Das Rote Vergissmeinnicht gilt gemeinhin als bekannter, beliebter und klassischer Eisfall im Avers. Dies kann man mit Fug und Recht so unterschreiben, ausser dass er sich eben nicht im höher gelegenen Avers befindet, sondern tiefer unten im Val Ferrera. Ob die Geografie Detail oder Wichtigkeit darstellt, überlasse ich dem Leser. Zentraler ist da schon die Tatsache, dass es Ende Januar 2015 endlich kalt geworden war und sich die Linie vom Roten Vergissmeinnicht beinahe perfekt aufgebaut hatte.
Das Rote Vergissmeinnicht (WI4+) im Avers... äähhh, Val Ferrera. Links und rechts noch weitere, kürzere Möglichkeiten. |
Auf der Suche nach einem interessanten Sonntags-Projekt zusammen mit Kathrin bin ich dann schliesslich hier stehen geblieben. Man konnte auf den einschlägigen Portalen im Internet von Begehungen in Seilschaft und im Alleingang lesen, ein italienischer Kletterer hatte gar ein ansprechendes Video produziert. Die Verhältnisse waren gut, nur eine vernünftige Taktik musste noch gefunden werden. Nach den diversen Berichten konnte man hier am Weekend nicht auf Einsamkeit zählen und früh zur Stelle zu sein war uns aus familientechnischen Gründen einfach unmöglich. Da setzten wir drauf, erst mittags einzusteigen und darauf zu hoffen, dass die anderen Seilschaften bis dahin ihr Tageswerk bereits beendet hatten.
Die Tour zum Roten Vergissmeinnicht beginnt in Ausserferrera, wo sich auch das empfehlenswerte und klettererfreundliche Gasthaus Edelweiss befindet. Parkiert werden kann am Dorfrand, entweder danach linkerhand, oder dann davor beim Steinbruch, welcher auch noch 3 interessante Übungsfälle bereithält, welche aktuell in guten Bedingungen und viel weniger überlaufen wie die Wand in Campsut sind. Für den Zustieg wählt man dann den in Dorfmitte beginnenden Weg zur Alp Nursera, läuft abwärts und überquert den Rhein. Nachdem man die insgesamt vierte Brücke passiert hat, verzweigt sich der Weg. Linkerhand steigt man zur Alp Nursera hinauf, rechts folgt man dem Rheinufer. Wir folgten dem rechten Weg über ca. 200-300m, um dann links ins offensichtlich vom Roten Vergissmeinnicht hinunterziehenden Bachbett aufzusteigen.
Dass der Zustieg in diesem Gelände mühsam sein kann, versteht sich wohl von selbst. Aktuell ist's aber kein Problem. |
Liegt entweder zu wenig oder dann sehr viel Schnee, so kann dies ziemlich mühsam sein. Wir hatten Glück, denn es lag a) schon eine gute Spur, b) hatte es genügend Schnee, um das mühsame Geröll zu verfestigen und c) war es doch nicht so viel, dass es störend war. Zum Einstieg hinauf sind rund 300 Höhenmeter zu bewältigen, wofür wir gerade etwa eine Stunde benötigten. Das ist natürlich keine Rekordzeit, doch in der Zeit enthalten ist das Montieren der Steigeisen unterwegs, diverse Kleiderwechsel und schliesslich stiegen wir auch bewusst gemütlich, um nicht zu fest ins Schwitzen zu geraten, und danach mit feuchten Kleidern beim Klettern zu frieren. Die richtige Taktik und Technik macht beim Winterklettern eben den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern.
Unsere Idee, den Fall erst zu klettern, wenn die anderen Seilschaften damit bereits fertig sind, schien perfekt aufzugehen. Schon vom Parkplatz aus hatten wir eine einzige Seilschaft in der dritten Seillänge beobachtet, bis wir näher kamen, waren sie mit dem Abseilen beschäftigt. Nur zeigte sich im letzten Moment, d.h. als wir in den spannenden Kessel mit den gelb-roten Felsen einbogen, dass ein weiteres Italiener-Team erst gerade am Einsteigen war. Da wir aber direkt dahinter folgen konnten, man eine mäandrierende Linie verfolgt und geschützte Standplätze abseits der Kletterlinie bezogen werden können, war dies schliesslich weder Gefahr noch Hindernis. Somit konnte es etwas nach 12.45 Uhr losgehen mit der Kletterei.
L1, 40m: Hier bieten sich diverse Möglichkeiten, wir stiegen schliesslich ganz rechts unten ein. Es handelt sich um eine gemütliche Aufwärmlänge mit Steilheit von 70-80 Grad im Bereich von ca. WI3+. Das Eis war teilweise etwas spröde und leicht schneebedeckt. Aber natürlich war's problemlos, und auch genussreich.
Kathrin folgt in L1, noch schön trocken und unverschneit... |
L2, 40m: Man sieht sogleich, dass es hier mit dem Serious Business losgeht. Nach ein paar ersten, noch nicht ganz so steilen Metern folgt eine rund 20m lange Passage mit anhaltender Steilheit knapp unter der senkrechten (ca. 85 Grad, WI4+). Das Eis weist hier zum Glück etwas mehr Struktur auf und bietet ein paar gute Tritte, obenraus ist's dank etwas Feuchtigkeit auch schön plastisch. Zuletzt quert man einfacher ganz an den rechten Rand raus zu Stand.
Diese anhaltend steile Mauer in L2 ist das Pièce de Resistance in der Route. |
Schneefall hat eingesetzt, so sieht es am Ende von L2 schon richtig nach Winter Climbing aus... |
L3, 30m: Dem rechten Rand entlang klettert man hier in bereits etwas älterem Eis aufwärts. Die Steilheit beträgt so um 80 Grad rum, ein kurzer, bouldriger Überhang wo man am bequemsten sogar noch 1-2 Mal auf den Fels tritt hat es auch noch (ca. WI4-). Den Stand richtet man am besten in der Arena vor der Abschlussäule ein.
Auftakt in L3 mit einer bouldrigen Stelle gleich nach dem Stand. Es ist steiler, wie es auf dem Foto aussieht. |
Schöne Tiefblicke und richtig winterliches Ambiente am Ende von L3. |
L4, 30m: Die Säule direkt anzupacken wäre ein ziemlich hartes Gerät. Man kann aber zu deren Fuss aufsteigen, und dann ausgesetzt darum herum nach links traversieren. Das Spritzwasser hat hier riesige Eisblüten und Balkone gebildet und es pfeift einfach ganz schön in die Tiefe! Zuletzt wartet dann nochmals ein Bouldermove auf einen nächsten Balkon rauf, bevor man die letzten 10m in saftig-feuchtem Eis an der Säule dem Ausstieg entgegenklettert (mehrere Meter 85 Grad, davor ein bouldriger Überhang, ca. WI4/4+).
Bottom Shot von L4, in dieser Perspektive werden Steilheit und Länge massiv unterschätzt. Auffällig die grossen Blüten links. |
Die letzten 10m zum Ausstieg an der steilen Säule sind als eher nass zu bezeichnen. Dafür super bissiges Eis! |
Etwas vor 17.00 Uhr sind wir schliesslich beide am Top. Rund eine Stunde hatten wir im Schnitt also pro Seillänge gebraucht, mit Ein- und Ausdrehen aller Schrauben, dem jeweiligen Reorganisieren alles Materials am Stand und etwas Wartezeit wegen der vorangehenden Seilschaft wäre es für Kathrin und mich kaum schneller gegangen. Umso zügiger ist dafür der Abstieg erledigt. Mit 2x60m-Seilen erreicht man vom Baum am Ausstieg mit ordentlich Luft unter dem Hintern den zweiten Stand, wo man an Abalakovs gegen den Einstieg hinabschwebt. Hält man sich etwas links und höher als unser Einstieg, reicht es mit einem weiteren Manöver gerade retour auf den Boden.
Wir halten uns nach dem Seile aufnehmen nicht mehr weiter auf und steigen mit montiertem Gear retour zum Automobil. Noch gut vor Einbruch der Dunkelheit treffen wir da ein und müssen zwischen 5 und 10cm Neuschnee von den Scheiben wischen. Hatten sich nämlich erst noch scheue Aufhellungen mit etwas Sonnenschein gezeigt, fiel im späteren Verlauf beständig Schnee. Dies hatte aber dem Genuss keinen Abtrag gebracht - es war ein genialer Tag beim Winterklettern, mit der richtigen Stimmung und dem richtigen Ambiente. Im wohl beheizten Auto konnte ich nachher darüber sinnieren, dass ich an diesem Tag dennoch kein einziges Mal gefroren hatte - weder an Körper noch an den Extremitäten. Irgendwie schon erstaunlich, hatte ich doch in meinen frühen Eiskletterjahren beständig mit Kältezittern, eisklumpigen Füssen und heftigem Kuhnagel an den Händen zu kämpfen. Vielleicht wird man mit dem Alter in dieser Hinsicht robuster, vielleicht ist das Material besser geworden, oder vielleicht habe ich inzwischen gelernt wie man die Wärme im Körper behält und so wenig wie möglich davon an die Umgebung verteilt... an einer dickeren Speckschicht rundherum liegt es auf jeden Fall sicher nicht.
Facts
Val Ferrera - Rotes Vergissmeinnicht - D+ III WI4+ - 4 SL, 140m - ****
Material: 10-12 Schrauben, die Standplätze sind nicht eingerichtet!
Sehr lohnende Eisklettertour, meiner Meinung nach eine der besten Routen in diesem Grad in der Schweiz. Das liegt daran, dass es sich hier um einen anhaltend steilen Fall mit ausgesetzter Linie handelt, welche sich dann doch vergleichsweise einfach bewältigen lässt. Mit dem kompakten Eisschild in L1, der steilen Mauer in L2, dem bouldrigen Schleichweg in L3 und der Eisblüten-Traverse mit luftigem Säulenaussstieg in L4 wird einem sehr viel Abwechslung geboten. Ebenso steht der Eisfall an einem spannenden Ort, in einem Kessel mit gelb-orange-roten Felsen. Ein weiterer Pluspunkt ist die Tatsache, dass hier (bis auf das Zusammenstürzen der ganzen Struktur) praktisch keine objektiven Gefahren drohen. Bei Sonnenschein steht der Fall bis in den frühen Nachmittag hinein in der Sonne. Somit dürfte die Saison spätestens Ende Februar jeweils zu Ende sein, Vorsicht bei Sonnenschein und Wärme! Während man mit einer 500m-Horizontaltraverse zum Weg nach Alp Nursera ohne Probleme zu Fuss absteigen kann, scheint das problemlose Abseilen hier logischer. Wer will, findet links und rechts der Hauptlinie noch weitere Möglichkeiten (jeweils 1-2 SL lang, Schwierigkeiten von WI3-WI5).
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