Reich an Eis war der Winter 2011/2012 lange nicht. Wie auch immer, mit der Grandes Jorasses Nordwand und der Stapfetenstrasse am Hoch Ducan war er für mich schon vor der Februar-Kälte gespickt mit zwei absoluten Highlights. Das dritte im Bunde ist eben dazugekommen: die erste Begehung der Seerenbachfälle 1 und 2, wobei Nummer 2 mit einer Höhendifferenz von 305m der gemäss offiziellen Quellen der höchste Wasserfall der Schweiz ist!
Dani ist am Telefon: "der Seerenbachfall geht ... kannst du morgen?". Da kann man natürlich nur "ja" sagen. Sofort setzt die Vorfreude ein. Obwohl mir ganz klar ist, worum es hier geht, rufe ich auf dem Internet gerne noch einige Geschichten und Hintergründe auf. Die ganze
Kaskade mit den drei Fällen überwindet zwischen der Terrasse von Arvenbüel ob Amden, bis hinunter nach Betlis am Walensee 590 Höhenmeter.
Auch speit zuunterst auch noch die
mysteriöse Rinquelle in dieselbe Schlucht. Der Überlauf einen unterirdischen Gangsystems, welches die Nordabdachung der Churfirsten entwässert, liefert vor allem im Frühjahr gewaltige Wassermassen. In der kalten Jahreszeit ist sie ein Eldorado für Höhlentaucher, welche ebenfalls von ganz
spannenden Abenteuern zu berichten haben. Diese haben auch eine Tyrolienne, bzw. eine rudimentäre Seilbahn über die Schlucht installiert, welche ich zwischenzeitlich gar als Zustiegsmöglichkeit in Erwägung ziehe. Die Benutzung ist aber
bewilligungspflichtig, und rechtsrum durch den Wald ist für uns sowieso praktischer.
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Die Seerenbachfälle über den Walensee hinweg, in Bildmitte. |
Frühmorgens mache ich mich nach der an vielen Orten im Mittelland
kältesten Februarnacht seit Messbeginn auf den Weg. Dani lade ich in Ziegelbrücke auf, und wir fahren zum Parkplatz beim Strandbad in Betlis. Da leeren wir erst einmal unsere Portemonnaies von allem Münz. Happige 2 CHF pro Stunde werden verlangt. Als alle unsere Fränkli und Räppli im Zahlschlitz verschwunden sind, schauen wir uns an: da müssen wir aber arg Gas geben, wenn wir zurück sein wollen, bis das Ticket abläuft.
Mit schweren Rucksäcken machen wir uns auf den Weg: ein gut sortiertes Arsenal von 18 Schrauben haben wir dabei, Felshaken, Keile und Friends und unzählige Paare an Reservehandschuhen. Nur die Bohrmaschine haben wir bewusst zuhause gelassen. Der Zustieg geht erst bequem auf dem Wanderweg ostwärts. Bequem queren wir die Schlucht des Seerenbachs zum Weiler Seeren. Hier verlassen wir den Pfad, und steigen über die Wiese hoch zum Waldrand. Zeit, um Klettergurt und Steigeisen zu montieren.
Eingestellt haben wir uns auf einen abenteuerlichen Steilwaldaufstieg, um die nicht kletterbare unterste Stufe der Seerenbachfälle (Fall 3) zu umgehen. Dieser wäre mit 190m Fallhöhe auch ein ganz imposantes Ziel. Er ist aber so steil, dass mindestens das oberste Drittel über eine freistehende Säule zu machen wäre. Bei den enormen Wassermassen, die selbst jetzt noch fliessen, kann ich mir kaum vorstellen, dass hier einmal kletterbare Bedingungen vorherrschen werden.
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Am Einstieg, die Sache nicht ganz so bösartig wie befürchet. |
Wie auch immer, unser Waldaufstieg entpuppt sich als harmlos. An den Bäumen haben findige Waterfall-Watcher Farbmarkierungen angebracht, und trotz dünner Schneeauflage sind Pfadspuren erkennbar. Die heikelste Stelle ist sogar mit einem Fixseil ausgerüstet. Der Zustieg zum Top von Fall 3 ist so ein absoluter No-Brainer, bei trockenen Bedingungen sicher nicht mehr als ein T4. Mit ein paar Schritten durchs horizontale Bachbett sind wir nach 75 Minuten Zustieg da.
Der Fall ist hoch, ja sehr eindrücklich. Aber wir nehmen auch wohlwollend davon Kenntnis, dass die erdrückende Schwere fehlt. Das kommende Gelände sieht nicht extrem steil und anhaltend aus, der Rückweg nach unten steht uns mit dem guten Pfad hierhin stets frei. So schirren wir uns an, und machen uns guten Mutes auf den Weg.
Die 1. SL (60m, WI2+) führt über eine erste, 30m hohe Stufe. Gleich zu Beginn muss zum ersten Mal mit einigen Eisbalkonen gedealt werden, danach flacht die Sache bald ab. Es warten noch einige Genussmeter, bevor man auf einen flachen Boden gelangt. Während man sich unter Inkaufnahme einer kalten Dusche links einfacher durchmogeln könnte, wählen wir in der 2. SL (60m, WI4-) den direkten Weg über den nächsten Aufschwung. Der folgende Stand befindet sich gut geschützt in einer Art Spalte unter dem grossen Schnee-/Eiskonus.
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Eindrückliche 2. SL (WI4-) |
Nun folgt die heikelste Passage der Route. Es muss nämlich die Fallinie des grössten Wasserlaufs traversiert werden. Da ist es erstens nass, und zweitens rumpelt da immer wieder Eis runter. Durch das viele Wasser und die extreme Kälte gefriert an den offenen Stellen eine Art Softeis, die auch regelmässig wieder weggewaschen wird. Und eben, in Form von Matsch und Crushed Eis kommt das hier runter. Die harten Brocken fehlen zum Glück. Dennoch artet die nächste 3. Seillänge über den Konus (50 Grad, WI1) zu einem Sprint diagonal nach rechts hoch mit wilder Pickelei aus. Einmal droben und drüben wartet noch eine spannende Querung, erst an Balkonen, dann auf einem schmalen Band (WI3). Der Stand kommt nach 60m am Fuss des nächsten Aufschwungs.
In der folgenden 4. SL (50m, WI4-) wartet zuerst ein 10m hoher Steilaufschwung, den gutes Eis gutmütig macht. Der Rest dieser Seillänge ist einfacher (WI3) und genussreich. Den Stand beziehen wir rechts auf einem Band, wo an Bäumen gesichert werden kann. Die folgende 5. SL (60m, WI4) wartet zu Beginn mit einer delikaten Stufe in ziemlich luftdurchsetztem Eis auf. Danach aber wieder über Meter vorzügliche Genusskletterei zu Stand am rechten Rand des Falls im Eis.
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Anspruchsvoller Start in die 5. SL (WI4). |
Fortgesetzt wird die Sache mit einer weiteren Genusslänge (6. SL, WI3+), welche über einige Stufen und Balkone hochführt. Nach 30m bietet sich ein in einer Felsnische geschützter Stand optimal an. Dann folgt die Crux, und gleichzeitig auch die schönste 7. Seillänge von Seerenbachfall 2: in mäandrierender Linie geht es über Eisbalkone und Blumenkohle dem Weg des geringsten Widerstandes aufwärts (60m, WI5-). Danach führt eine Genusslänge (8. SL, 60m, WI3) in sehr schönem Kompakteis zum Top von Fall 2.
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Start in die Cruxlänge (WI5-), Balkone und röhriges Eis |
Es folgt vorwiegend Gehgelände mit nur kurzer, trivialer Eisstufe (9. SL, 60m, WI1) an den Fuss der oberen Stufe, genannt Seerenbachfall 1. Diese könnte man, so wie es aussieht, vermutlich auch gut durch den Wald umgehen. Doch obwohl die Sonne hier, an dieser zurückversetzten Stufe, schon ziemlich reinknallt und zudem sehr viel Wasser fliesst, will Dani aufs Ganze gehen. Irgendwie ist die Stimmung am Fuss hier fast etwas gespenstisch. Die Wassermenge ist stark zyklisch, manchmal kommt nur wenig, danach spotzt es wieder, fast wie bei einem Geysir, mit allerhand seltsamen Geräuschen. Ambiente total!
Anyway, am linken Rand geht es ohne Dusche ab. Die ersten 30m werden kontinuierlich schwerer, bis es richtig losgeht. Erst kann man sich noch geschickt über einige Balkone durchmogeln, doch zuletzt muss ein veritabler Überhang überwunden werden, gefolgt von einer senkrechten Passage. Mir läuft es gut, sitzen doch die zwei, drei Pickelschläge am Überhang gleich auf Anhieb.
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Dani kämpft in der Crux (WI5+), den Überhang eben überwunden. |
Bald darauf bin ich auch oben: "wilde Sache, aber super gemacht", meine ich. "Hat mich jetzt anspruchsvoller als der Thron und Crack Baby gedünkt", antwortet Dani. Er relativiert aber sogleich, dass es auch an der psychischen Belastung durch die nur mässigen Schrauben gelegen haben könnte, oder an bereits etwas müden Armen, nach der langen Kletterei mit ziemlich schwerem Rucksack. Wie auch immer, wir sind oben, und vergeben dieser letzten, 10. Seillänge ein WI5+ und alle Sterne!
Für uns geht es weiter, hinauf nach Arvenbüel. Wegen einer Wildruhezone rechterhand sollte man unbedingt darauf Acht geben, den Fall nach links zu verlassen. Mit erst etwas Schneestapfen und danach einer geräumten Strasse entlang geht es zur Haltestelle in Arvenbüel. Das Postauto ist vor 5 Minuten losgefahren, Pech gehabt. Allerdings habe ich auch immer noch die Steigeisen an, und bis ich die vereisten Riemen gelöst habe, sind schon weitere 10 Minuten vergangen.
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Geschafft! Top of Seerenbachfall. |
Als wir unsere Ausrüstung wieder sortiert haben, macht sich gerade ein Iglubauer auf den Weg in die Garage zu seinem Automobil. Er ist so gnädig, uns zum Beginn der Einbahnstrasse nach Betlis zu shutteln. Als Dank dafür wird er natürlich mit den Räubergeschichten vom Seerenbachfall eingedeckt. Zuletzt bleiben uns noch 15 Minuten Fussmarsch zurück zum Strandbad. Obwohl wir die gelöste Zeit arg überzogen haben, setzte es keine Busse ab. Also los, Heizung voll aufdrehen, und rasch nach Hause, unter die heisse Dusche!
Facts:
Material: 12-14 Eisschrauben, genügend Ersatzhandschuhe
Bestechende Eisklettertour am höchsten Wasserfall der Schweiz. Durch die tiefe Lage und die grosse Wassermenge nur während ausgeprägten Kälteperioden und bevorzugt bei bedecktem Himmel zu begehen. Die Kletterei ist nie extrem schwierig, aber eigentlich durchgehend sehr lohnend. Für mich persönlich ist es ganz sicher die mit Abstand schönste Wasserfall-Eistour, welche ich bisher begehen konnte. Von früheren Begehungen konnten wir nichts in Erfahrung bringen, somit dürfte es sich um eine Erstbegehung handeln.
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