Während man global ganz eindeutig sagen darf, dass wir uns für die Ferien eine gute Ecke der Alpen ausgesucht hatten, so scheint doch auch im Süden nicht ganz immer die Sonne. Nach einer Nacht, in der es pausenlos geschüttet hatte und die Blitze beinahe im Sekundentakt zuckten, war zuerst einmal ein Alternativprogramm zum Klettern gefragt. Weitere Schauer folgten nämlich am Vormittag und sowieso waren noch alle Felsen nass.
Die Wand über den Dächern von Mese bei Chiavenna mit dem Routenverlauf.
Doch es dauerte nicht lange, bis der Nordwind die Wolken vertrieben hatte und blauem Himmel Platz machte. Mit dem Föhn waren auch die Felsen rasch trocken und so war's für diejenigen, die das Reissen hatten problemlos möglich, noch rasch eine MSL-Tour zu begehen. Unsere Wahl fiel auch den Plattensektor von Mese, welcher sehr einfach zugänglich ist. In 2-3 Minuten ist man vom Parkplatz am Fels und vom Top dank bequemem Fussabstieg in 10 Minuten wieder retour beim Auto. Während sich die meisten Routen vor Ort im Bereich zwischen 5c-6b abspielen, wählten wir mit der Condotta Libera (5 SL, 5a) die einfachste Variante.
MSL-Kletterei in urbanem Ambiente, dafür mit sehr kurzem Zustieg.
Plattenbewertungen sind ja ein bisschen eine Sache. Nachdem ich nun einige Male im Plaisirbereich unterwegs war, fällt mir vor allem doch eine massive Inhomogenität auf. Was einerorts bei durchschnittlicher Bewertung mit 5a angeschrieben ist, kann anderswo auch nur 4b bewertet sein, während mit Soft Grades eine 5c fällig ist. Anyway, hier dünkten mich die Schwierigkeitsgrade so auf der durchschnittlich bis leicht harten Seite. Insbesondere in der ersten 3c kann man definitiv nicht einfach nur hochspazieren, in den beiden 5a musste ich definitiv sorgfältig und geplant antreten. Die gemäss Topo letzte Länge ist dann über 50m lang (Zwischenstand möglich) und enthält eine super lässige, ausgewaschene Rinne.
Facts
Placche di Mese - Condotta Libera 5a (4b obl.) - 5 SL, 150m - **; xxx
Material: 1x50m-Seil, 8 Express
Nette Plattenkletterei mit sehr kurzem Zugang und einem raschen Fussabstieg. Ideal für den kleinen "Gluscht" oder für etwas Bewegung auf der Vorbeireise. Bis auf die letzte Seillänge ist die Kletterei trotz der moderaten Bewertung nicht banal. Die Absicherung mit sinnvoll platzierten Inox-BH ist gut ausgefallen. Mit Ausnahme der enger eingebohrten L1 (die auch als Baseclimb machbar ist) scheinen mir die Abstände für einen Kindervorstieg aber doch zu fordernd. Nähere und topaktuelle Infos zu den Klettertouren vor Ort findet man am Infoboard unterhalb der Einstiege oder im sehr empfehlenswerten Führer Valchiavenna Rock Climbing von Guido Lisignoli.
Die Gegend um Chiavenna ist eine etwas alpiner ausgefallene Kopie des Tessin. Hier findet man unscheinbar und in den Wäldern versteckt zahlreiche Klettergärten in bestem Gneis, es gibt plattige Plaisir-Klettereien, steile Wände und selbst ins Bergell, das Schweizer Granit-Eldorado, ist es nicht weit. Kommt noch hinzu, dass auch das Val di Mello und die Engadiner Kalkgebiete gut erreichbar sind. Darüber hinaus überzeugen die Vorzüge des südlich geprägten Wetters und eine zwar äusserst kurvige, dafür auch staufreie Anfahrt über den Splügenpass.
Die Wand mit dem Routenverlauf
In Acquafraggia auf dem Campingplatz von Guido Lisignoli, dem Haupterschliesser der vielen Klettereien in der Gegend, wollten wir einen ersten Teil unserer Sommerferien verbringen. Das Programm sollte aus einem guten Mix zwischen Sportklettern und MSL-Klettern mit den Kindern bestehen - natürlich nebst all den spassigen Nebenaktivitäten, welche in den Ferien sonst noch Platz haben, jedoch nicht unbedingt Teil eines Kletterblogs sind. An einem Tag, der bewölkt startete, wollten wir das Limit ausloten und stiegen in die Mamma Mia (5 SL, 6a) ein. Diese wurde erst im 2016 von Guido Lisignoli an den Wänden von Acquafraggia erschlossen, verläuft unmittelbar neben einem Wasserfall und ist vom Camping in ca. 10 Minuten zu Fuss zu erreichen.
Installation auf dem Spielplatz unterhalb der Wand. Fragen zu Ethik und Sicherheit lassen wir mal aussen vor...
L1, 35m, 5c: Noch nicht ganz so steile Kletterei ohne anhaltende Schwierigkeiten. Einige Stellen sind jedoch durchaus schon als knifflig zu bezeichnen, da der dunkle Fels hier doch ziemlich glatt ausgefallen ist.
L2, 40m, 6a: Kurz geht's durch den Dschungel und in einem speziellen ausgewaschenen Fels mit vielen runden Mulden steil aufwärts. Das Gestein ist vom Wasser poliert, stellenweise jedoch etwas staubig, was die Kletterei glitschig und anspruchsvoll macht. Der Ausstieg über eine steile Dreckpassage (gut mit BH abgesichert) fordert dann den richtigen Alpinisten - da kam mir meine Erfahrung aus Jugendzeiten in den Wäldern des Tössberglandes sehr zu Gute.
Ein Eindruck der Gegend, aufgenommen vom Campingplatz. Die Wand mit der Route befindet sich noch etwas rechts der beiden markanten Acquafraggia-Wasserfälle und ist auf dem Bild (obwohl in nur 10 Minuten von diesem Punkt zu erreichen) nicht wirklich gut sichtbar.
L3, 30m, 6a: Eine wirklich sehr spezielle Länge! Sie beginnt leicht überhängend, der Fels ist aber total irre strukturiert. Irgendwie eine Mischung zwischen korsischer Tafoni-Kletterei und Kalymnos-Sintern, ein geniales Turnfest.
L4, 20m, 6a: Der Auftakt beinhaltet nochmals eine ähnliche Passage wie in der Länge zuvor, wenn auch nicht ganz so steil. Dann kurz nach rechts und da ist schon der nächste Stand. Kam mir etwas weniger anspruchsvoll wie L2 und L3 vor.
L5, 25m, 6a: Hier geht's nicht mehr ganz so steil zu und her, das Gestein ist wieder etwas weniger strukturiert und glatter, mit kniffligen Sloperproblemen. Gegen Ende hin auch wieder etwas alpin bzw. bewachsen, an einer Stelle kurz vor Schluss musste ich doch tatsächlich auf harter Erde auf Reibung antreten ;-). Nach 25m erreicht man einen Stand, von wo man über die Route abseilen könnte. Hinauf ins flachere Gelände ob der Wand sind es weitere 10m.
Der gut versicherte Abstieg ist für sich selbst sehr sehenswert.
Tatsächlich hatten wir schliesslich alle zusammen den Ausstieg erreicht - es war jedoch anspruchsvoller wie gedacht. Die Kinder mussten hier an ihre Grenzen gehen. Während dieser Schwierigkeitsgrad bei Plattenkletterei beinahe mühelos von der Hand geht, so war diese steile, athletische und auch ausgesetzte Wand doch eine neue Erfahrung, auch wenn Steilheit und Schwierigkeitsgrad aus Garten und Halle nicht komplett unbekannt waren. Wir machten uns schliesslich an den Fussabstieg. Dafür muss man noch etwa 100hm durch etwas dschungeliges Gelände ziemlich genau gerade hinaufsteigen (zu Beginn leicht rechtshaltend). Dort trifft man auf den Pfad, welcher ins alte Bergdorf Savogno hinaufführt, bzw. an den Wasserfällen vorbei zurück zum Ausgangspunkt. Die Sache ist sehenswert und würde sich auch ohne zu Klettern lohnen! Zurück in der Zivilisation kommt man als erstes gleich an der Bar vorbei, wo man kühle Getränke, etwas zum Zmittag, Gelati und Caffè erhält. Ein würdiger Abschluss von dieser Familienkletterei. Daneben kann man sich auch gleich noch in den schönen Becken des Bachs abkühlen, was will man noch mehr?!?
Badespass gleich unterhalb der Wasserfälle, eine willkommene Erfrischung!
Facts
Acquafraggia - Mamma Mia 6a (5c obl.) - 5 SL, 160m - G. Lisignoli 2016 - **;xxxx
Material: 11 Express, fürs Abseilen oder Rückzug 1x70m oder 2x50m-Seile
Interessante Kletterei durch die steile Wand neben einer Kaskade. Sie besticht vor allem durch die teils wirklich phänomenale Felsstruktur, die einen Henkelgenuss sondergleichen ermöglicht. Die Steilheit der Linie ist für den Schwierigkeitsgrad ebenfalls aussergewöhlich. Leider ist die Wand auch etwas botanisch, hin und wieder muss man auf Dreckpodeste hinaufmanteln und teils ist der Fels auch staubig, dreckig oder brösmelig. Trotz der sehr guten Absicherung mit tadellos platzierten Inox-BH erhält die Sache doch einen etwas abenteuerlichen Anstrich, der den reinen Genusskletterer vielleicht nicht restlos zu überzeugen vermag. Ein super Topo gibt's gratis vom Erstbegeher: klick!
Gregor Benisowitsch ist ein Urgestein der Schweizer Sportkletterszene, bereits in den 1970er-Jahren bewältigte er schwierige Stellen in freier Kletterei, sei es an den Aiguilles de Chamonix oder am Uetliberg. Ein Highlight stellen natürlich seine Erstbegehungen im Bockmattli zusammen mit Martin Scheel dar, u.a. Supertramp, Freetrip und Andromeda. Darüber hinaus machte er sich in seiner beruflichen Karriere als Experte für die strafrechtliche Beurteilung von Bergunfällen einen Namen. Auch heute noch ist er ein aktiver Kletterer, der immer noch weiss, wie man harte Moves zieht. Er hat mir die folgenden Infos zu den Blöcken am Flüelapass zur Verfügung gestellt - er würde sich über den einen oder anderen Mitstreiter beim Putzen und Klettern sicher freuen.
Gregor in der Königstraverse (Fb 6C/7A) auf der Prado Rocco, hinten das Flüela Wisshorn.
Die Blöcke befinden sich in traumhafter Landschaft auf der Davoser Seite vom Flüelapass im Gebiet Karlimatten, unmittelbar bei den kleinen Seelein bei P.2241 (siehe Karte). Der Zustieg vollzieht sich von der Wägerhütte, wo man auch zur Skitour auf das Flüela Wisshorn aufbricht und dauert keine 30 Minuten. Gregor hat das Gebiet Prado Rocco (d.h. Felsenwiese) getauft. Der grosse Block heisst Oncha. Die markanteste Linie ist die Königstraverse, welche von rechts nach links führt und dabei immer schwieriger wird. Die Bewertung bewegt sich im Bereich Fb 6C/7A. Weiter gibt's den Block Marella, dessen überhängende Welle schwer zu knacken ist und ein noch ungeklettertes Projekt darstellt. Auch sonst gibt's noch eine Menge zu tun, Gregor plant das Gebiet nach der Schneeschmelze weiter zu bearbeiten.
Eine weitere Impression aus der Königstraverse (Fb 6C/7A).
Der Block Marella mit seiner überhängenden Welle, ein noch ungeklettertes Projekt.
Karte mit Lage der Blöcke. Quelle: map.geo.admin.ch
An der Gamstrittplatte in der Sulzfluh Ostwand, die in einer sehr schönen Berggegend oberhalb von Partnun im Rätikon liegt, hatte ich bei unserem letzten Besuch das Potenzial für eine schöne, direkte und gut abgesicherte Plaisirkletterei entdeckt. Zudem war es schon lange eine Idee von mir, einmal mit und für die Familie eine Route zu erschliessen. Nachdem ein sonniger Samstag angekündigt war, ging's los - tatsächlich konnte das Projekt erfolgreich realisiert werden, auch wenn wegen der aufgebrauchten Bohrmaschinen-Akkus zum Schluss noch etwas mühselige Handarbeit vonnöten war.
Die eindrückliche Ostwand der Sulzfluh von Partnun aus gesehen - eine wunderschöne Berglandschaft.
Der Zustieg beginnt oberhalb von St. Antönien beim P6 in der Nähe von Äbi (ca. 1620m, 6 CHF/Tag, Münzen bereithalten). Zuerst geht's hinauf zum Berggasthaus Alpenrösli in Partnun. Anstelle vom direkter verlaufenden Wanderweg zur Sulzfluh oder der am Hang mäandrierenden Güterstrasse wählten wir dieses Mal den Weg am Partnunsee vorbei. Dieser dünkt mich abwechslungsreicher und schöner, er ist weniger der sengenden Morgensonne ausgesetzt und dauert zeitlich kaum länger. Mit meinem schwer bepackten Rucksack musste ich allerdings Acht geben, damit ich meinem topmotivierten, 6-Jährigen Bohrlehrling überhaupt folgen konnte. Nach einer Stunde waren wir (ich für meinen Teil ziemlich verschwitzt) am Einstieg angelangt, der Wanderweg zur Sulzfluh führt unmittelbar daran vorbei.
Bereits der Zustieg bietet ein atemberaubendes Ambiente.
Vorgesehen hatte ich, dass ich mich umgehend an die Bohrarbeit machen würde, während die Familie erst ein Picknick geniesst, die Höhlen der Umgebung erkundet und danach die ersten beiden Seillängen am Stück nachsteigt. Doch mein Sohn gab mir klar zu verstehen, dass er seinen Job darin sähe, diese Route mit mir gemeinsam einzurichten - und "gemeinsam" heisst eben nicht aus der Ferne am Wandfuss zuschauend, sondern am scharfen Seilende den Schalter des Bohrhammers bedienend. Nun denn, nachdem ich genügend und lange Seile mit im Gepäck hatte, konnte ich ihm von weit oben ein Toprope installieren. Dass er im Vorstieg mit allem Gerät herumhantiert schien mir dann doch noch etwas zu gewagt, obwohl er das natürlich "genau so gut wie Papi" gekonnt hätte. So ging es dann im Teamwork. Wir berieten über Hakenposition, ich setzte den Bohrer an, er vervollständigte das Loch, blies es aus. Für das Einschlagen des Ankers und die Endkontrolle war dann wieder ich zuständig, während er mit dem Ringschlüssel festzog.
Teamwork am ersten Haken, nachher rüsteten wir uns noch etwas besser für die gemeinsame Arbeit aus.
Tja, dumm nur, dass nach 28 Bohrlöchern dieses Mal finito mit der Akkuladung war. Ich war mir schon im Vornhinein bewusst, dass es knapp werden könnte. Schliesslich sind meine Akkus jedoch in den letzten Jahren auch gealtert. An den Wendenstöcken in der Zambo hatte ich dereinst noch deutlich über 30 Löcher zustande gebracht. So blieb mir dann nichts anderes übrig, als die 2 verbleibenden Löcher von Hand zu bohren. Die Familie schickte ich abseilend in die Tiefe, sie wurde zu einer Ruderbootsfahrt auf dem Partnunsee und dem Besuch vom Gasthaus abdetachiert. Wie erwartet war es dann eine zähe und zeitaufwändige Sache, diesen beiden Löcher von Hand zu klopfen. Meinen höchsten Respekt vor jenen, welche in den 80er-Jahren vor dem Bohrmaschinen-Zeitalter ihre Routen erschlossen haben. Noch vor dem befürchteten Gewitter und dem Einnachten wurde ich aber fertig und folgte meiner Familie. Erneut wartete die spassige, 6km lange Trottinett-Abfahrt nach St. Antönien, welche den gelungenen Tag ideal abrundete.
Am idyllischen Partnunsee hat's drei Ruderboote zur Benützung, mehrere Grillstellen und Baden kann man auch :-)
Facts
Sulzfluh Ostwand - Sunshine Reggae 5b (4c obl.) - 3 SL, 100m - Familie Dettling 2017
Material: 12 Express, 1x60m oder 2x50m-Seile
Hübsche Plaisirkletterei mit einem Schuss alpinem Ambiente, in atemberaubender Berglandschaft gelegen. Drei Seillängen von 35m/35m/30m Länge führen über die Gamstrittplatte, welche besten Rätikonfels aufweist und interessante Kletterstellen an Wasserillen und griffigen Wandstellen bietet. Die Route ist sehr gut mit goldgelben Fixé-Bohrhaken abgesichert und (zur Zeit) am Einstieg angeschrieben. Zusätzliche Sicherungsmittel sind nicht erforderlich und in diesem kompakten Fels auch kaum einsetzbar. Mit einem 60m-Einfachseil kann "tout juste" an Kettenständen über die Route abgeseilt werden, mit Doppelseil geht dies natürlich ebenso. Ein Fussabstieg vom Top ist durch Queren im exponierten Schrofengelände zum Sulzfluh-Wanderweg wohl möglich, aber zeitlich nicht schneller und ohne entsprechende Erfahrung in solchem Gelände wenig empfehlenswert. Weitere Informationen zum Gebiet und den Kletterrouten in der Umgebung findet man im Kletterführer Rätikon Süd von Panico, der bei Bächli Bergsport erhältlich ist.
Das Topo zur Route. Besten Dank an Bächli Bergsport für den Support!
Der Silbergeier ist eine der bekanntesten, extremen MSL-Routen der Alpen. Das hängt vor allem mit seiner Erschliessungsgeschichte zusammen. Anno 1994 wurde die sogenannte alpine Trilogie geboren. Diese bestand eben durch Beat Kammerlanders Silbergeier, der End of Silence von Thomas Huber und der Route Des Kaisers neue Kleider von Stefan Glowacz. Alle diese befanden sich im Grenzbereich zwischen zehntem und elftem UIAA-Grad und legten damit den Bereich des Möglichen im Rahmen von MSL-Touren höher. Der Silbergeier hat sich im Lauf der Zeit als die schönste und beliebteste Route dieser Trilogie entpuppt. Auch wenn nach heutigen Massstäben nicht mehr ganz Cutting Edge - die Dawn Wall am El Cap ist doch ein ganz anderes Kaliber - so reisen doch immer wieder Kletterer von Nah und Fern für einen Versuch an. Inzwischen haben sich über 20 Aspiranten den roten Punkt gesichert.
Wandbild der 4. Kirchlispitze mit dem Verlauf vom Silbergeier (8b+)
Nun denn, obwohl ich im Klettergarten bereits einmal nominell ähnlich schwer wie die Hauptschwierigkeit im Silbergeier geklettert bin, so befindet sich diese Route ziemlich offensichtlich oberhalb meiner Kragenweite. Anders für meinen Seilpartner Dani: er hat das drauf und Ambitionen auf mehr als nur ein blosses Hochkommen. Ich freute mich sehr, als sich die Gelegenheit zum Mitgehen ergab. Irgendwie ist das ja auch so cool am Klettersport. Die Meisterleistungen der Klettergötter stehen da und jedermann kann sich daran versuchen. Das ist halt in etwa so ähnlich, wie wenn ein Fussballfan einfach so mal eine Partie bei Real Madrid mitspielen könnte, der Wintersportler unter Rennbedingungen einen Lauf am Lauberhorn machen könnte oder der Motorsport-Freak sich mal in einen Formula 1 Boliden setzen könnte. Somit wollte ich dann auch probieren, möglichst weite Teile der Route freizuklettern und dabei eine gute Figur abzugeben - irgendwo im Hinterkopf mit der ganz leisen Hoffnung, dass auch für mich vielleicht dereinst noch ein paar Punkte zu holen wären. Nur nicht zu tief zielen mit den Ambitionen...
Hier beginnt die Fixseilpiste, welche in ca. 150hm über den Vorbau zum Elefantenbauch hinaufführt.
Da wir Konkurrenz befürchteten, begann unsere Tour bereits um 7.30 Uhr auf dem Melkplatz. Viele Fahrzeuge aus ganz Europa waren bereits parkiert und die Leute schälten sich eben aus ihren Zelten oder Vans - was ja gemäss den Infos in der Literatur so eigentlich nicht gerne gesehen ist. Flugs stiegen wir hinauf unter die Kirchlispitzen, hach wie schön, wieder einmal im vertrauten Rätikon unterwegs zu sein! Die Gegebenheiten mit dem Aufstieg zum Elefantenbauch an der 4. Kirchlispitze waren uns natürlich bestens bekannt, waren wir doch schon mehrfach hier, zuletzt für die Prix Garantie und Hannibals Alptraum. Da wir bereits Kunde von diesjährigen Wiederholungen ebendieser Prix Garantie und von Versuchen im Silbergeier hatten, konnten wir uns den Fixseilen hinauf zum Einstieg ein bisschen beruhigter anvertrauen. Derjenige, welcher im Frühling als Erster kommt, der soll und muss diese schon ein wenig mit Bedacht verwenden. Doch auch sonst ist die Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung durch Steinschlag halt nicht null und sollte entsprechend einkalkuliert werden. Mit den Vorbereitungen liessen wir uns gütlich Zeit und starteten schliesslich erst etwa um 9.15 Uhr mit der Kletterei. Die Temperaturen lagen eher auf der frischen Seite und hiessen uns, einige Extraschichten an Kleidern zu montieren. Der Kletterei am extrem scharfen und kleingriffigen Gestein würde dies allerdings sicher zu Gute kommen.
L1, 35m, 8b: Ehrlich gesagt, dünkte mich dies bis auf die 7a+ fast noch die machbarste aller Seillängen. Als einzige ist sie überhängend, total etwa 4-5m und hat damit so etwas wie Klettergartencharakter. Nach einem Eintrittsboulder zum und am zweiten Haken vorbei ist die erste Hälfte bis zu dem Punkt am Beginn der kleinen Verschneidung, wo Martin Scheel das Projekt aufgegeben hatte, noch relativ gutmütig und über weite Strecken vergleichsweise griffig (ca. 7b+/7c). Dann folgt die obligatorische, kleingriffige Wand rechts der Verschneidung. Das fordert bereits die Psyche, der nächste Bolt steckt nämlich ungünstig weit links. Dann ein Dächli, ein paar weite Moves an ordentlichen Tropflöchern und eine feine Mover-Stelle an sloprigen Strukturen. Schon bald rückt der Stand näher. Der ist allerdings kein No-Hand-Rest, es gibt nicht einmal einen Absatz für die Füsse - nur gerade ein henkliger Griff markiert hier das Ende des ersten Abschnitts. Zu erwähnen ist auch, dass diese Länge an ein paar entscheidenden Stellen bereits etwas abgeschmiert ist.
Hier geht's los! Ästhetische Wandkletterei in L1 (8b). Ab dem ersten Bolt bis zur Position, wo sich der Kletterer befindet, warten bereits einige nicht ganz triviale Moves. Ab jener Stelle geht's dann für die nächsten 10m im Vergleich zur Rest der Route noch einmal richtig gemütlich und grossgriffig daher.
L2, 25m, 7c+: Ein unglaublicher Plattenknaller. Die ersten Meter gehen mit einer Linksschleife noch relativ gut über die Bühne, am nächsten Bolt vorbei wartet dann aber eine steile Wandstelle an ein paar extrascharfen Mikrocrimpern, so gut wie trittlos. Nach dieser Crux setzt beim nächsten Bolt eine lange Querung nach links an - Steilplattenkletterei par Excellence mit ein paar kleinen, scharfen Strukturen für die Hände, es ist extrem schwierig, den Druck auf die Füsse zu bringen. Besonders spassig ist's im Nachstieg: man hat genau einen einzigen Shot, sitzt ein Move nicht, so gibt's einen Pendler und man kommt nicht mehr in die ursprüngliche Position zurück. Die Filmsequenz zeigt klar auf, wie das so vonstatten geht, wenn einer wie ich es versucht. Das Finish dann an einer rissartigen Struktur mit runden Löchern liefert bereits einen Vorgeschmack auf die nächste Seillänge.
L3, 25m, 8a+: Der Auftakt in diese Seillänge konnte auch schon oft auf Fotos in den Klettergazetten betrachtet werden. An kleinen, scharfen Strukturen will man eine Art sloprige Wasserrille rechts aussen auf Schulter nehmen und sich daran etablieren, dies bei minimalem Trittangebot. Der Abstand zum nächsten Bolt ist zwar nicht so weit, man knallt aber doch heftig in die erste Zwischensicherung rein - da gilt es dann, am Hängestand für eine ausreichend dynamische Sicherung zu sorgen, was alles andere als einfach ist. Danach geht's dann eben der Struktur entlang, welche eine Mischung zwischen Wasserrille, Riss und offenen Löchern ist. Gemäss Nina Caprez sei es extrem wichtig, diese Stelle "locker zu klettern", damit man gut durchkomme. Ich habe mein bestes versucht, aber ehrlich gesagt hätte ich im Angesicht all dieser extrem runden, abschüssigen Strukturen und der akuten Trittarmut am liebsten auch noch in den Fels gebissen, um ausreichend Halt zu finden. Somit war das sicherlich das absolute Gegenteil von "locker klettern". Das Finish der Länge dann an seichten Wasserrillen mit einem ziemlichen Runout, die Kletterei wird aber beständig einfacher.
Super Plattenkletterei an seichten Wasserrillen am Ende von L3 (8a+), einige der einfachsten Meter der Route.
L4, 20m, 7a+: Im Vergleich zum Rest beinahe eine Plaisirlänge, jedoch auch nicht zu unterschätzen. Vom Stand weg auf Spritzbeton-Fels in beinahe purer Reibung zum ersten Bolt. Der zweite folgt bald, ebenso eine knifflige Wandstelle an kleinen Leisten am Haken vorbei. Danach nimmt man eine Wasserrille auf Gegendruck und klettert den nicht allzu schweren Runout. Hinein geht's ins Geiernest, endlich ein uneingeschränkt bequemer Stand. Ähm nein, dann doch nicht, weil der Vorsteiger in der nächsten Seillänge von rechts ausserhalb der Nische gesichert sein will.
Sagenhafter Spritzbeton-Fels in L4 (7a+), welche trotz der moderaten Bewertung nicht zu unterschätzen ist.
L5, 25m, 8b+: Die Cruxlänge ist nicht einmal senkrecht, verlangt aber doch eine hohe Portion an Athletik. Zum Greifen gibt's hier nur gerade ein paar wenige, kleine Untergriffschüpplein und hier und da ein extrascharfes Tropfloch. Für die Füsse gibt's so gut wie gar nichts, bis auf die extrascharfe Raufasertapete der Wand selbst. Im wesentlichen Teil sind die Hakenabstände im Prinzip kurz, dafür die Kletterei unglaublich diffizil. Die zweite Hälfte der Seillänge mit einer grossen Querung nach links ist dann etwas einfacher, bietet dafür aber weite Abstände. Besonders zum Stand hin ist's ein heftiger Runout, wo man seine Nerven beisammen halten muss. Bis zuallerletzt will sauber auf Reibung angetreten werden - wenn hier das Blut in Wallung kommt, so kann's jederzeit zum Abgang kommen.
Ein solcher Gangstertyp muss man sein, um den Silbergeier hochzukommen. Ich bin leider etwas zu nett ;-)
L6, 40m, 7c+/8a: Auch die letzte Länge ist nochmals ein echtes Testpiece und mancher Versuch von einem Gesamtdurchstieg ist hier noch gescheitert. Die zugänglich aussehende Rampe zu Beginn ist aufgrund vom glatten, strukturarmen Gestein schon deutlich schwieriger wie erhofft. Dann folgt eine Linksquerung - der Hakenabstand ist zwar nicht weit, aber es droht ein unkontrollierter Abgang mit nachfolgendem Pendelsturz, unangenehm. Dann wird's nochmals athletisch, eine psychisch und physisch fordernde Sequenz leitet in eine Verschneidung hinein. Erst ganz zuletzt wird's dann einfacher und der Silbergeier gibt sich endgültig geschlagen.
Da wir mit einem Einfachseil geklettert sind, nahmen wir für den Runterweg den Helikopter ;-) Nein im Ernst, an diesem Tag gingen nicht alle Rätikonkletterer glücklich und unversehrt nach Hause. Im Bereich der 5. Kirchlispitze war eine Luftrettung im Gange.
Nun waren unsere Kraft-, Haut- und Zeitreserven aufgebraucht. Tja, für eine stilreine Begehung ist beiderseits noch etwas Übung notwendig ;-) Aber eigentlich ist ja eine Rotpunktbegehung sowieso einfacher, wie das was wir gemacht haben: da klettert man dann nämlich jede Stelle nur genau 1x, während wir aufgrund von Ausbouldern und Stürzen wohl mindestens das Dreifache der Klettermeter zurückgelegt haben. Schönreden kann man sich fast alles! Das Abseilen über die Route präsentiert sich ob der steilen und absatzlosen Wand natürlich ohne Schwierigkeiten, wobei man unter Umständen teilweise auch auf Fixseile zurückgreifen kann. Zum Zeitpunkt unserer Begehung war dieses nur bis zum ersten Stand installiert. Aber ich gehe davon aus, dass es im Verlauf des Sommers wie üblich bis hinauf zum Ausstieg eingezogen wird. Die unteren Fixseile über den Vorbau waren in einem guten Zustand, so dass man in wenigen Minuten retour am Wandfuss war. Einen kurzen Geröllsurf später standen wir im Grünen und konnten die Ausrüstung definitiv ablegen.
Für diese Pose hat es immerhin gereicht! Auf dem einzigen guten Tritt in der langen Linksquerung von L2 (7c+).
Auf dem Rückmarsch blieb Zeit zur Kontemplation. meine Gefühle zu dieser Silbergeier-Begehung schwanken irgendwo zwischen Begeisterung und Ernüchterung. Die Begeisterung darüber, an diesem berühmten Stück Fels Hand angelegt zu haben und es einmal erlebt zu haben. Die Ernüchterung kommt von der Erkenntnis, wie weit ich von einem stilreinen Rotpunkt-Durchstieg entfernt bin. Da fehlt es an allen Ecken und Enden: die Fingerkraft ist nicht einmal das Hauptelement, sondern vor allem Körperspannung, Koordination und Fusstechnik genügen einfach nicht. Leider Gottes, dürften sich die nötigen Fähigkeiten in diesem Leben nicht mehr ausreichend entwickeln. Aber sag niemals nie, hehe. Ein weiterer Punkt, der im Silbergeier gegenüber einer einfacheren Route auch fehlt, ist der Flow. Das tolle am Alpinklettern ist es ja gerade, einen ganzen Tag lang herausfordernde Aufgaben gestellt zu kriegen, welche man im Idealfall alle lösen kann und sich am Ende den Onsight-Durchstieg verbucht. Gut, der Silbergeier ist für kaum jemanden auf dem Planeten in diesem Stil denkbar, da kommt dann eher sportkletterorientiertes Ausbouldern ausserhalb vom Klettergarten zum Zug. Ich will das nicht werten, jedem Tierchen sein Plasirchen und der Mix ist das, was das Klettern spannend und abwechslungsreich macht.
Facts
4. Kirchlispitze - Silbergeier 8b+ (7c obl.) - 6 SL, 200m - Beat Kammerlander et al. 1993 - *****;xxx
Material: min. 40m langes Seil zum Klettern plus Tagline zum Abseilen, 10 Express
Der weltberühmte Extremklassiker mitten durch den Elefantenbauch an der 4. Kirchlispitze. Während die erste Seillänge noch durch überhängenden Fels führt, sind die folgenden kaum senkrecht. Dementsprechend technisch präsentiert sich die Kletterei. Man bedient sich oft an kleinsten, scharfen Strukturen oder dann an rätikontypischen Slopern und muss sich ständig darum kümmern, den Druck auf den Füssen in extrem trittarmem Gelände aufrecht zu erhalten. Das erfordert ein hohes Mass an Fusstechnik, Körperspannung, Koordination und auch Psyche. Die Hakenabstände sind eigentlich nie sonderlich weit - wäre die Route maximal im 6c/7a-Bereich, so würde man bei dieser Behakung von einer super Absicherung sprechen. Die hohen und anhaltenden Schwierigkeiten weit jenseits vom Komfortbereich sowie die schwer kontrollierbare Kletterei geben aber halt doch ein anderes Gefühl. Online-Topos findet man an verschiedenen Stellen, die besten Kletterführer als Übersicht zum Gebiet sind der Extrem Ost von Filidor und der Rätikon Süd von Panico, welche man bei Bächli Bergsport bestellen kann.