrum über Geröll und leichte Bänder erreicht werden kann, klettere ich eine SL 0 (5b) direkt hinauf: es steckt kein Material, es ist kniffliger wie erwartet, doch an idealer Stelle konnte ich zum Glück 2x einen Cam legen. In SL 1 (6a+) geht es dann über eine Platte hoch, bevor man durch steileren Fels mit Aufschwüngen nach rechts quert und zuletzt mit reichlich Seilzug mehr oder weniger geradeaus zum nicht von weitem sichtbaren Stand klettert. Die SL 2/3 (3b/5b) kletterten wir am laufenden Seil, bis auf einen schönen Granitrücken bieten sie weitgehend einfaches Gelände. Dieser erste Routenabschnitt endet mit SL 4 (6a), welche eine etwas gesuchte Linie über ziemlich glatte Platten aufweist. Erst noch gut abgesichert, weist sie nachher einen 15m-Runout über eine Platte auf. Leider steckt der folgende Bolt 2m zu hoch, weswegen man hier bei den nicht ganz einfachen Plattenmoves besser keinen Fehler macht.
Teil 2: In diesem Abschnitt wird die Kletterei schon etwas steiler und interessanter. Sie ist immer noch von eher plattiger Natur, hie und da eine Rissspur und da und dort eine griffige Schuppe helfen, um an Höhe zu gewinnen. Von der Absicherung her gibt es auch hier immer noch den einen oder anderen weiten Abstand.
Das wäre dann SL 5 (5c) im mittleren Wandteil. Die ist schon deutlich hübscher und bietet griffige Kletterei an Schuppen. |
In SL 5 (5b) klettert man über eine Platte rechtshaltend hoch, um danach in nicht ganz offensichtlicher Linie noch weiter nach rechts zu halten, und am Schluss zurück nach links zu steigen. In SL 6 (5c) ist die Kletterei weitgehend einfach, ein Aufschwung am Schluss bildet die Crux. In SL 7 (5c+) bestehen die Hauptschwierigkeiten in einer Plattenquerung zu Beginn, und einem rechtsherum gekletterten Pfeilerlein am Schluss. Die schöne und herausfordernd aussehend SL 8 (6a) klettert sich in einer Rechtsschleife dann doch erstaunlich einfach, nur eine kurze, etwas knifflige Risscrux stellt sich in den Weg.
Sieht toll aus, klettert sich auch gut: SL 6 (5c+). |
Teil 3: Nun ist man endlich beim steilen Teil der Wand angelangt, den man schon lange erwartet hat. Die Route windet sich geschickt durch die steilen Zonen, die Hauptschwierigkeiten sind so nicht sehr anhaltend, sondern beschränken sich auf einige Aufschwünge, wo der Fels meist verschwenderisch mit griffigen Schuppen ausgestattet ist. Hier ist die Absicherung nun etwas besser ausgefallen und die Kletterei am interessantesten.
Das ist der Blick auf den lange ersehnten Teil 3. Im Vordergrund aber auch noch SL 8 (6a). |
In SL 9 (6a) überwindet man die überhängende Wandzone mit Hilfe einer Art Rampe. An deren Ende wartet eine kurze, athletische Crux, die man dank nahe steckenden Haken auch A0 bewältigen können dürfte. Auch in SL 10 (6a+) geht es weiter mit der typischen Kletterei: einfachere plattige Moves und dazwischen athletische Aufschwünge. Die eigentliche Crux ist kurz, sie erfordert ziemlich zwingend einen Rissklemmer. In SL 11 (5c+) geht es wie gehabt weiter, die Schlüsselstelle an einem kurzen Aufschwung. Zuletzt dann übrigens ohne Sicherung etwa 20m über gebändertes Gelände diagonal nach rechts hoch. Das Finale mit SL 12 (5c+) bietet erst gemütliche Piazkletterei und eine finale Crux an einer steilen Pfeilerkante. Vorsicht, die angeklebte Schuppe rechts nur behutsam belasten, das Sika hat definitiv schon bessere Zeiten gesehen!
Ausstieg aus SL 9 (6a). Ist mal ein bisschen schwerer, ist es zum nächsten Henkel nie weit... |
Kurz nach 17.00 Uhr hatten wir nach etwas weniger als 5 Stunden Kletterei den Ausstieg erreicht und konnten uns ins Gamellen-Wandbuch eintragen. Die Sonne hatte tatsächlich den ganzen Tag gewärmt und die Temperaturen sehr angenehm gewesen. Nun aber schien die Kaltluft aus dem Norden den Kampf langsam aber sicher zu gewinnen, eine Nebelschlange zog vom Passo di Manio herunter und wir machten uns umgehend ans Abseilen. Weil doch 10 lange Abseiler zu bewältigen sind und das plattige Gelände im unteren Teil dabei etwas Seilpflege braucht, nahm dies doch fast Fünfviertelstunden in Anspruch. Nach 18.30 Uhr brachen wir vom Wandfuss auf, mit dem Umweg untenrum wurde es beinahe halb Acht, bis wir retour beim Auto waren. Die Dämmerung war bereits eingebrochen und sogar etwas Nieselregen hatte nun eingesetzt, irgendwie rundete das den schönen Tag aber auf die richtige Weise ab, d.h. es liess uns den Sonnenschein und die milden Temperaturen tagsüber umso mehr schätzen.
On Top. Unser Eintrag war womöglich bereits der letzte im Jahr 2013? |
Poncione di Cassina Baggio - Herbstwind 6a+ (6a obl.) - 12 SL, 450m - Baumeler/Salvini 1992 - ***; xx-xxx
Material: 10 Express, Camalots 0.3-2, evtl. ein paar kleine Klemmkeile
Nette Plaisirkletterei durch die sonnendurchflutete Südwand am Nufenenpass. Der untere Wandteil ist dabei noch nicht sonderlich überzeugend und bietet neben einfachem Gelände einige etwas gesucht schwere Stellen. Nach einem anregenden Mittelteil bieten dann die Schlusslängen tolle, griffig-steile Granitkletterei. Eine Grundabsicherung mit einer Mischung von Bohr- und Normalhaken ist vorhanden und fällt an den schwersten Stellen im Stil von 'Plaisir gut' aus. In einfacherem Gelände warten aber auch teils weite Abstände, die oft nicht entschärft werden können und sicheres Klettern sowie etwas Spürsinn für die richtige Linie erfordern.
Das Bedretto ist auch ein Skitourenparadies. Hier der Poncione Cavagnolo, den ich auch schon besucht habe. |
Wissenswertes
Die Route wird in der Literatur als eine der schönsten Routen der Zone hoch gelobt. Sie findet im Schnitt etwa 20 Wiederholer pro Saison, welche sich zum grössten Teil auch begeistert im Wandbuch äussern. Mein persönliches Fazit fällt jedoch nicht ganz so euphorisch aus. Ich würde dem unteren Wandteil nur gerade ** geben, oben sind es dann ***. Wenn ich mit einigen anderen Granittouren ähnlicher Länge und Schwierigkeit vergleiche, dann stufe ich Routen wie die Niedermann-Anderrüthi am Gross Bielenhorn, das Pissoir du Diable an der Teufelstalwand, die Genius am Dome de Slot, die Motörhead am Eldorado oder die Guy-Anne am Envers des Aiguilles doch alle als um Klassen besser, interessanter und herausfordender ein. Womöglich liegt's ja dran, dass ich nicht zur Hauptzielgruppe dieser Plaisirtour gehöre. Für die Fans dieser Art von Kletterei noch ein Routentipp von ähnlichem Zuschnitt: probiere einmal die RoRu am Chli Bielenhorn! Ihr hatte ich zusammen mit Evi eine der ersten Wiederholungen abringen können, sie bietet bei etwas besserer Absicherung minimal höhere Schwierigkeiten, der Anspruch dürfte in etwa gleich sein.
Die Route hat eine vernünftige Grundabsicherung mit einer Mischung von Bohr- und Normalhaken. Ursprünglich wurden verzinkte Spits gesetzt, an welchen der Zahn der Zeit teilweise bereits ziemlich genagt hat. Im August 2013 wurde die Route teilsaniert: eine gewisse Zahl an alten Bolts wurde ersetzt, wieder andere verblieben aber auch. Der Charakter der Route dürfte durch die Teilsanierung hingegen kaum verändert worden sein. Insgesamt finde ich, dass die schweren Stellen (vor allem im oberen Routenteil) vernünftig behakt sind und als etwa 'Plaisir gut' (d.h. xxx) zu bezeichnen sein dürften. Im einfacheren Gelände hat es aber auch einige weite Abstände, die oft nicht mit mobilen Sicherungen entschärft werden können und sicheres Klettern erfordern. Dort würde ich nur 'Plaisir soso' (d.h. xx) veranschlagen. Zu erwähnen ist auch, dass es hier und da durchaus etwas Spürsinn braucht, um der richtigen Linie zu folgen.
Unglaublich, am Wandfuss fanden wir 5 Schuhe (davon 1 Paar) und auch sonst eine Menge Müll. Soweit es ging wurde aufgeräumt... |
Topos zur Route befinden sich im SAC-Kletterführer Ticino e Moesano, im Schweiz Plaisir Süd und Topoguide Band 1. Mir persönlich gefällt dabei jenes im Plaisir Süd am besten, d.h. es gibt den Routenverlauf am besten wieder. Mit etwas Spürsinn für die Linie kommt man auch mit den anderen Topos gut zurecht.
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