Nach unserem letzten Besuch am Pizzo d'Eus für die Vai con gli Amici hatte ich schon beinahe meine MSL-Ausrüstung verkauft. Denn das war ein haarsträubendes Unternehmen gewesen und irgendwann ist der Zeitpunkt da, wo man seine alten Knochen zu schonen wissen muss. Da mag es schon fast paradox erscheinen, dass ich nur zweieinhalb Monate später schon wieder den Weg ins Val Carecchio antrat. Doch das Tessin bot wettermässig die einzige Möglichkeit an diesem Tag. Zudem sollte die hier beschriebene Va Pensiero besser abgesichert sein und laut Kletterführer auch eine der schönsten MSL im Tessin. Stimmt das?!? Naja, einige Seillängen sind super, andere weniger super und die 7b und 7b+ Längen sind einfach brutal hart. So hart, dass wir stark daran zweifeln, dass die vergebenen Grade korrekt sind.
Will man als Alpennordseiten-Bewohner in einer Tagestour am Pizzo d'Eus klettern, so geht es nicht ohne frühes Aufstehen ab. Noch sehr übernächtigt schälte ich mich um 4.45 Uhr aus dem Bett, um ca. 8.30 Uhr starteten wir schliesslich mit dem Zustieg. Dieser hatte sich noch verzögert, weil wir dummerweise ohne Exen auf dem Parkplatz oberhalb von Lavertezzo standen. Anstatt dass ich es selbst getan hätte, hatte Kathrin hatte die nach dem Sportklettern am Vortag in ihren Rucksack gepackt und dort waren sie noch immer. Immerhin, mit dem Zusammenklauben von allem was in meinem Haulbag und sonst im Kofferraum an Seilresten und Karabinern verfügbar war, hatten wir schlussendlich ein genügend umfangreiches Set beisammen und konnten uns an den Zustieg machen.
Eine Flussüberquerung trockenen Fusses schien uns im Mai 2025 schon im Vornhinein unrealistisch. Das bestätigte sich absolut, die Kneippkur im kalten Wasser war unumgänglich. Immerhin stand der Fluss nur mässig hoch und die Strömung war gering, einen Zeitverlust im Vergleich zum Steine hüpfen wie im Winter muss man trotzdem kalkulieren. Wie gewohnt nahmen wir die Abkürzung via Cürt. Mit der spriessenden Vegetation herrschte auf dem ganzen Weg bis zum Wandfuss eine unglaubliche Zeckenplage. Nonstop mussten wir Dutzende dieser Viecher vom Körper entfernen. Nach einer Pause und (da wir auf einen Fussabstieg setzten) dem Anlegen von einem Depot wurde es ca. 10.40 Uhr, bis wir mit der Kletterei starteten. Um den harten Kaltstart in der originalen L1 zu vermeiden, setzten wir für die zugänglichere Variante weiter links. Zwei andere Seilschaften hatten mir von einer ausführlichen A0-Übung in der eigentlichen Startlänge berichtet, da war ich nicht so scharf darauf, diese zu replizieren.
Zweites Hindernis: obligatorische Kneippkur beim Überqueren des Riale di Pincascia |
L1, 45m, 6b (Variante Gege): Sehr schöne Slab mit coolen Strukturen. Die Seillänge ist mit nur 8 BH eher distant gebohrt. Im einfachen Gelände heisst es Marschieren und auch die Crux verlangt hier ein gewisses Committment.
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L2 & L3, 40m, 6a (Variante Gege): Auch hier findet man auf der Platte zu Beginn fantastische Strukturen, es handelt sich um eine easy 6a. Man kommt dann zum Stand und kann die nominelle L3 gleich problemlos anhängen. Auf einem Band quert man horizontal nach rechts, klettert an einem antiken Stand vorbei und bewältigt noch eine Wandstelle zum korrekten Stand der Va Pensiero. Eine 6b findet man auf diesem Abschnitt definitiv nicht.
Das Foto gibt stimmungsmässig deutlich mehr her als die "easy 6a" von L2 & L3. |
L4, 25m, 6c: Coole und originelle Seillänge. Zuerst geht's entlang einer Fuge nach links, dann kräftig hinauf und zuletzt mit einem Runout (Pendelgefahr im Nachstieg) wieder nach rechts zurück. Insgesamt eine sehr pumpige Sache, wir meinen eher 6c+/7a.
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Kräftige Kletterei, erst nach links und dann wieder nach rechts zurück in L4 (6c). |
L5, 25m, 7b: Geile und ultrapumpige Seillänge! Zuerst geht's mal knifflig mit einem slabby Boulder aus dem Stand raus. Dann kommen in der athletischen Rechtsquerung zwar mehr oder weniger durchgehend akzeptable Griffe. Aber es ist sehr anhaltend und die Schwierigkeiten nehmen zu. Die Länge ist dicht gebohrt, trotzdem ist es oft recht unklar, was die beste Beta ist (untenrum, obenrum?). Matteo della Bordella hat mir geschrieben, dass er die Länge bei der Erstebegehung mit 7b+ bewertet hätte. Fände ich passender wie 7b. Ich konnte mich bis ca. 2/3 durchkämpfen, dann war der Tank aber leer. Ob ich es im Zweiten einfach so gezogen hätte. Ich zweifle... und bei einer echten 7b in diesem Style gibt es da keine Fragezeichen.
L6, 30m, 7b+: Ganz anderer Charakter, die initiale Crux ist "heinous", d.h. ein bockharter, trittarmer Boulder an feinen Leisten auf Gegendruck, noch dazu sollte man mittendrin auch noch klippen (wie?). Diese Stelle konnten wir nicht freiklettern, ich meine im Minimum 7A bloc, möglicherweise auch mehr. Danach länger im 6c/7a-Bereich über tolle Strukturen, erst das Finish ist dann henklig-easy. Nach der Mitte befinden sich 2 BH recht neben der einfachsten Linie.
Schönes Ambiente im einfachen Finish von L6 (7b+). |
L7, 50m, 6c: Eine affengeile Seillänge mit tollen Strukturen und Moves in ihrem ersten Teil. Ein Abschnitt in der Mitte ist wohl länger nass und kurz etwas dreckig - wenn trocken, stört das aber kaum. Das Finish dann einer Schuppe im Trad-Style (Cams zwingend!). Insgesamt eine easy 6c, auch das gibt's hier also. Achtung Seilzug!
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Genuss mit Blick bis nach Lavertezzo am Ende von L7 (6c). |
L8, 40m, 6a+: Tiefe Bewertung, aber nicht so leicht verdaulich. Zuerst reibungslastig, wobei es schwierige Stellen deutlich über dem Haken gibt, wo man unweit von der Haftgrenze dem Gummi einfach vertrauen muss. Es geht dann (für den Grad alles andere als einfach) über ein Dächli auf die Slab, welche zum Band hochführt. Dieser Teil ist tatsächlich easy (ca. 5a). Dafür stecken keine Bolts. Sofern trocken ok, doch leider sifft es hier häufig. Für uns ging es (nach einer durchaus trockenen Periode) grad so zwischen den Rinnsalen durch. Wenn es grossflächiger nass ist, kommt man da nicht hoch.
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Plattige Kletterei mit weiten Hakenabständen charakterisiert L8 (6a+). |
L9, 35m, 7b+: Was kann ich sagen?!? Es sieht abschreckend aus und klettern tut es sich nicht viel besser. Über die ersten 4 BH brutal kräftiger Gegendruck auf strukturloser, sandiger Wand. Ich meine, von BH #1 zu #2 min. 7A bloc und die Stelle von #3 zu #4 min. 7B bloc, jedenfalls deutlich oberhalb meiner Möglichkeiten. Wie meine Abklärungen im Nachhinein ergeben haben, wurde diese Länge ursprünglich (zuerst von MdB, danach von Erschliesser FF) nur als 7b+ mit 1pa an #3 gepunktet. Später ist das 1pa aus den Topos verschwunden, warum ist nicht ganz klar. Dem Vernehmen nach wurde sie vom starken Tessiner Nick Vonarburg befreit. Aber, und da bleibe ich dabei: für 7b+ ist das nie und nimmer zu haben. Jedenfalls: nach diesem harten Boulder geht's direkt in einen kolossal grasigen Riss, wo man sich durchs Gebüsch zu kämpfen hat (Cam #3 zwingend!). Einige Meter höher ist der Fels wieder sauber, wenn auch etwas sandig. Es wartet anspruchsvolle Wandkletterei, wobei einige der Schuppen ziemlich dumpf tönen (der Kleber, mit welchem sie befestigt waren, hat leider seinen Dienst quittiert). Zum Ende wartet dann noch eine cleane Untergriffschuppe mit tricky Exit (Cam #2 & #1 zwingend), gefolgt von einer Plattenstelle, wo sich jeder wünscht, einfach noch ein paar Dezimeter mehr Reichweite zu haben (oder die Beine ein paar Grad mehr spreizen zu können). Hinweis: der Teil ab der Grasinsel nach BH #4 ist ca. 7a (und davor heisst's für die meisten wohl A0, auch das ist nicht so easy).
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Im Vordergrund die Crux der Route, an deren Ende heisst's ab durchs Gebüsch: L9, 7b++??? |
L10, 50m, 6c+: Fängt hart an mit einem Mantle und danach einer kniffligen Querung auf Reibung. Die Absicherung ist an sich schon gut, aber die Moves sind zwingend und es gibt irgendwie doch ein ungeschmeidiges Abschmierpotenzial. Die 6c+ passt vielleicht schon, aber halt von der plattig-harten Sorte und im Kopf muss es auch stimmen. Die zweite Hälfte ist deutlich einfacher, und aufgrund der spärlichen Absicherung nicht so einfach zu finden. Der Verlauf tendiert eher etwas nach links. Achtung Seilzug!
L11, 35m, 6a+: Flechtig ist bei dieser Seillänge nur der Vorname! Hat eher den Charakter von einem Überführungsstück Richtung Top, genussreich ist die Kletterei nicht. Auch nicht wirklich schwierig und wenn es sich so anfühlt, dann am ehesten wegen der ungewohnten Unterlage und dem spärlichen Bolting. Kleine und mittlere Cams können etwas Abhilfe schaffen.
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Wildes Ambiente in der sehr flechtigen L11 (6a+). |
L12, 25m, 7a: Nein, billig kommt man nicht zur schon nahe wirkenden Wandkante. Sondern es geht mit einem Schlussbouquet durch die rutschig-glatt-flechtige, leicht überhängende Wand mit gerade ausreichend kleinen Crimps und sloprigen Rissen. Schneller als mir lieb ist, befinde ich mich in prekärer Position über dem Haken, was meinen Kampfgeist wieder aufweckt. Mittig folgt ein ziemlicher Abstand und dann wird zum Ende noch geprüft, wie viel Benzin noch im Tank ist. Nachdem zuvor schon wieder gewisse Gedanken ans endgültige Verscherbeln vom MSL-Gear aufgekommen waren, entschädigt dieser Onsight auf dem letzten Blatt doch wieder für die ganzen Mühen. 3x hatte ich mich in letzter Not vor dem Abkippen retten können (1x davon (zumindest gefühlt) weit über dem Haken) - leider geil, kann man da nur sagen! Woher diese Energie noch gekommen ist?!? Das frage ich mich ehrlich gesagt auch...
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Taffe Kletterei durch die Schlusswand in L12 (7a), what an experience! |
Jedenfalls, um 20.20 Uhr fand diese Kampfbegehung ihr Ende, in 9:40h zähen Ringens hatte sich die Route schliesslich beugen müssen. Da im Moment hatte ich den Eindruck, den Ansprüchen überhaupt nicht genügt zu haben. Mit etwas Distanz bilanziere ich, dass eigentlich nur die Passagen zu Beginn von L6 und L9 nicht freigeklettert waren, und das Pumpgerät in L5 nicht gepunktet. Der Rest ging auf Anhieb, vielleicht erlege ich mir einfach zu strenge Massstäbe auf?!? Wobei, am Anfang hatten wir ja auch noch eine schwierige Seillänge umgangen, von daher verbleibt vielleicht doch eher die Bezeichnung Geschnafel für diese Performance. Eines sei noch erwähnt: im Mai ist es sicherlich oft zu heiss um am Pizzo d'Eus zu klettern. An diesem teilweise bewölkten und windigen, sowie nicht allzu heissen Tag waren die Conditions aber 1a.
Auf dem breiten und flachen Gipfel vom Pizzo d'Eus. |
Ganz in Alpinistenmanier liessen wir uns den kleinen Umweg zum Gipfel nicht nehmen (20.35 Uhr), bevor es via die Hütten von Eus (20.50 Uhr) zurück zum Depot beim Abzweig vom Wanderweg ging (21.15 Uhr). Wir sortierten das Gear und liefen dann mit eingeschalteten Stirnlampen zu Tal. Bis nach Hause war es noch ein weiter Weg, um 2.30 Uhr legte ich mich nach fast 22h auf den Beinen noch für ein paar Stunden aufs Ohr, bevor die Pflicht wieder rief. Tja, ohne Fleiss kein Preis, bzw. ohne Einsatz gibt's keine Eus-Route - erst recht nicht, wenn man das von der Alpennordseite als Tagestour angeht. Only for crazy people, some may think...
Facts
Pizzo d'Eus - Va Pensiero 7b+ (7a obl.) - 12 SL, 390m - F. Fratagnoli et al. 2004 - ***;xxx
Material: 2x50m-Seile, 12 Express, Cams 0.3-3
Lange und eindrückliche MSL-Route, welche in der Literatur hoch gelobt wird. Mir hat sie nicht ganz so gut gefallen. Einige Abschnitte sind wirklich sehr schön und verlaufen in hervorragend strukturiertem Gneis. Anderswo ist die Kletterei weniger prickelnd, da es sich um "unmögliche" Boulderstellen handelt, die Unterlage sandig-brösmelig ist, man sich zweifelhaften, dumpf tönenden Schuppe bedient, oder Flechten und sonstiger Bewuchs stören. Vor weiterer Punkt: die schwierigen Stellen sind hammerhart, wer sonst so 7b/+ auch mal Onsight klettert, wird da kaum eine Chance haben. Ebenso wird die Route in den bisherigen Topos als 6b/+ obligatorisch veranschlagt. Das ist für meinen Geschmack deutlich zu tief, man rechne eher mit 7a. Die Absicherung mit rostfreien BH ist meistens durchaus gut und auf Niveau xxxx. Dann aber gibt es einzelne Passagen, die aus diesem Rahmen fallen (im Text erwähnt), weshalb übers Ganze nur xxx vergeben werden können. Die Cams kommen nur relativ selten zum Einsatz, an gewissen clean gebliebenen Stellen sind sie jedoch unverzichtbar. Ein Topo und weitere Infos zum Pizzo findet man im Extrem Sud oder im SAC-Kletterführer Tessin.