Wer zum ersten Mal zum Klettern ins Rätikon kommt, dessen Blicke richten sich bald einmal zum sogenannten Elefantenbauch an der vierten Kirchlispitze (2494m). Prominent und herausfordernd sticht dieser aus der Bergkette hervor und wohl jeder Kletterer weiss, dass dort die ganz harten Geräte daheim sind. Antihydral (8b), Silbergeier (8b+) und Hannibals Alptraum (8a), um genau zu sein. Ein bisschen verwegen war daher mein Plan schon, an genau dieser Wand eine Linie zu verwirklichen. Andererseits hatte ich den Elefantenbauch bereits aus vielerlei Perspektive studiert, mit Fernglas und Zoom-Fotos nach nutzbaren Strukturen gesucht. Es könnte möglich sein, sagte ich mir immer...
Nicht nur die Kletterei lohnt sich im Rätikon, auch die Aussicht ist sagenhaft! Blick aus der Wand nach SE. |
Ein wichtiger Puzzlestein zur Realisierung war dabei das Angebot von Michael, mich beim Bohren zu sichern und beim Materialtransport tatkräftig mitzuhelfen. So griffen wir am 1. Oktober 2015 das erste Mal an. Schwer beladen ging's hinauf über die Fixseile, um endlich einmal einen Blick von ganz nahe auf das Projekt zu werfen. In Realität sah es zum Glück genau so gut aus wie auf den stark vergrösserten Pixeln am Bildschirm. Nur in Bezug auf Schwierigkeit und Machbarkeit blieben wir natürlich vorerst noch im Ungewissen. Tatsächlich erforderte dann schon die erste Länge grossen Einsatz - aber es ging. Mit etwas schwindenden Kräften gelang es an diesem Tag sogar noch, die etwas einfachere zweite Seillänge komplett einzurichten.
Die Kirchlispitzen 4-7 schön aufgereiht - ein wirklich tolles Klettergebiet! |
Einen guten Monat später, am 6. November 2015, waren wir das nächste Mal am Start. Wohl herrschten noch beste Spätherbstbedingungen, die Tage waren aber trotzdem bereits kurz. Bis wir die Vortriebsstelle erreicht hatten, war Mittag schon vorbei. Und auch das Einbohren der dritten Seillänge entpuppte sich als kein leichtes Unterfangen. Mit der vierten Seillänge konnte ich damals noch beginnen, drei Bolts liessen sich setzen, was gerade noch einen Blick um die Kante auf den oberen Wandteil zuliess. Noch nie hatte ich den aus dieser Perspektive gesehen - sehr erleichtert nahm ich damals zur Kenntnis, dass es vielversprechend und machbar zugleich aussah. So konnten wir trotz relativ bescheidener Ausbeute von knapp 1.5 Seillängen mit gutem Gefühl in die Tiefe gleiten.
Rock Quality - Quality Rock! Blick zurück beim in die Tiefe gleiten. |
Danach kehrte der Winter ein, und der regnerische Vorsommer 2016 mit seinen wenigen und oft gewittrigen guten Tagen liess lange nicht an einen Versuch im Rätikon denken. Bedrohlich rückte der Termin in die Nähe, an welchem Michael Europa zu Gunsten von neuer beruflicher Herausforderung verlassen würde. Am 4.7.2016 war es dann aber endlich soweit - stabiles Wetter war angekündigt, Psyche, Kraft und Haut waren in Topzustand und den langen Tagen sei Dank war genügend Zeit vorhanden. So gelang es dann tatsächlich, die noch fehlenden 3.5 Seillängen bis zum Ausstieg in einem Zug einzurichten - dies trotz ziemlich hohen und anhaltenden Schwierigkeiten. In Summe sicherlich einer meiner besten Bohr-, ja sogar Klettertage aller Zeiten. Das Gefühl, spätabends direkt auf dem Gipfel der 4. Kirchlispitze auszusteigen und die Erstbegehung damit vollbracht zu haben, war einfach unbeschreiblich :-)
Die Zustiegskraxelei entlang der Fixseil, etwa mittig auf der Strecke. Es hat Stellen bis zum 3. Grad, Steigklemme nötig! |
Nach der Arbeit das Vergnügen: offen blieb noch, die Route ohne Bohrmaschine zu klettern. Michael, inzwischen weit weg daheim, konnte da leider schon nicht mehr dabei sein. Nach den im Ausland verbrachten Sommerferien wurde es schliesslich der 11. September 2016, bis ich mit Kathrin ins Rätikon aufbrechen konnte. Während mir die oberen Längen auf Anhieb gelangen, entpuppte sich die erste Seillänge nicht unerwartet als harte Knacknuss. Nach zähem Ringen konnte ich sie schliesslich freiklettern. Das vorerst letzte Kapitel vor der Veröffentlichung schrieben dann am 22. September 2016 Daniel Benz und Lukas Hinterberger mit der ersten Wiederholung. Von mir zu einer Begehung der Route ermuntert, sicherte sich mein Freund Dani in souveräner Art und Weise eine komplette Onsight-Begehung der gesamten Route - herzliche Gratulation zu dieser starken Leistung! Nachdem dabei meine Einschätzungen bestätigt wurden, lässt sich in den folgenden Zeilen das Wesentliche lesen.
Kurz vor dem Einstieg, wir haben das Fixseil bis ganz rüber gezogen. |
L1, 40m, 7c: Nach einem Auftakt der "weder ganz einfach, noch ganz schwierig" ist, geht's bereits nach dem dritten Haken zur Sache. Entweder erst rechts der Haken hinauf, dafür aber bouldrig-schwer am vierten Bolt nach links queren - oder gleich links der Hakenlinie pressig und kühn nach oben steigen, gefolgt von einer zwingenden Stelle mit Aufrichter zum fünften Bolt. Die nun folgende Passage bis zum siebten Haken bildet die Crux der ganzen Route. Rätikontypische, senkrechte Wandkletterei mit gutem Anstehen und Bedienung kleiner Kratzer und feiner Sloper ist gefragt. Danach etwas einfacher, aber noch mit dem einen oder anderen Boulder zum Stand. Mit 2x p.a. am vierten und sechsten Bolt dürfte man hier übrigens mit 7a/7a+ durchkommen.
Kathrin versucht sich an der kniffligen Rätikon-Kletterei im oberen Teil von L1 (7c). |
L2, 30m, 6c: Los geht's mit plattiger Kletterei in sehr schönem Fels, gefolgt von einem Intermezzo in traumhaften, sehr griffigen Wasserrillen. Das senkrechte Wandl darob beinhaltet dann die Crux. Zwei-, dreimal gut durchmoven an Seitgriffen, irgendwann kommt der Henkel. Es folgt noch eine Querung nach rechts hinaus zum Stand.
Die steile Wandkletterei zum Stand hin stellt die Crux von L2 (6c) dar. |
L3, 25m, 7a: Der Auftakt über eine sehr schöne, löchrige Platte entpuppt sich als gängig. Bald jedoch werden die Strukturen klein und scharf und man muss sich sorgfältig positionieren, um den Boulder nach rechts hinaus über den überhängenden Wulst angehen zu können. Man gewinnt so eine angetönte, seichte Verschneidung. In fordernder Kletterei geht's darin zum Stand in der Nische.
Die letzten Meter in der angedeuteten Verschneidung von L3 (7a). |
L4, 35m, 7a+: Die Steilplatte ob dem Stand sieht nicht so schwer aus, hat's aber in sich. So richtig knifflig sind dann die zwingenden Moves um die Kante nach dem dritten Bolt - an Slopern gilt es sich, um die Ecke zu manteln. Danach sehr anhaltend in feinstem Rätikon-Steilplattenfels hinauf. Immer gerade bevor es verzweifelt schwer würde, taucht zum Glück wieder eine nutzbare Struktur auf.
Sehr schöne, ja fantastische Steilplattenkletterei in L4 (7a+). |
L5, 20m, 6c: Kurz, eher plattig, aber nicht zu unterschätzen! Schon gleich nach dem ersten Bolt wartet ein kniffliger Aufsteher. Danach etwas leichter der nicht ganz so griffigen Schuppe entlang zu einem finalen, sehr schönen Boulder an Wasserrillen aufs bequeme Querband hinauf.
Der Wasserrillen-Boulder am Ende von L5 (6c) ist schwieriger, wie man zuerst meint. |
L6, 30m, 6c: Auf dem Band erst einige Meter nach links und dann recht fordernd die steile Verschneidung hinauf, welche von griffigen Überhängen abgeschlossen wird. Der vierte Bolt befindet sich dann links draussen auf der Platte, über welche man später sehr schön zum Stand hinaufklettert. Auf dem letzten Meter trifft man die historische Linksdrall (V+ A0), welche hier diagonal über die ganze Wand quert.
Richtig coole Kletterei am Ende von L6 (6c), am Ende kann man noch einen NH der Linksdrall klippen. |
L7, 40m, 6b: Sehr schöne Kletterei in nochmals bestem, griffigem Rätikon-Kalk an einem turmartigen Pfeiler, den man bis ganz zuoberst erklimmt. Zuerst etwas plattig-feine Moves, dann formidable Henkel und zuletzt der luftige Ausstieg, ein grosser Genuss. Vom Turmgipfel dann noch wenige Meter zum Ausstiegsstand - das Wand-/Gipfelbuch befindet sich 1.5m horizontal rechts von diesem in der kleinen Nische unter den Steinen versteckt. Wer will, erreicht in einfacher Kletterei (10m, I) flugs den schmucklosen Gipfel der 4. Kirchlispitze.
Tolle Kletterei bis kurz vor Schluss, nur die allerletzten Meter vom Türmchen zum Ausstiegsstand sind etwas schottrig. |
Ein Abstieg vom Gipfel über die Nordseite ist möglich, und bietet dem Alpinfreak ein interessantes Erlebnis. Er führt durch etwas unübersichtliches, wegloses Kraxelgelände (ca. T5, II). Man hält sich zuerst an den Grat bis in die Senke östlich der vierten Spitze und steigt dann der Nase nach durch die Nordflanke ab. Wiewohl, die meisten bevorzugen sicherlich sinnvollerweise das Abseilen: mit 2x50m geht's tiptop, mit 2x60m ist's noch ein bisschen effizienter. Sofern die Fixseile am Vorbau in brauchbarem Zustand sind, seilt man am bequemsten an diesen ab. Sollte dies nicht der Fall sein, so befinden sich unterhalb vom Einstieg der Prix Garantie in gerader Linie zwei gut geschützte Abseilstände, an welchen man mit dem eigenen Seil in die Tiefe gleiten kann. Der Geröllsurf hinunter zum Pardutzbödeli gehört dann zum Fun dazu, danach blickt man hoffentlich auf einen gelungenen Klettertag zurück!
Facts
4. Kirchlispitze - Prix Garantie 7c (6c+ obl.) - 7 SL, 220m - Dettling/Bechtel 2016 - ****;xxx
Material: 2x50m (oder etwas bequemer 2x60m)-Seil, 10 Express, Keile/Friends nicht nötig
Die Discount-Linie am eindrücklichen Elefantenbauch der vierten Kirchlispitze, in unmittelbarer Nähe zu den Ultraklassikern Silbergeier (8b+) und Hannibals Alptraum (8a). Auch wenn das Eintrittsbillett hier nicht ganz so teuer wie in den Nachbarrouten ist, so bekommt man doch Qualität und Ambiente garantiert. Die Kletterei ist zwar nur auf wenigen Metern in L1 so verzweifelt schwer wie in den Nachbartouren, doch auch die restlichen Meter sind nicht zu unterschätzen, wollen ehrlich gemeistert sein und erfordern ein gewisses Kletterkönnen. Die Felsqualität ist über weite Strecken hervorragend, man klettert im typischen, silbergrauen Rätikon-Gestein mit seiner hervorragenden Reibung. Ein paar kurze, etwas splittrig anmutende Stellen gibt's wie in fast jeder Rätikon-Route aber durchaus und wer unbedingt irgendwo einen Griff ausreissen will, der dürfte seinen Wunsch auch erfüllen können. Die Route ist mit qualitativ hochwertigen A4-Inox-BH komplett, solide und durchdacht ausgerüstet, mobiles Sicherungsmaterial ist nicht mitzuführen und kaum einzusetzen. Es sei erwähnt, dass manche nicht ganz triviale Kletterstelle bei guter Absicherung durchaus obligatorisch zu meistern ist - es dürfte sich in jeder Hinsicht um die anspruchsvollste Route handeln, welche der Autor bisher eingerichtet hat.
Topo
Hier gibt's das Topo in voller Auflösung zum PDF-Download, der Screenshot ist nur zur Illustration!
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