Kurzfristig erhielt ich grünes Licht für eine Tour an einem perfekt sonnigen Samstag, an welchem das Bulletin mit Stufe 1 absolut sichere Bedingungen anzeigte. Warum nicht wieder einmal ins Urnerland? An die Skitouren mit Ausgangspunkt bei der Golzerenbahn im Maderanertal habe ich nämlich exzellente Erinnerungen. Die Touren zum Bristenstock (2008, 2009), zur Gross Windgällen (2009) und zum Gross Düssi (2011) gehören alle zur Crème de la Crème in meinem Palmares. Alle sind sie aber auch sehr lang, mit über 2000hm Aufstieg und alpinen Fussaufstiegen im Gipfelbereich. Ob ich das jetzt immer noch könnte, 10-15 Jahre nach dieser Blütezeit?!? Dem wollte ich auf die Spur gehen und erkor den Piz Nair (3059m) zum Tourenziel. Er war neben dem (noch schwierigeren) Witenalpstock (3015m) der letzte 3000er im Tal, den ich nicht nicht besucht hatte. Viele Infos über die zu erwartenden Schwierigkeiten konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Das SAC-Tourenportal bewertet den Aufstieg über den NW-Grat von der Fuorcla Piz Nair (2830m) als Hochtour mit WS, II+. Auch die Hikr Delta und Schlomsch berichten von ihren Sommertouren keine aussergewöhnlichen Schwierigkeiten am Grat. Mein Fazit war also, dass das auch im Winter gehen sollte - auch wenn das Netz keinerlei Infos über Besteigungen in der kalten Jahreszeit ausspuckte.
Somit rauschte ich in gespannter Erwartung zum Ausgangspunkt bei der Golzerenbahn (834m). Wobei, was ich schon wusste, war dass mich dort absolut keine Flocke Schnee erwartet. Mit den entsprechenden Karten, Bildern und Webcams ist das ja heute keine Hexerei mehr. Deshalb hatte ich das Schneetaxi (=E-Bike) dabei und hoffte wie immer, dass die Übergangszone zwischen nicht mehr Bike-fahrbar und noch nicht Ski-fellbar möglichst klein wäre. Nach einem Start um ca. 8.20 Uhr ging das auf wie gewünscht. Bis zur Chrüzsteinrüti (ca. 1170m) war die Strasse weitgehend aper, bzw. am Ende auf dünn-kompakter Schneedecke gut fahrbar. Damit war das erste Teilstück zügig und ohne Mühen erledigt. Das Gefährt wurde deponiert, ich ging wenige Schritte durch den folgenden Tunnel, danach konnte ich die Bretter anschnallen. Es lag zwar generell schon sehr wenig Schnee, auf dem Trassee war er aber kompakt und durchgehend. Ziemlich subito wurde ich mir gewahr, dass bis zu den Gipfelzielen noch ein sehr weiter Weg wartete - das störte mich aber nicht, denn es war das erste Mal, dass ich ins Etzlital schritt. So bedeutete jeder Meter Neuland und neue Ausblicke, zudem gewann ich zügig an Distanz und Höhe.
Wenig Schnee hier im Etzliboden - aber alles fahrbar! Hinten Chli und Gross Windgällen. |
Bis zur Müllersmatt, dem Boden unterhalb der Etzlihütte, konnte ich der Spur der Hüttencrew folgen. Es war nicht so, dass dies bei der kompakten Schneedecke mit einem Pulverflaum eine wesentliche konditionelle Erleichterung gebracht hätte. Aber so gab es bezüglich der Orientierung null Fragezeichen. Wie sich zeigte, verlief der Parcours durchgehend exakt entlang des Sommerwegs, nur bei üppigerer Einschneiung stehen andere Optionen offen. Die Müllersmatt stellt quasi den Knotenpunkt für alle Touren im Etzlital dar. Während der Piz Nair noch nicht sichtbar ist, präsentieren sich dafür viele andere Gipfel, Couloirs und Abfahrtslinien im besten Licht. Ich schwankte kurz, ob ich meinen Plan anpassen sollte. Vieles lockte, ja einiges aus dieser Perspektive gleich richtig extrem. Aber wie es so ist im Leben, man kann nicht alles gleichzeitig haben. Somit hielt ich an meinem ursprünglichen Plan mit dem Piz Nair fest. Wer weiss, vielleicht ergäbe sich ja auf dem Rückweg noch eine Gelegenheit...
Da gibt es noch zu tun! Ausblick auf den Witenalpstock (3015m) und seine Trabanten. |
In flachem Marsch ging es dem Etzlibach entlang nach Hinter Felleli, wo (nun im Angesicht des Piz Nair) der steile Aufstieg in die Fuorcla begann. Erst konnte ich noch von einer älteren Spur profitieren, etablierte mich dann auf der markanten Mittelmoräne bis zum Fuss der Felsen vom Hälsistock. Schon gleich die erste Steilstufe danach war dann ziemlich ätzend: es hatte eine superkompakte Unterlage, darauf lagen 10-20cm kohäsionsloser Schnee, der beständig wegrutschte. Es blieb mir nichts anderes als ein kurzer Bootpack übrig. Bei der nächsten Steilstufe dann dieselbe Situation - ansonsten gelangte ich aber ohne weitere Schwierigkeiten und ohne übermässige Anstrengung beim Spuren unter die Fuorcla Piz Nair (2830m, ca. 12.50 Uhr, 4:30h ab Bristen). Dort wurden die Bretter deponiert, die letzten 10hm in die Lücke sind recht steil, bei ungünstigen Bedingungen würde ein fix installiertes Seil die Sache erleichtern.
Von der Lücke war bzw. ist der NW-Grat schwierig einzuschätzen. Er ist wenig scharf geschnitten, alles sieht ein wenig gleichförmig aus. Also hinauf und probieren! Global bleibt man immer in der Nähe der Kante, die sich aber meist mehr in der Form von einem Rücken präsentiert. Ansonsten ist die Routenwahl wohl ziemlich beliebig - der Nase entlang heisst es. Los geht's noch in mässig schwierigem Terrain, bald wird es steiler und noch in der ersten Hälfte folgt die Schlüsselstelle. Eine ca. 25m hohe Felsbastion stellt sich in den Weg - ganz ordentlich steil, luftig-exponiert, aber zum Glück mit so richtig griffigem und solidem Fels. Trotzdem, für eine II+ muss man doch recht zupacken! Danach legt sich das Terrain wieder etwas zurück. Die Neigung ist aber beständig >45 Grad, es geht auf alle Seiten runter, Fehler sind da absolut keine erlaubt - ein Sturz wäre nicht aufzuhalten. Irgendwie hat's mich in der Art fast ein wenig an den Hörnligrat am Matterhorn erinnert.
Es ist eher schwierig, den Grat gut fotografisch einzufangen. In Bildmitte die Schlüsselstelle. |
Um 13.50 Uhr (5:30h ab Bristen) war ich schliesslich am schlichten, eisernen Kreuz angelangt. Südseitig war es angenehm windstill und warm. So konnte ich die Rast geniessen, das fantastische Panorama bestaunen und im Gipfelbuch blättern. Die letzte Begehung war am 1.8.2022 eingetragen, im Schnitt verirren sich ca. 5-10 Tourengänger pro Jahr auf diesen eindrücklichen Kulminationspunkt. Ich war etwas erstaunt, dass anteilsmässig doch ein substanzieller Teil der Begehungen im Winter stattfand. Andererseits hat dies durchaus seine Logik - bei guten Verhältnissen ist der NW-Grat eben nicht bedeutend schwieriger wie im Sommer, zudem ist der Zustieg zur Fuorcla mit den Ski bestimmt viel angenehmer wie im Sommer, wenn man über endloses Geröll gehen muss.
Cumbre - einfach fantastisch da oben! |
So schön es am Top war, irgendwann musste ich wieder aufbrechen. Auch diesbezüglich war das Gefühl ein wenig ähnlich wie auf dem Matterhorn, wo man ja um den anspruchsvollen Abstieg weiss. Schlussendlich ging aber alles gut über die Bühne - auch die Steilstufe konnte ich souverän abklettern. Oberhalb von dieser gibt es einen Stand mit BH und Ring, so dass man ca. 25m Abseilen könnte, sofern man einen Strick mitführt. Um 15.00 Uhr war ich retour in der Fuorcla und machte mich für die Abfahrt parat. Diese war dann von der Marke ganz ordentlich. Sprich meist pulvrig, dazwischen gab es ein paar Zonen mit leichtem bis mässigem Winddeckel, welche vorausschauend erkannt und umfahren werden wollten. Da ich noch über genügend Power in den Beinen verfügte, zog ich auf 2450m östlich zu den Ausläufern des Fellifirns hinaus. Mein Rückweg ins Tal sollte nicht komplett über die Aufstiegsroute verlaufen, ein kleiner Abstecher über den Chli Mutsch passte noch ins Programm.
Panorama von der Fuorcla Piz Nair, links Hälsistock (2965m), rechts Piz Nair (3059m). |
Alpinistisch ist dieser kleine Gipfel absolut unbedeutend. Für den begeisterten Skifahrer ist er aber der Wächter über das fantastische NE-Couloir hinunter zur Müllersmatt. Dieses hatte mich schon beim ersten Anblick begeistert - ja ich hätte deswegen sogar meine Pläne mit dem Piz Nair in Frage gestellt. Doch eben, ich konnte ja sogar beides haben. Nur wohl leider nicht mehr mit der First Line, denn zwei von der Etzlihütte kommende Tourengänger hatten ca. 100hm "Vorsprung" auf mich. Naja, es würde sich bestimmt trotzdem noch lohnen, sagte ich mir. Umso überraschter war ich dann, als ich ca. 40hm unter der Lücke auf die beiden Splitboarder traf, die dort wie 2 begossene Pudel Rast hielten. Der Weiterweg sei nicht mehr möglich, sie würden umdrehen, sagten sie mir. Tatsächlich, es gab ab diesem Punkt das mir bereits schon bekannte Problem mit der harten Unterlage mit dem rutschigen Pulver drauf - für sie zusätzlich mit der Schwierigkeit, dass ein Fussaufstieg mit den "Gummischuhen" nicht drin lag. So passierte ich die beiden und erreichte die Lücke im Nu.
Mit kurzer Kraxelei über ein paar Felstürme am Südgrat konnte ich tatsächlich auch noch den Gipfel des Chli Mutsch (2594m, ca. 16.00 Uhr) mitnehmen. Bald war ich zurück bei den Brettern, schnallte diese unter die Füsse und freute mich auf die bevorstehende Abfahrt. In meinem Rücken nahm ich war, wie die anderen beiden Tourengänger nun meinen Spuren folgend doch noch den Aufstieg wagten - mit einigem Lamento und gegenseitigen Vorwürfen, denn offenbar reute es sie extrem, die First Line verloren zu haben. Naja, ich hatte sie ja nicht gestohlen. Ohne mein Auftauchen hätten sie die Lücke gar nie erreicht. Und sowieso sind das doch alles Luxusprobleme - auch wenn der Zauber natürlich schon nicht derselbe ist, wie wenn alles noch unberührt vor einem liegt! Es ist aber auch so, dass schon vieles zusammenpassen muss, dass man da als Erster bei guten Bedingungen fahren kann. Der riesige, leeseitige NE-Hang mit oben 40-45 Grad Steilheit liegt lawinentechnisch nur bei ausgewählten Bedingungen drin, er darf nicht durch spontane Lawinen in Mitleidenschaft gezogen sein und dann hätte man gerne noch lockeren Powder. Das Ganze einerseits für Tagestouristen extrem abgelegen, andererseits von der Etzlihütte gut einsehbar und relativ rasch erreichbar. Kurzum, wenn man hier eine First Line bei Top-Bedingungen unbedingt wollte, es wäre ein möglicherweise sehr schwierig zu erreichendes Ziel. Mir aber fiel es einfach so in die Hände, welch glückliche Fügung und welch Privileg!
Vor lauter Action habe ich am Chli Mutsch keine Fotos mehr gemacht. Hier nochmals ein Blick auf diese Gipfel während dem Aufstieg, fotografiert bei der Ebene von Gulmen (ca. 1900m). |
Dem bewusst stürzte ich mich in die Tiefe. Der Schnee war prima, die Decke absolut solide und so waren die 600hm in die Ebene hinunter ein einmaliger Genuss! Der Rest der Abfahrt ab der Müllersmatt kann da schon rein geländetechnisch nicht mithalten. Schlussendlich war es aber doch besser wie gedacht. Einige Abschnitte musste man zwar im Bereich der Aufstiegsspur fahren, aber doch erstaunlich oft konnte man eine direkte Linie wählen. Dank der auch hier kompakten Unterlage mit Pulverflaum gingen sich trotz generell geringer Schneemenge ganz lässige Schwünge aus. Ab Hinter Etzliboden war dann fertig mit "zöpflen". Dafür ging es in rasanter Schussfahrt zurück zum Bikedepot, wo dem Temporausch weiter gefrönt werden konnte. Wenige Minuten nach 17.00 Uhr war ich retour am Ausgangspunkt. Nein, da musste ich nicht lange überlegen: das war die beste Skitour seit langer Zeit gewesen - ein Erlebnis, welches sich nahtlos in die Reihe der genialen Maderanertouren einreiht. Ebenso freudig war ich über die Tatsache, dass auch 10-15 Jahre nach meiner Blütezeit in dieser Region bei fortgeschrittenem Alter immer noch solche langen Touren möglich sind. Vielleicht bin ich nicht mehr ganz genau gleich schnell unterwegs wie damals, aber was spielt das für eine Rolle.
Facts
Piz Nair (3059m) von Bristen (834m)
2250hm (+200hm für den Chli Mutsch), Ski-Schwierigkeit ZS, Hochtouren WS, II+
Material: Skitourenausrüstung, Steigeisen, Leichtpickel, evtl. 50m-Seil
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