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Samstag, 14. November 2015

Watch your Anchor!

Über die (Un)Sicherheit von Bohrhaken in maritimem Umfeld hatte ich vor rund einem Jahr bereits berichtet. Vor rund einer Woche hat nun die UIAA, der internationale Kletter- und Bergsteiger-Verband ein Dokument veröffentlicht, welches doch schockierende Ergebnisse zutage fördert. Sollen die im Dokument ausgesprochenen Empfehlungen eingehalten werden, so sind in der Kletterszene doch ein gewaltiges Umdenken sowie einschneidende Verhaltensänderungen notwendig. Es ist sehr empfehlenswert, sich den kompletten Bericht (auf Englisch) zu Gemüte zu führen. Nachfolgend eine kurze Zusammenfassung der wesentlichsten Punkte.

Wie in meinem Blog von Dezember 2014 bereits erwähnt wurde, dreht sich das Problem um die schwer erkennbare Korrosion von sogenannt rostfreien Stählen. Leider sind alle diese Materialien im Kletterumfeld nicht zwingend beständig, sondern dem sogenannten Stress Corrosion Cracking (SCC, auf Deutsch Spannungsrisskorrosion) unterworfen. Das Problem betrifft vor allem das maritime Umfeld, d.h. Küstenregionen und bis zu 100km landeinwärts, sowie sonstwie belasteten Standorten (Industrie, Vegetation, ungünstige Mineralien im Fels, ...). Die unsichtbare Korrosion kann die Haken und Laschen so stark angreifen, dass sie bei normalen Sportkletterstürzen oder sogar nur unter Körpergewicht versagen.

Dieser Haken auf Kalymnos ist garantiert nicht mehr einwandfrei. Wie viel er wohl noch hält?
Der Bericht enthält eine Liste von Ländern, wo Hakenversagen aufgrund von SCC bereits beobachtet wurde. Die umfasst durchaus populäre Kletterdestinationen wie Thailand, Griechenland mit seinen Inseln, Italien, Sizilien, Sardinien, die balearischen Inseln, undsoweiter. Da die gefährliche Korrosion von rostfreiem Material von Auge nicht erkennbar ist, hat die UIAA eine Reihe von Empfehlungen für Kletterer verfasst. Die meisten davon sind leider zahnlos oder schwer durchzuführen, z.B. man solle das Risiko von SCC bei der Wahl einer Kletterdestination oder -route in Erwägung ziehen und Sicherungspunkte mit mobilem Material, Bäumen oder Sanduhren redundant machen. Wenn man das konkret durchdenkt, so gibt es eigentlich nur 2 mögliche Ansatzpunkte: entweder, man nimmt das Risiko bewusst in Kauf, oder verzichtet bis auf weiteres auf den Besuch von gefährdeten Gebieten.

Eine Untersuchung an einem betroffenen Fels durch Petzl habe gezeigt, dass rund 20% der Sicherungspunkte in einem (ungenannten) Sektor durch SCC dermassen angefressen seien, dass sich bereits bei einer Belastung von 1-5kN versagten (Körpergewicht bis kurzer Sportklettersturz). Ebenfalls wird der bereits von mir dokumentierte Hakenbruch beim Abseilen aus einer MSL-Route in San Vito lo Capo erwähnt. Mir persönlich erscheinen die 20% über alles eine eher hoch gegriffene Schätzung. Wären tatsächlich so viele Haken dermassen schwach, so würden aus den einschlägigen Gebieten sicherlich deutlich mehr Hakenversagen aus der Praxis bekannt. Nützen tut dies freilich wenig, denn auch wenn es nur 2% oder gar 0.2% sein sollten, ein einziger versagender Haken kann nunmal das Ende bedeuten (z.B. bei einem Sturz in den zweiten oder dritten Haken der versagt, mit Grounder in ungünstiges Gelände).

Besseres Exemplar, ebenfalls aus Kalymnos. Die Lasche ist aber auch nicht einwandfrei. Gemäss neustem Wissen ist der Fall auch hier klar, oder eben nicht. Haltekraft unbekannt, man muss davon ausgehen, dass ein solcher Bolt versagen kann.
Zündstoff beherbergen vor allem auch die neuen Empfehlungen der UIAA, da diese nun meilenweit strengere Anforderungen stellen, als sie der bisherige Gebrauch im Kletteralltag zeigen. Konkret:

  • In küstennahen Gegenden (Meeresnähe, bis 100km Inland, sonstige betroffene Standorte) sollen nur noch Materialien aus dem korrosionsbeständigen Titan oder HCR-Stähle zum Einsatz kommen. Das ist begrüssenswert, in der praktischen Umsetzung jedoch nicht einfach. Titanhaken gibt es nur als Klebehaken, HCR-Laschen bisher gar nicht, zudem kostet ein entsprechender Haken gleich ein mehrfaches wie ein "rostfreier" A4-Bohrhaken von guter Qualität.
  • In von SCC nicht betroffenen Gebieten wie z.B. den Alpen bzw. ganz Zentraleuropa soll Outdoor nur noch Material in A4-Stahlqualität (AISI 316 oder die Low-Carbon-Variante 316L) eingesetzt werden. Rostfreie Haken aus A2-Stahl oder gar verzinkte Ware sind zur Verwendung im Klettersport nicht mehr empfohlen! Der Punkt ist nur, dass sogar namhafte Hersteller von Kletter-Hardware nach wie vor kaum Produkte aus A4-Stahl anbieten. Vielerorts wird nach wie vor mit A2-Material saniert, schlimmstenfalls sogar mit noch schlechterem Material wie Zink-Inox-Gemisch wie z.B. meine Beobachtungen an der Grauen Wand von diesem Sommer zeigen.
Der Hammer kommt dann aber zum Schluss. Die UIAA benennt ganz klar, dass die Klettergemeinde hier vor einer riesigen Herausforderung steht. Aktuell stellt sich heraus, dass das in den allermeisten Kletterrouten verbaute Material den Anforderungen nicht genügt, bzw. nicht sicher ist. Dies betrifft nicht nur maritime Klettergebiete, sondern auch ganz viele andere Felsen. In einigen von meinen Reports sind z.B. die Wendenstöcke erwähnt, wo in fast allen Routen die ungünstige Zink/Inox-Mischung steckt, die nun am Ende ihrer Lebensdauer angelangt ist. 

Eine etwas andere Baustelle, aber das Problem beschränkt sich eben nicht nur auf die maritimen Gebiete, welche wir in den Ferien besuchen. In den Alpen ist zwar das Klima günstiger, d.h. SCC weniger ein Problem. Doch auch hierzulande steckt noch vielerorts komplett ungeeignetes Material wie dieser verzinkte Anker mit Inoxlasche im Simplon-Gebiet. 
Der Bericht schliesst mit der Erkenntnis, dass die Herausforderung von unsicheren Bohrhaken sicherlich nicht von einzelnen Individuen (d.h. guten Seelen) gemeistert werden kann, welche aus eigener Initiative und mit eigenen finanziellen Mitteln als Dienst an der Allgemeinheit Sicherungen warten und ersetzen. Ganz klar auf den Punkt gebracht heisst dies: "the bulk of the climbing population needs to start paying for anchors, whereas in the past most had a free ride". Es wird also nicht gehen, ohne dass sich der gemeine Kletterer finanziell beteiligt - für mich definitiv keine neue Erkenntnis. Ich bin gespannt, wie es in dieser Causa weitergeht...

Mittwoch, 10. Dezember 2014

Zur Sicherheit von Bohrhaken in maritimem Umfeld

In meinem Beitrag zu den Geschehnissen in San Vito hatte ich ja schon über die Gefahr der Hakenkorrosion in Meeresnähe geschrieben. Darauf hin ergab sich ein sehr interessanter Austausch mit Josef Werderits. Er befasste sich beruflich mehr als dreissig Jahre lang mit Fragestellungen zu Festigkeit und Sicherheit, unter anderem von Verankerungen und bei der Werkstoffwahl. Diese Mails habe ich dann zu diesem Beitrag verarbeitet. Auch wenn einiges daraus etwas technisch daherkommen mag und Hintergrundwissen erfordert, so ist es sicherlich für alle Kletterer dennoch sehr lesenswert.

Am wichtigsten jedoch dies: rostfreier Stahl korrodiert anders, als dies bei gewöhnlichem (verzinktem) Stahl der Fall ist. Es tritt nämlich in aller Regel keine üppige Rostschicht auf, sondern die sich ausbildende Schutzschicht auf dem rostfreien Material wird nur punktuell angegriffen und die Korrosion schreitet dann von dort aus fort. Man spricht in diesem Zusammenhang (wissenschaftlich ungenau) auch von "Lochfrass" oder "Spaltfrass". Somit ist die Sache äusserst heimtückisch und für Nicht-Experten nur schwerlich zu beurteilen. Was die Route Collina dei Conigli am Monte Monaco betrifft, so hat mir ein Schweizer Bergführer mitgeteilt, dass er die Route wenige Tage vor dem Hakenbruch noch geklettert habe, und diese rein optisch noch in einem vernünftig guten Zustand schienen.

Rostfreier A2-Bohrhaken von Raumer, der auf Capo Caccia / Sardinien beim Reinsitzen gebrochen ist.
Hakenbrüche aufgrund von Korriosion durch die salzhaltige Meeresluft sind ja zum Glück nicht ein alltägliches Szenario, aber doch auch nicht ganz so selten wie man vielleicht denken könnte - selbst am Mittelmeer, und nicht nur in den Tropen. Auf Planetmountain ist z.B. der korrosionsbedingte Bruch eines rostfreien Klebehakens in der Grotte von Bidiriscottai bei Cala Gonone/Sardinien dokumentiert. Weiter hat mir ein anderer Kollege (ebenfalls ein Schweizer Bergführer) von einem glimpflich ausgegangenen, durch Korrosion verursachten Bruch eines Inox-Dübels in der Route Daytona am Capo Caccia, ebenfalls in Sardinien berichtet. Dies passierte ohne Sturz, einzig durchs ins Seil sitzen am zweiten Bohrhaken der Route. Dank aufmerksamer und gekonnter Sicherung sowie einem Einzelkarabiner im ersten Haken konnte der resultierende Sturz kurz vor dem Boden aufgefangen werden... 

Nun aber zu den Angaben von Josef, editiert und vervollständigt vom Autor:

(1) Als wesentlichste Aspekte sehe ich den verwendeten Werkstoff und die „Formgebung“ (Typ, konstruktiver Aufbau) – die Themen „Felsausbruch“ und „Setzen der Haken“ sind nicht spezifisch für meeresnahe Gebiete; ich werde hier darauf auch nicht eingehen.

(2) Zum Werkstoff: Speziell möchte ich die Werkstoffproblematik am Beispiel der als Haken am häufigsten verwendeten „Spreizanker“ (manchmal auch „Spreizdübel“ oder ganz korrekt „kraftkontrolliert spreizende Dübel“) erläutern – bei diesem System ist das Thema Werkstoff auch am brisantesten.

Spreizanker-System von Petzl aus hochwertigem Material (A316L), jedoch bedenklich kurzem Anker.
(3) Spreizanker aus rostfreiem Standardwerkstoff A2 werden in Thailand in Meeresnähe nach kurzer Zeit unter Sturzbelastung brechen (man braucht dabei keine „Experten“ vor Ort zur Erforschung der Ursachen). Solche A2-Bolts (Werkstoff ist meist 1.4301, teils 1.4306 oder 1.4307) stecken zu zig-tausenfach rund ums Mittelmeer. Während Jahren bis Jahrzehnten hat man mangels besserem Wissen und mangels Verfügbarkeit anderer Materialien damit eingerichtet oder gar saniert. Am Mittelmeer ist das Klima zwar nicht ganz so aggressiv wie in Thailand, aber... 

A2-Inoxdübel im Sektor Odyssey auf Kalymnos. Solche Haken stecken auf der Insel zu Tausenden, noch scheinen sie zu halten...
(4) Der gleiche Haken aus A4-Stahl (1.4401/A316 bzw. 1.4404/A316L) wird länger halten, je nach lokalen Gegebenheiten sehe ich aber durchaus noch Bruchrisiko. Entscheidend dafür sind vor allem Feuchte, Chloridgehalt (Meerwasser), Einwirkungsdauer und Temperatur(!). Anmerkung des Verfassers: Genau, und wir Kletterer führen quasi ein Feldexperiment durch, wo ausprobiert wird, wie viel es braucht und wie lange es dauert, bis die Haken brechen. Rund ums Mittelmeer ist aber noch kein Versagen von A4-Haken bekannt!?!

A4-Anker mit A2-Plättli unmittelbar nebenan im Odyssey auf Kalymnos, die beiden Borhaken sind genau gleich alt.
(5) Seit relativ kurzer Zeit sind Spreizanker aus hochkorrosionsbeständigem Stahl (HCR, High Corrosion Resistant) als Standardprodukte erhältlich. Diese können aus Duplex-Stählen (siehe EN 10088) oder aus Superausteniten (z.B. 1.4539 - Rolex macht seine Oyster-Modelle daraus - oder 1.4547) hergestellt sein. Von Fischer und Hilti gibt es solche Anker, gemäss den in den technischen Zulassungen angegebenen Bemessungslasten handelt es sich wahrscheinlich um Superaustenite. Abgesehen von sehr wenigen (zumeist theoretischen) Fällen sollten diese Anker aus im tropisch-maritimen Umfeld dauerhaft Sturzbelastungen standhalten. Eine brauchbare Grösse der für uns relevanten Beständigkeit ist der PREN-Wert (Pitting Resistance Equivalent), der in Normen oder in den Herstellerangaben zu finden ist.

(6) HCR-Anker sind das eine, dazu sind jedoch auch HCR-Laschen notwendig! Alle Bestandteile an einem Bohrhaken müssen aus ein und demselben Werkstoff gefertigt sein, sonst stellt einem die galvanische Korrosion ein Bein - wiewohl, in freier Wildbahn findet sich die metallurgisch ungünstige Kombination von verzinkten Ankern und rostfreien Laschen ziemlich oft, wobei sich hier im Laufe der Zeit das weniger edle Material (d.h. der nicht sichtbare Anker) geschwächt wird. Nun, Laschen sind etwas aus dem Kletterbedarf, und es gibt aktuell meines Wissens noch keine HCR-Laschen zu kaufen. Duplex und Superaustenite sind jedoch als Bleche erhältlich, die Herstellung geeigneter Laschen ist damit (mit entsprechendem Wissen/Können) kein Problem.

Die galvanische Zelle, für einmal andersrum als gewohnt, aus einer Route am Gonzen. Verwendet wurde ein rostfreier Anker (vermutlich A4) und ein verzinktes Plättli. Man sieht gut, wie dieses durch galvanische Korrision geschwächt wird. Meistens ist diese ungünstige Kombination gerade andersrum montiert, d.h. ein verzinkter Dübel mit rostfreier Lasche.
Galvanische Korrision in der üblichen Variante: rostfreie A2-Lasche, kombiniert mit einem verzinkten Dübel in der Route Berghi an der Parete Nascosta im Simplongebiet. Die Mutter zeigt hier den Rost, richtig schlimm sieht der Dübel jedoch garantiert unter der Lasche und im Bohrloch aus, nur sieht man dies von aussen nicht...
(7) Zur Formgebung der Haken: Kritisch unter korrosiven Umgebungsbedingungen (Meeresnähe, durchaus auch Nähe zu bestimmten Industrieanlagen) sind Kerben, Kontaktstellen und Spalte. „Spreizdübel“ (siehe oben) weisen genau all diese Elemente auf – Korrosionsversagen ist damit natürlich besonders kritisch. (In Kommentaren wird fallweise nur von „Spannungsrisskorrosion“ gesprochen. Tatsächlich ist das Thema wesentlich komplexer – Spannungsrisskorrosion ließe sich in unserem Fall mit geringem Aufwand vermeiden, das Bruchrisiko würde dadurch allerdings nur geringfügig verringert!).

(8) Haken ohne die oben genannten „kritischen Formelemente“ sind wesentlich weniger anfällig bezüglich Korrosionsversagen, das Werkstoffthema damit auch weit weniger kritisch (als nur ein Beispiel die Haken in vor kurzem sanierte Routen im rechten Sektor der „Cala Luna“ – sehr saubere unkritische Formgebung, über den Werkstoff weiß ich leider nicht Bescheid). Unkritische Formgebung bedeutet also Klebehaken. Gelungene Lösungen sind aus meiner Sicht die geschmiedeten Anker von Petzl (BATINOX 14mm, COLLINOX 10mm). Nach meinem Wissen aus A4 bzw. A316L. Ob diese im tropisch-maritimen Umfels bei hoher Salz- und Temperaturbelastung "dauerhaft sicher" (Grössenordnung 50 Jahre) sind, kann ich nicht beurteilen. Die Klebehaken (ebenfalls aus A4) einiger anderer Hersteller halte ich aufgrund der Formgebung für den Einsatz in maritimer Umgebung für grundsätzlich nicht geeignet.

Klebehaken Petzl Collinox 10mm. Quelle: petzl.com


(9) Bei den Vorteilen von Klebehaken in Bezug auf die Korrosion des Stahls muss aber natürlich auch der Kleber in Betracht gezogen werden. Auch dieser muss "dauerhaft sicher" sein, was in aggressivem Klima längst auch nicht bei jedem Produkt gegeben ist. Zumindest will kein Hersteller eine Lebensdauer oder gar Garantie für den Einsatz am Fels im maritim-tropischen Umfeld abgeben. Somit beackert die Klettergemeinschaft hier ein weiteres Experimentalfeld.

Wer sich bis hier durchgekämpft hat, hat nun vielleicht mehr Fragen als zuvor. Immerhin sei an dieser Stelle versichert, dass Josef nichtsdestotrotz (mehr oder minder) seit über vierzig Jahren den Haken im Fels vertraut. Genau so würde ich das selber ebenfalls unterschreiben, auch wenn mir die wesentlichen Inhalte der obigen Zeilen nun schon ein paar Jahre bewusst sind. Es schadet sicher nicht, eine gesunde Vorsicht walten zu lassen. Kritisch ist beim Sportklettern oft der Bereich zwischen dem zweiten und dem vierten/fünften Haken, wo das Versagen einer einzigen Sicherung oftmals zu einem Bodensturz führen würde. Beim Umlenker ist darauf zu achten, dass zumindest zwei zuverlässig (!!!) verbundene Fixpunkte vorhanden sind, zum Topropen hängt man besser noch die obersten 1-2 Zwischenhaken ebenfalls ein. Achtung auch beim Abbauen durch Ablassen von stark überhängenden Routen (z.B. in der Grande Grotta auf Kalymnos) - irgendwann verhindert meist auch nur noch 1 Haken einen potentiell fatalen Pendler in den Boden, zudem wird die Sicherung dort auch noch ungünstig axial belastet. Im Zweifelsfall lässt man besser die letzten 2 Exen drin und holt diese kletternd raus.

Links

UIAA: Extreme Caution Advised for Anchors in Tropical Marine Areas (Web oder PDF)
Forumsbeitrag von Alan Jarvis, Delegierter der Sicherheitskommission der UIAA 
Dokument von Hilti zu Korrosion und Materialien (PDF)
DHV-Bohrhakenbroschüre (PDF, unbedingt lesen!)
Artikel über Capo Caccia auf Planetmountain

Freitag, 5. Dezember 2014

Unfall in Ponte Brolla Ost

Nicht schon wieder... mein Blog soll kein Ort werden, wo ständig über Kletterunfälle berichtet wird. Im Ostsektor von Ponte Brolla hat sich aber einer ereignet, aus welchem auch wieder das eine oder andere lernen können. Mitte Oktober stürzte ein Deutschweizer Kletterer aus rund 10m Höhe auf den Boden und verletzte sich schwer. Was ist passiert?

Gemäss den Angaben auf aquile.net stieg der Kletterer in eine Route ein, welche er nicht komplettieren konnte. Stimmen die Angaben auf dem Foto, so dürfte es sich um die Artiglio del Diavolo (6c) handeln. Der Rückzug erfolgte, indem ein dünnes Maillon von nur 4mm oder 5mm Dicke in einen einzigen BH installiert wurde. Beim Ablassen am Doppelseil öffnete sich nun die nur von Hand angezogene Schraube, wohl durch die Reibung der Seile oder durch die Vibration. Leider war die Festigkeit dieses dünnen Billig-Maillons (es handelte sich um ein nicht genormtes Baumarkt-Maillon) nicht genügend gross, so dass es aufgebogen wurde und der Sturz auf den Boden folgte.

Mit dem Doppelseil wurde an einem dünnen/kleinen Maillon abgelassen. Durch Reibung des Seils oder durch Vibrationen, unterstützt durch die Schwerkraft, öffnete sich der Verschluss. Dabei muss man sagen, dass auch etwas Pech mit dabei war. Von 4 möglichen Konfigurationen mit Anordnung des Verschlusses und Laufrichtung des Seils ist wohl nur eine einzige brandgefährlich. Foto: M. Bognuda / aquile.net
Links das Unfall-Maillon, rechts ein baugleiches, noch unbenutztes Teil. Die Festigkeit ist nur 4mm oder maximal 5mm, zudem war es kein genormtes Qualitätsstück. Gemäss Experimenten von Tessiner Kletterern verbiegt sich ein 4mm-Maillon im offenen Zustand bereits, wenn man ein Gewicht von ca. 100kg anhängt. Foto: Kantonspolizei TI, Sgt M. Castellani / aquile.net
Schauplatz des Unfalls: 1) ist die Stelle, an welcher das Maillon platziert wurde, hierbei handelt es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um einen Bolt der Artiglio del Diavolo (6c). An der Stelle 2) gab die Verankerung nach, 3) markiert die Sturzstrecke von 5-10m und 4) den Punkt des Aufpralls. Foto: Kantonspolizei TI, Sgt M. Castellani / aquile.net
Fazit:

  • Ein Rückzug soll wenn schon durch Hinterlassen eines Karabiners und nicht eines Maillons erfolgen. Dazu hatte ich schon bei meinem Text zur Festigkeit von Maillons aufgerufen. Es ist nämlich total nervig, wenn Bohrhaken schon durch Maillons belegt sind. In vielen Fällen braucht es nur wenig, und man kann die Dinger nur noch mit Werkzeug oder gar Eisensäge entfernen. Die Mehrkosten eines günstigen Schnappers gegenüber einem genormten Maillon mit ausreichender Festigkeit (8mm) sind minimal (ca. 1-2 CHF).
  • Dünne Baumarkt-Maillons sind einfach totaler Schrott, wenn schon dann verlasse man sich auf genormte Ware mit ausreichender Dicke/Festigkeit. Diese nimmt massiv ab, wenn der Verschluss offen ist. Dass man die Schraube nur mit Werkzeug zuverlässig anziehen kann ist ein weiterer Grund, dass man besser einen Karabiner anstelle von Maillons für Rückzuge verwendet!
  • Dieser Tipp ist eigentlich gar nicht nötig, weil man ja nicht auf Maillons zurückgreifen soll. Wäre dieses aber so platziert worden, dass sich der Verschluss gegen oben und nicht gegen unten öffnen muss, so wäre hier sehr wahrscheinlich nix passiert. Vibration und Seilreibung dürften fürs Öffnen des Verschlusses nur ausreichen, wenn die Schwerkraft unterstützen kann.
  • Beim Rückzug von einer zweifelhaften Verankerung wird besser abgeseilt als abgelassen. Die auf die Verankerung wirkende Kraft ist beim Ablassen theoretisch doppelt so gross wie beim Abseilen. Die dynamisch auftretenden Kraftspitzen dürften den Faktor 2 sogar eher noch übertreffen, weil es beim Ablassen entsprechend schwierig ist, eine gleichmässige Belastung zu erreichen.

Sonntag, 23. September 2012

Fixe Exen: bequem, aber gefährlich!

Am 22. September 2012 hat sich im Klettergarten Magletsch, in der Route Dr. Tabu (7b+) ein tödlicher Unfall durch einen Seilriss ereignet (Pressebericht). Ganz bestimmt die Horrorvorstellung für alle, die im Fels unterwegs sind. Wie kann so etwas heutzutage, trotz moderner Materialien, passieren? 

Das ist ein Blick auf die Route Dr. Tabu (7b+) im Magletsch. Bild: M. Dettling
Natürlich muss die Unfallursache in einer polizeilichen Untersuchung erst hieb- und stichfest abgeklärt werden. Somit kann hier keine definitive Antwort erfolgen. Ich erachte es aber als sehr wichtig, auf eine Gefahrenquelle hinzuweisen, die selbst bei einem fabrikneuen Seil zum Riss führen kann, und der ich mir (wie bestimmt viele andere) bis dato nicht in diesem Ausmass bewusst war: nämlich fixe Expressschlingen, welche durch die ständige Seilreibung eingeschliffen werden. Es ist gut vorstellbar, ja aufgrund der Indizien sogar wahrscheinlich, dass dies im aktuellen Fall die Ursache war. Doch auch wenn es nicht so sein sollte: in Zukunft ist bei fixen Exen höchste Vorsicht angebracht!

Die Route Dr. Tabu ist enorm (ca. 10-15m) überhängend und mit fixen Expressschlingen ausgerüstet. Somit entfällt nach einer Begehung das in diesem Gelände mühsame und auch nicht ganz ungefährliche Abbauen des Materials und dank korrekt eingestellter Schlingenlänge stellt sich auch weniger Seilzug ein. Die fixen Karabiner unterliegen aber einer starken Abnutzung. Zumindest teilweise war dies sicher schon bei meiner Begehung im Frühling gegeben. Ich nahm das höchstens als etwas suboptimal war, einer besonderen Gefahr war ich mir jedoch nicht bewusst. Erst kürzlich hat Bruno in einem Kommentar auf die eingeschliffenen Fixexen hingewiesen, mir war das ja nicht einmal eine Erwähnung wert!

Gemäss einem Artikel in bei klettern.de der Unfallkarabiner aus der Prager Kletterhalle. Bild: CHS / klettern.de

Weltweit sind bisher erst einige wenige Unfälle aufgrund von Seilrissen durch eingeschliffene Karabiner bekannt. Dokumentiert ist einer aus einer Prager Kletterhalle, der, da noch bodennah, glimpflich ausgegangen ist. Auch aus der Red River Gorge / USA wurde ein Seilriss aufgrund eines eingeschliffenen Karabiners gemeldet. Dies hat die Leute bei Black Diamond dazu veranlasst, Versuche auf der Sturzanlage zu machen. Resultat: selbst ein fabrikneues Seil riss bei einem normal harten Sportklettersturz über einen eingeschliffenen Karabiner, welcher aus einer Sportklettertour in freier Wildbahn entfernt wurde. Das zeigt, wie brisant das Thema ist!

Die Abnutzung fixer Karabiner ist besonders gefährlich, wenn die Belastung unter einem stumpfen Winkel erfolgt, d.h. das Seil zwar Druck auf den Karabiner ausübt, aber nur wenig umgelenkt wird. Mit anderen Worten: wenn es fast gerade hindurchläuft. Das ist jeweils insbesondere bei der ersten Exe der Fall, und weiter oben bei jenen, die etwas ausserhalb der Linie stecken. In der Dr. Tabu treffen diese ungünstigen Kriterien gleich bei mehreren Schlingen ein.

Dieser eingeschliffene Fixkarabiner aus einer Sportkletterroute hat das fabrikneue Seil in einem Test zerschnitten. Bild: blackdiamondequipment.com
Was können wir für die Zukunft lernen? Bei fixen Exen ist grösste Vorsicht angebracht. Wenn man sich nicht sicher ist, dass der Karabiner keine scharfen Kanten aufweist, so platziert man besser eine eigene Schlinge und hängt das Seil gar nie in den fixen Karabiner ein. Beobachtet man einen eingeschliffenen Karabiner, so entfernt und ersetzt man diesen am besten sofort. Idealerweise mit einem Stahlkarabiner (z.B. einem solchen hier), welche sich durch eine viel geringere Abnutzung durch Seilreibung auszeichnen. Es wäre schön, wenn möglichst viele Kletterer hier mitarbeiten und für ihre eigene Sicherheit und die der Kameraden sorgen.


Dienstag, 12. Juni 2012

Maillon Rapide

Sie sind allgegenwärtig, wenn man klettert: Schraubkettenglieder, bekannt unter dem französischen Namen Maillon Rapide, oder dem englischen Quick Link. Über die Haltekräfte dieser Schraubglieder herrscht aber weitherum Unwissen, oder vielleicht auch nur Konfusion. Ganz so einfach ist es aber tatsächlich nicht, hier der Versuch einer Klärung.

Wir wollen einmal die Maillons von Péguet betrachten, das ist DER Hersteller dieser Teile. Schon da ist die Sache etwas kompliziert, da im Prinzip baugleiche Schraubglieder in zwei Versionen geliefert werden. Nämlich einerseits "nur" selbstzertifiziert, und andererseits mit der Norm EN 12275, welche den Einsatz solcher Teile im Bergsport regelt. Das Bild unten zeigt die beiden Versionen mit den eingeprägten Informationen.

Maillons Rapides von Péguet mit eingeprägten Informationen
Bei der selbstzertifizierten Version (oben) ist die Nutzlast (WLL, Working Load Limit) angegeben. Für Teile, welche nicht im Klettersport eingesetzt werden, ist die Angabe der Nutzlast der Standard. Wichtig ist nun zu wissen, dass diese nicht gleich der Bruchlast ist. Péguet errechnet nämlich WLL=Bruchlast/5, d.h. die Bruchlast des abgebildeten Maillons liegt bei 5*770=3850kg, was einer Kraft von rund 38kN entspricht, viel mehr als ausreichend für jeden Klettersturz mit einem dynamischen Seil.

Ein anderes Maillon (unten), welches nach EN 12275 für den Bergsporteinsatz zertifiziert ist, hat jedoch nicht die Nutzlast, sondern die Bruchlast angegeben. Diese beträgt auf der langen Achse 25kN, auf der Querachse 10kN. Genau gleich wie bei Karabinern ist also auch bei Maillons die Querbelastung kritischer, wenngleich die Kraft von 10kN bei einem Klettersturz kaum je überschritten werden dürfte. Natürlich hängen die Bruchlasten stark vom Durchmesser und auch vom verwendeten Werkstoff ab, die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht.

Verzinkt

6mm: Nutzlast 400kg, Bruchlast 2000kg, bzw. 20kN
8mm: Nutzlast 700kg, Bruchlast 3500kg, bzw. 35kN
10mm: Nutzlast 1100kg, Bruchlast 5500kg, bzw. 55kN
12mm: Nutzlast 1500kg, Bruchlast 7500kg, bzw. 75kN

Inox

6mm: Nutzlast 650kg, Bruchlast 3250kg, bzw. 32.5kN
8mm: Nutzlast 1100kg, Bruchlast 5500kg, bzw. 55kN
10mm: Nutzlast 1800kg, Bruchlast 9000kg, bzw. 90kN
12mm: Nutzlast 2500kg, Bruchlast 12500kg, bzw. 125kN

Verschiedene Formen, verschiedene Durchmesser, verschiedene Hersteller. Was taugt, und was taugt nicht?
Nun, so weit so gut. Wir konstatieren also, dass selbst ein verzinktes 6mm-Maillon von Péguet eine Bruchlast in ähnlichem Rahmen wie ein Kletterkarabiner aufweist. Man muss sie daher nicht als kritisches Element in der Sicherungskette betrachten. Doch Vorsicht:

  • Bei Querbelastung weisen alle Maillons (gemäss Angabe von Péguet) unabhängig von Werkstoff und Durchmesser eine Festigkeit von nur 10kN auf. Aber gut, bei Karabinern ist dies nicht anders, bzw. der Wert mit meist nur 7kN sogar noch tiefer.
Noch schlimmer: nicht alle Maillons Rapides, welche man in freier Wildbahn antrifft, kommen aus der Schmiede von Péguet. Der findige Kletterer, welche diese günstig erstehen will, kauft im Baumarkt. Weil Nutz- und Bruchlast von der verwendeten Stahlqualität und der Fertigungsweise abhängen, sind billigere No-Name-Teile in der Regel auch weniger stabil. Oft ist auch fraglich, was die aufgeprägten Werte, falls überhaupt vorhanden, bedeuten. Eine kurze Analyse von aufgefundenen und entfernten Rückzugs-Maillons anderer Kletterer zeigt solche ganz ohne Prägung, dann auch Dinge wie "max. 400kg", etc.. Nun einige Hinweise für die Praxis:
  • Wenn Du Maillons für den Klettereinsatz kaufst, so erstehe bitte Teile von einem namhaften Hersteller, bei welchen die Bruchlast bekannt ist. In einem gut sortierten Fachgeschäft (Bergsport, Speleo oder Eisenwarenhandel) wird dies der Fall sein.
  • Auch wenn die Bruchlast von Markenware selbst bei 6mm Durchmesser ausreichend ist, so ist es in der Praxis doch sinnvoll, Maillons mit mindestens 8mm Durchmesser zu verwenden. Auch wenn diese etwas schwerer und teurer in der Anschaffung sind.
Noch viel wichtiger: ist auf einer Kletterroute, mitten in einer Seillänge, ein Rückzug fällig, so verwende bitte nicht ein Maillon an einem Zwischenbohrhaken! Das ist ein egoistisches Verhalten, welches von wenig Sachverstand zeugt. Denn der nächste Kletterer muss beim Klettern entweder erst das Maillon herausfummeln oder seinen Karabiner darin einhängen. Um so mit gutem Gewissen weiterklettern zu können, müsste man erst Durchmesser und Prägung feststellen, was in der Praxis logischerweise kaum möglich ist. Die Maillons sind schon bei Temperaturschwankungen und etwas Korrosion kaum mehr ohne Werkzeug zu entfernen, oft hilft sogar nur noch aufsägen. Also: bitte verwende bei einem Rückzug auf der Seillänge stets einen alten Karabiner, welcher von nachfolgenden Kletterern problemlos wieder entfernt werden kann. Die Preisdifferenz gegenüber einem genügend dicken Maillon Rapide aus dem Fachgeschäft ist auch vernachlässigbar.

Wenn Rückzug, dann so, mit einem alten Karabiner. Bei diesem Bolt allerdings bestimmt nicht ohne Herzklopfen...
Gegen das Ausrüsten von Standplätzen und Abseilpisten mit Maillons ist hingegen nichts einzuwenden. Doch bitte setze auch hier, wie erwähnt, Markenware mit ausreichendem Durchmesser ein. So, nun hoffe ich, dass dieser Beitrag etwas Klarheit in den Maillon-Dschungel gebracht hat. Zum Schluss noch folgende Anekdote: ein grosses Schweizer Bergsport-Fachgeschäft verkauft zwar (immerhin!) Qualitäts-Maillons von Péguet, allerdings wird die Nutzlast als Bruchlast angegeben (Screenshot)... ob daraus etwa zu schliessen ist, dass  dort die Version ohne Bergsport-Norm EN 12275 verkauft wird? Sonst wäre ja nicht die Nutzlast eingeprägt, sondern die Bruchkraft. Na ja, wie auch immer, wir wissen ja nun über die Beständigkeit der Maillons Bescheid.

Samstag, 12. Mai 2012

Mathematik des Schlappseils

Die Diskussion ist altbekannt, bei Könnern sieht man es immer wieder: viel Schlappseil, weil dies einen allfälligen Sturz beim Klettern weicher und damit angenehmer mache. Aber ob das auch wirklich stimmt? Einfache Physik liefert eine ziemlich konkrete Antwort, und die lautet nein!


Einfache Physik

Um die Sache einfach zu machen, betrachten wir ein konkretes Szenario. Der Kletterer befindet sich auf 10m Höhe, mit dem Anseilknoten über der letzten Sicherung. Nun kommt es zum Sturz. Wir betrachten die beiden Fälle:
  • Ohne Schlappseil: die Sturzstrecke beträgt 2m, bis die Wirkung des Seils einsetzt und damit der Abbremsvorgang beginnt. Der Sturzfaktor beträgt also 2m/10m=0.2.
  • Mit 2m Schlappseil: das nutzlose Schlappseil wird einfach durchgezogen, bis der Bremsvorgang beginnt. Die Sturzstrecke beträgt also 4m anstatt nur 2m. Der Kletterer weist, bevor das Seil zu bremsen beginnt, doppelt so viel kinetische Energie und eine gut 40% höhere Geschwindigkeit auf. Anstatt 10m Seil wie vorher sind jetzt 12m Seil vorhanden, welche die Energie aufnehmen können. Der Sturzfaktor beträgt 4m/12m=0.33
Ohne Zweifel führt also unnötiges Schlappseil nicht nur zu längeren Sturzstrecken, sondern auch noch zu härteren Stürzen. Schlussfolgerung aus dem obigen, einfachen physikalischen Ansatz: Schlappseil macht einen Sturz nicht angenehmer, sondern bietet nur ein zusätzliches Gefahrenpotential.


Instruktionen zum sicheren (Hallen)klettern: in Bodennähe wenig Schlappseil geben! Quelle: DAV


Die Realität

Die obige Argumentation mit den Sturzfaktoren beinhaltet die Annahme, dass alleine das Seil die Sturzenergie aufnimmt, und dies erst noch konstant über dessen ganze ausgegebene Länge zwischen Anseilknoten und Sicherungsgerät. Das ist in der Praxis so sicher nicht erfüllt. Welche Aspekte sind bzgl. Schlappseil in der Realität also auch noch zu beachten?

  • Die reale Physik ist deutlich komplizierter: v.a. die Reibung des Seils dürfte da der wesentliche Faktor sein. Am meisten Energie wird vom Seilstück zwischen Umlenkpunkt und Anseilknoten aufgenommen. Gegenüber diesem Referenzpunkt sind die Stürze 2m in 1m Seil (ohne Schlappseil) und 4m in 3m Seil (mit Schlappseil). Dieser Vergleich ginge also sogar zu Gunsten des Schlappseils aus. Der wahre Sturzhärtenunterschied (welch ein Wort...) dürfte also wegen der Seilreibung kleiner sein, als das einfache physikalische Modell vorschlägt. 
  • In der Realität, d.h. mit einem Menschen als Sicherungsperson, wird nicht statisch gesichert, sondern es gibt stets eine Bewegung des Sichernden in Richtung des ziehenden Seils. Je grösser diese ist, desto dynamischer ist der Abbremsvorgang, und desto weicher wird der Sturz empfunden. Es ist nun vorstellbar, dass der kürzere Sturz ohne Schlappseil den Sichernden noch nicht wesentlich aus dem Gleichgewicht bringt und er quasi statisch sichert, wohingegen ihn der grössere Sturz mit Schlappseil zur Wand hinzieht. Verstärkt wird dieser Effekt, dass sich Sichernde, die viel Schlappseil geben, meist auch weiter weg vom Wandfuss aufhalten und dementsprechend beim Sturzabbremsen den weiteren Weg zurücklegen.
  • Ein Klettersturz hat nie nur eine vertikale Komponente, sondern es gibt stets auch eine horizontale Bewegung zur Wand hin. Bei ungünstig wenig Schlappseil und damit Bewegungsfreiheit "im Flug" kann diese deutlich höher sein als ohne. Da bei Sportkletterstürzen in einigermassen steilem Gelände meist der Anprall an die Wand (=horizontale Komponente) problematisch ist, dürfte zusätzliches Schlappseil oft als angenehmer empfunden werden.
Fazit

Während die einfache Physik die klare Antwort "vermeide jegliches Schlappseil" liefert, muss die Sache in der Realität differenziert betrachtet werden. Der theoretisch errechnete Sturzhärtenunterschied dürfte nämlich meist kleiner sein, als die einfache Physik vorgibt. Und in weniger steilem Terrain kann zu enge Sicherung sogar einen unangenehmen Peitscheneffekt hervorrufen, so dass man zum Sturzende mit hoher Horizontalgeschwindigkeit an die Wand geknallt wird.

Was lernen wir daraus? Wohl in etwa das, wie es durch erfahrene Kletterer gehandhabt wird. Befindet sich der Kletterer noch in Bodennähe oder droht ein Sturz auf ein Band, so wird so eng wie möglich gesichert, so dass ein Sturz auf den Boden bzw. das Band soweit möglich verhindert wird. Hat der Kletterer eine gewisse Höhe (~8-10m) erreicht, so ist in idealem Sturzgelände etwas Schlappseil nicht so kritisch. Auf jeden Fall soll der Kletterer genügend Bewegungsfreiheit beim Moven und Einhängen haben, und auch ein allfälliger Peitscheneffekt beim Sturz soll ausgeschlossen werden.

Ich handhabe das in der Praxis so, dass ich mich, wenn der Kletterer auf den ersten Metern unterwegs ist, sehr nahe an der Wand positioniere und kaum Schlappseil gebe. Befindet sich der Kletterer nicht mehr in Gefahrenzone für einen Grounder, so positioniere ich mich in bequemem Abstand zum Wandfuss, ohne aber noch meterweise Schlappseil zu geben. Dies hat gleich mehrere Vorteile: Stürze werden weich abgefangen, rasches Seilgeben zum Einhängen lässt sich mit zwei, drei Schritten zur Wand hin subito und ohne Seil durch Sicherungsgerät zu ziehen bewerkstelligen und nicht zuletzt kann man den Kletterer so in nackenschonendem Modus auch besser beobachten.

Kommentare, Gedanken und Ergänzungen sind erwünscht!