Allzu viele, für mich machbare und noch nicht gekletterte 5-Sterne-Touren gibt es inzwischen nicht mehr an den Wendenstöcken. Tsunami, eine Kreation vom Trio Ruhstaller, Rathmayr und Fullin an der Hauptwand des Reissend Nollen, ist eine solche. Sie führt unmittelbar links der bekannteren und zugänglicheren Caminando in die Höhe. Ihr haftet der Ruf von sehr kletterfreundlichem Fels und anspruchsvoller Absicherung an. Dem wollten wir auf den Grund gehen und tatsächlich, nach rund 30 gekletterten Touren am Massiv der Wendenstöcke gehört Tsunami für mich zusammen mit der Blauen Lagune und Ben Hur zu den drei besten Routen vor Ort. Mit dem Bericht hat es nun etwas gedauert, aber gut Ding will Weile haben...
Die Arena am Reissend Nollen mit der Linie von Tsunami. Links davon auch Cleopatra, Batman & Painkiller, rechts Caminando & Millenium. |
Weil diverse Kaltfronten im September bereits eine Ladung Schnee bis auf Höhe des Einstiegs deponiert hatte, mussten wir unsere Tsunami-Pläne jedoch noch eine Weile in der Schublade halten. Eine Schönwetterwoche nachdem wir uns in der Transocean an Fels und Absicherung gewöhnt hatten, standen die Signale dann auf grün. In gewohnter Manier fuhren wir frühmorgens auf die Wendenalp und zogen hinauf gegen den Reissend Nollen. Das Biwak unter dem Vorbau war rasch erreicht, im exponierten Schrofen- und leichten Klettergelände mit Stellen bis zum dritten Grad ging es dann hinauf zum Einstieg. Dieser ist (inzwischen schwach lesbar) annotiert und befindet sich am rechten Rand der Grotte bei der grossen Kaskade. Die Kaskade war noch trocken, doch während wir uns für die Kletterei vorbereiteten, stürzte wie bei einem Hahn der angestellt wird von der einen auf die nächste Sekunde ein Wasserfall in die Tiefe. Solange es aber windstill bleibt, lässt sich die Tsunami trotzdem gut klettern. Also konnte es um 9.30 Uhr losgehen.
Auf dem Weg zum Einstieg. Das Gelände ist recht gut gangbar, auf dem Foto sieht's doch schon reichlich fordernd aus... |
L1, 6a: Kurze Auftaktlänge an tief eingeschnittenen Wasserrillen, ohne fixe Absicherung.
Start in L1 (6a), der Einstieg (mit hier sichtbarer Aufschrift!) noch nah, der Ausstieg noch fern. |
L2, 6b: Schöne Kletterei an Wasserrillen und über glatte Platten. Mit 4 BH auf volle 50m jetzt nicht gerade üppig abgesichert. Da die Kletterei meist gemässigt schwer ist und sich die Bolts vor den kurzen Plattenbouldern befinden, geht's aber trotzdem ganz ordentlich. Stürzen wäre aber vielerorts ungesund.
Die wasserrilligen Platten von L2 (6b) sind auch noch fast als Zustieg zum wesentlichen Teil oberhalb zu werten... |
L3, 6c+: Nun geht's richtig los, bis zum Ausstieg ist das Gelände nun vorwiegend senkrecht und überhängend. Der Auftakt in diese Länge spielt sich in perfekt modelliertem, griffigem Fels ab, so dass sich die Schwierigkeit trotz der Steilheit nur etwa bei 6b bewegt. Allerdings ist der Start in diese Länge ungenügend abgesichert. Beim Anklettern des dritten BH in gegen 20m Höhe scheint immer noch ein Grounder aufs Standplatzband möglich. Die Crux dann danach, gut gesichert in einer kurzen Rechtsquerung (tief halten hilft), danach griffig-steil bei wieder weiten, aber gefahrlosen Abständen zum Stand hinauf.
Runoutige und nicht ungefährliche 6b-Kletterei zum Auftakt von L3 (6c+). |
L4, 6c: Sehr schöne, homogene und gut abgesicherte Länge mit einem Auftakt, der in griffiger Wandkletterei in eine Verschneidung hineinführt. Diese wird bald wieder nach links über den Wulst hinaus verlassen, um mit einem Quergang eine Zone mit toller Tropflochkletterei zu erreichen.
Sehr schöner Start in L4 (6c), diese zieht in die Verschneidung beim Kopf des Kletterers und dann links hinaus. |
Stilstudie in L4 (6c), Griffgrösse und die typische Felsstruktur sind sehr gut ersichtlich. |
L5, 7b+: Es geht gleich volle Pulle los mit steiler, crimpy Wandkletterei. Die Haken sind zwar nicht allzu weit auseinander, die Schwierigkeiten (7a/+) aber voll obligatorisch und weil man direkt über dem Stand rumturnt, ist's dennoch leicht unangenehm. Nach einem 6b-Runout wartet dann der finale Wulst mit ein paar gut gesicherten, bouldrigen Zügen an Slopern. Für die Angabe von 7b+ läuft der uns erstaunlich einfach rein.
Die Black Wall von L5 (7b+). Erst crimpy & fordernd gerade hinauf, 6b-Runout nach rechts und Slopercrux am Wulst. |
Die Schlüsselsequenz der Route besteht darin, sich aus dem Überhang kommend auf dieser Platte zu etablieren. |
L6, 7b: Ein plattige Zone um 6c rum führt ziemlich unerwartet zur Crux. Es handelt sich um einen kurzen Boulder, ein zwingender Dynamo von einer Untergriffschuppe an Leisten/Henkel oberhalb. Insgesamt eher etwas unschön, der Fels dort unangenehm glatt und auch nicht ganz fest. Weiter geht's dann in phänomenaler, luftiger, runoutiger und leicht überhängender Querschlitz-Kletterei um 7a rum.
Blick auf L6 (7b). Die 6c-Plattenzone im Vordergrund, das kleine Dächli die Crux, der Akteur im 7a-Querschlitz-Bereich darob. |
Eine weitere Stilstudie aus L6 (7b). Die Wand ist hier deutlich steiler, dafür die Griffe auch etwas grösser. |
L7, 7a: Coole, aber sehr inhomogen abgesicherte Seillänge. Der schöne Start mit gut abgesicherter Steilplattenkletterei, ähnlich wie wenn ich das selber eingebohrt hätte. Plötzlich kommt die Länge aber dann ganz anders daher, bei heikler 6b-Plattenkletterei warten weite Abstände mit auch noch reichlich unklarer Kletterlinie. Die 7a-Crux ist dann ein ziemlich problemloses One-Move-Wonder, zudem stecken hier auch 2 BH sehr nahe zusammen.
Krasse Runouts im Mittelteil von L7 (7a). Die Kletterei zwar dort "nur" um 6b rum, aber 20m-Flüge sind hier möglich. |
L8, 6c+: Meines Erachtens die schönste Länge der ganzen Route. Athletische Kletterei in prächtigem, strukturiertem Fels mit homogenen Schwierigkeiten bei guter Absicherung. Der Ausstieg dann ziemlich sloprig und sehr ausgesetzt, das macht richtig Laune.
Unterwegs in L8 (6c+), das "gelbe Dach" am oberen Bildrand wird am linken Ausläufer passiert. |
Die Felsqualität hier einfach göttlich. Fest, kompakt, strukturiert, rauh und griffig. Traumhaft! |
L9, 6b: Ziemlich kurze Überführungslänge an den nächsten Wulst. Nicht schlecht, aber auch nichts besonderes. Die Kletterei ist nicht so schwer, dafür sind die Abstände weit, es stecken nur zwei BH.
Yours truly on duty. Hinten das schöne Massiv der Fünffingerstöcke. |
L10, 7b: Stark überhängender Wulst mit athletischer Kletterei an meist positiven Leisten und Löchern, die bisweilen etwas staubig sind. Ziemlich schwer zu lesen, einerseits im Kleinen um die besten Griffe zu wählen, andererseits auch im Grossen: der Ausstieg nach dem letzten BH im Steilen erfolgt nach rechts und nicht nach links. Das Topo ist hier leider unpräzise, von unten ist kein weiteres fixes Material sichtbar und beide Wege sind möglich. Wer falsch pokert und links steigt, kommt nicht umhin irgendwann einfach abzuspringen. Die Absicherung ist hier jedoch fast sportklettermässig gut.
Kurz vor dem Abgang... die etwas unübersichtliche, steile Wandzone von L10 (7b) beendete leider die Onsight-Ambitionen. |
L11, 6c: Nun wähnt man sich schon beinahe am Top. Doch auch diese Länge fordert nochmals, bereits der Weg zum ersten Bolt ist weit und auch nicht ganz so einfach, wie es erst den Anschein macht. Dann geht's mit athletischer Kletterei an guten Griffen weiter - nicht so schwer, aber wenn nicht mehr so viel Reststrom in den Armen ist und mit zwingenden Stellen zwischen den gut gesetzten Bolts ist's trotzdem nicht trivial.
Die athletisch-gutgriffige Steilkletterei von L11 (6c) fordert ein letztes Mal alles von den Unterarmen. |
Dies erst recht an deren sloprigem Ausstieg, zudem pfeift's grandios in die Tiefe hier. |
L12, 6b: Nochmals recht schöne Kletterei, jedoch nicht mehr von Premium-Qualität. Die Haken scheinen auf den ersten Blick recht distanziert und vom Stand sieht's nicht einfach aus, es löst sich dann aber trotzdem ganz gut auf. Im zweiten Teil lassen die Schwierigkeiten nach, und das Problem besteht vor allem darin, im nicht mehr so kompakten Gelände den Stand aufzufinden - der befindet sich weiter rechts, wie das Topo suggeriert und man erst denkt.
Auf den letzten Metern von L12 (6b), das Gelände hier nicht mehr ganz so kompakt wie zuvor. |
Ok, es war nun gut 17.00 Uhr und hier ist die Route fertig - oder auch nicht. Bis auf den Pfeilergipfel folgt nämlich noch eine Länge im Grad 4c. Sie ist im Topo zwar nur halbfett eingezeichnet, oben sind keine Haken und kein Abseilsymbol eingetragen und wirklich schön sieht das Gelände auch nicht aus. Trotzdem, Alpinistenehre, man klettert doch bis der Berg (oder zumindest der Pfeiler) fertig ist und irgendwie müssen ja auch die Erstbegeher wieder runtergekommen sein, also wird es auch eine Abseilmöglichkeit geben. So schnappe ich mir bei Ankunft am Stand die Cams und steige gleich weiter. Erst ist's noch ganz ok, weiter oben wird es dann zunehmend brüchiger und zuletzt sind es so abwärtsgeschichtete Schindeln, die total lose sind. Fixe Sicherungen hat es keine, doch mit etwas Vorsicht und sorgfältiger Auswahl der solideren Tritte ging's im Aufstieg grad so. Irgendwann stand ich dann oben auf dem Pfeilergipfel im Schnee, eine Stand- oder Abseilmöglichkeit war nicht ersichtlich. Also räumte ich überall dort, wo ich diese vermutete, mal mit blossen Händen den eiskalten Schnee zur Seite, aber nada, nix da.
Blick auf das letzte, nicht eingerichtete Teilstück, das im linken Bilddrittel erklettert wird. Ich würde ausdrücklich davon abraten!!! |
Das war schon eine dumme Situation: das Abklettern durch den Bruch schien mir nicht realistisch und viel zu gefährlich. Somit blieben nur noch zwei Alternativen, nämlich a) der Helikopter, oder b) der Aufstieg durchs alpine Gelände hintenrum, um den Ausstieg von Caminando und Millenium zu erreichen. Weil die Uhr zudem auch schon auf 17.30 Uhr vorgerückt war und gar nicht mehr so viel Zeit vor dem Eindunkeln übrig blieb, war eine rasche Entscheidung gefragt. Da die Kommunikation mit dem Partner über eine Distanz von 40m nicht die einfachste war und sowieso gemeinsames Handeln angesagt war, holte ich Dani per Totmannsicherung von der kalten Nordseite nach. Wir entschieden schliesslich, den Aufstieg zum Caminando-Top versuchen zu wollen - ich war zuvor schon 2x dort oben angelangt und war mir sicher, dass er von hintenrum zugänglich sein müsste. Mit den Kletterfinken ging's dann also kletternd durch das verschneite, nordwestseitige Mixed-Gelände, zum Glück liess sich hier und da ein Cam platzieren. Nach rund 70m Kletterstrecke und zwei weiteren Seillängen war es dann aber geschafft, wir waren beim Steinmann auf dem Caminando-Pfeiler angelangt und der Weg ins Tal war frei.
Ungünstig war nur, dass wir vor der letzten 6b-Länge unseren Haulbag hatten hängen lassen, wir rechneten ja damit, ihn wenige Minuten später beim Abseilen wieder mitnehmen zu können. Das sollte aber im Moment unsere geringste Sorge sein, nun galt es erst einmal noch vor Einbruch der Dunkelheit vom Berg zu kommen, dennn die Stirnlampen waren natürlich im Haulbag geblieben. Dies übrigens eine Emotion, die ich an selber Stelle nach der Begehung der Millenium wegen einem Seilverhänger beim Abseilen schon einmal sehr ähnlich erlebt hatte. Dieses Mal klappte die Abseilerei aber reibungslos, noch ohne Stirnlampe konnten wir auch am Vorbau über die Spasspartout abseilen und das letzte Tageslicht für den Rückweg in Richtung Wendenalp nutzen, wo wir schliesslich glücklich und wohlbehalten eintrafen. Tja, von dieser Aktion gibt es leider kein einziges Bild, wir waren von unserem Tun so absorbiert, dass wir keine Sekunde mehr ans Fotografieren gedacht hatten. Im Nachhinein habe ich vom Tsunami-Erschliesser Reto Ruhstaller dann erfahren, dass auf dem Pfeilergipfel tatsächlich kein Stand vorhanden ist. Dort würde man ja auch nicht raufklettern, das lohne sich überhaupt nicht - von den Erstbegehern hatte auch nur eine Person ein paar Erkundungsmeter gemacht, und war dann wieder abgeklettert. Er meinte auch, mit dem den Seillängen zum Caminando-Ausstieg hätten wir sicherlich eine Erstbegehung gemacht ;-)
Die Wendenalp, Anfangs- und Endpunkt jeder Route am Massiv. |
Die Geschichte wäre auch nicht vollständig, wenn nicht noch die Bergung des zurückgelassenen Haulbags erwähnt wurde. Schliesslich waren nach genauerem Nachdenken nicht bloss etwas Speis und Trank darin, sondern auch noch Gore-Tex-Jacken, ein Keilset, Kletterfinken und weitere Wertgegenstände. So "musste" dann halt ein paar Tage darauf auch noch die Caminando geklettert werden, um mit einem genügend langen Seil und leicht heikler Querkletterei die Materialbergung durchzuführen. Aber das ist dann eigentlich schon die nächste Geschichte... danke Dani!
Facts
Reissend Nollen - Tsunami 7b+ (7a obl.) - 12 SL, 450m - Ruhstaller/Rathmayr/Fullin 1996 - *****;xx
Material: 2x50m-Seile, wobei 2x60m zum Abseilen sehr praktisch sind. 12 Express, Camalots 0.3-2
Geniale, alpine Sportklettertour durch die eindrückliche Arena am Reissend Nollen. Der Fels ist bis auf wenige Stellen einfach perfekt, super strukturiert und kletterfreundlich. Geboten wird zumeist Wandkletterei, in der Neigung zwischen steilplattig und athletisch-überhängend variierend. An der Tsunami gibt es nun wirklich fast gar nix zu mäkeln, hier kann man die 5 Sterne mit Sicherheit vergeben. Ganz leichten Abzug gibt's für den nicht ganz perfekten Schluss und die Tatsache, dass wir es hier nicht auch noch mit einem Superklassiker von gewaltigem Nimbus zu tun haben. Für die Absicherung gibt es hingegen nur xx: teils ist sie gut, meistens ok, doch es gibt auch ein paar Stellen, die nicht ganz ungefährlich sind. Wobei diese Passagen dann jeweils nicht megaschwer sind, mehr als ~6b muss man nie weit weg (>2m) vom Haken klettern, bis zu diesem Grad dann allerdings auch mal 5m über dem Haken bei ungünstigem Sturzgelände. Mit Keilen und Friends lässt sich übrigens nur wenig bis fast gar nix anstellen, trotzdem sollte ein Satz Cams nicht fehlen. Ein Topo zur Route findet man im Kletterführer Extrem West aus dem Filidor-Verlag.
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