Die Glärnisch Nordwand ist ca. 8km breit und über 2000m hoch. Eine ganz imposante Wand also, mit diesen Parametern sogar alpenweit ein richtig grosses Ding. Trotzdem hat sie in der alpinen Szene bisher wenig Beachtung gefunden, ist nicht weitherum bekannnt. Woran es liegt?!? Vielleicht an der relativ geringen Gipfelhöhe von nur gut 2900m?!? Eventuell an der nicht immer überragenden Felsqualität?!? Oder handelt es sich einfach um eine der unerklärbaren Anomalien in der Kletterwelt, die es immer wieder gibt?!? Einer der wenigen Wege durch die grosse Mauer ist die Chalttäli-Route. Auf einem etwas verschlungenen Pfad überwindet sie die 2000m-Wand, ohne dass man dabei auf nennenswerte technische Schwierigkeiten trifft. Zwar handelt es sich dabei durchaus um einen lokalen Klassiker, der im Frühjahr bei guten Bedingungen regelmässig Begehungen sieht. Dass aber eine Tour von diesem Zuschnitt nicht regelrecht überrannt wird, erstaunt doch ein wenig.
Die breite Glärnisch Nordwand mit der Chalttäli-Route von vis-à-vis gesehen. Foto: P. Straub auf hikr.org. |
Schon lange Jahre hatte ich die Tour durchs Chalttäli auf dem Radar. Schon seit jeher war klar, dass der Weg zurück zum Ausgangspunkt beim Hinter Saggberg, d.h. der Abstieg über die Normalroute vom Vrenelisgärtli via Glärnischhütte, und der Hatscher entlang vom See ein sehr weiter sein würde. Und seit ich mit dem Gleitschirmfliegen in Kontakt gekommen war, war die Erkenntnis da, dass man diese Tour idealerweise mit einem Flug verbinden würde, was den Abstieg zu einem Kinderspiel macht. Daher hatte ich das Chalttäli natürlicherweise ziemlich vorne in meinem Gedankenspiel, als ich mir in diesem Frühjahr endlich eine Ultraleicht-Flugausrüstung anschaffte. Nun ist die Tour von A-Z, d.h. vom Aufstieg bis zum Flug, perfekt gelungen. Die Ausgabe für das Flugmaterial hat sich daher zumindest gefühlsmässig bereits amortisiert.
Während man die Chalttäli-Route früher noch fast ganzjährig begehen konnte, gilt es heute im Zuge der Klimaerwärmung und der fortschreitenden Ausaperung das richtige Zeitfenster zu treffen. Es darf nicht zu viel Schnee haben, aber auch nicht zu wenig und natürlich soll es sich dabei um eine gut verfestigte, kompakte Unterlage handeln. Darüber hinaus ist's kommod, wenn die Hänge bis hinauf zum Chnorren (P.2210) bereits ausgeapert sind. Normalerweise trifft man von Mitte Mai bis Mitte Juni auf die besten Bedingungen, ausnahmsweise mag es auch einmal im Spätherbst ideal sein. Nun denn, nach dem schneereichen Winter 2017/2018 und dem extrem warmen Frühjahr 2018 waren die Bedingungen gegeben. Als dann noch eine Strahlungsnacht und am Folgetag leichter NW-Wind auf Gipfelhöhe angesagt waren, durfte es kein Zögern mehr geben.
Stimmungsbild aus der Nordwand, hier im Couloir bei den 'Chrumme Würm". |
Während man im Chalttäli zwar auf keine wirklichen technischen Schwierigkeiten stösst und die Tour in aller Regel seilfrei macht (sichern kann man sowieso kaum!), so ist es eben doch keine Wanderung, sondern eine alpine Unternehmung, die entsprechend seriös angegangen werden will. Sprich auch mit einem ausreichend frühen Aufbruch nach einer klaren Nacht. Ist der Schnee einmal aufgeweicht und seifig, so werden die vielen, exponierten Querungen im 50-Grad-Gelände schnell einmal kritisch, zudem fallen bei schmelzendem Schnee auch gerne Steine (und loses Geröll hat es beileibe genügend in dieser Wand). So hiess es, den Wecker bereits auf 2.50 Uhr zu stellen, damit wir um Punkt 4.00 Uhr losgehen konnten. Auf die Platzierung eines Autos am anderen Seeende verzichteten wir, schliesslich waren wir davon überzeugt, per Gleitschirm absteigen zu können.
Im Schein der Stirnlampen ging's hinauf vom P.1048 via Tschingel und Vorder Schlattalpli zum Mittelstafel. Man folgt zwar unmarkierten, aber deutlichen Bergpfaden, die Orientierung kein Problem. Von den Alpgebäuden beim Mittelstafel quert man horizontal auf Wegspuren ins Chalttäli hinein. Noch vor dem Bach biegt man, nun weglos, bei Chueplangge links ab und steigt die gerölligen Hänge hinauf. Weiter oben an offensichtlicher Stelle überquert man den Bach und erreicht über Gras und Geröll die Mittelmoräne der Firnfelder im Chalttäli. Auf dieser geht's hinauf bis zu deren Ende auf ~1715m. Es war inzwischen erst gut 5.00 Uhr, da waren wir also zügig aufgestiegen. Wir konnten nun die Stirnlampen ausschalten, das Timing hatte perfekt gepasst - es macht Sinn, wenn man ab dieser Stelle über Tageslicht und Weitsicht verfügt. Ebenso nahmen wir die Pickel zur Hand, die Steigeisen konnten vorerst jedoch im Rucksack bleiben.
Ein schlechtes Foto, ich weiss, aber es zeigt so gut wie möglich den Einstieg aufs Band, das auf die Grashänge vom Chnorren leitet. |
Sieht easy aus, ist aber die Schlüsselstelle auf dem Weg zum Chnorren: die ersten Meter, bis das Band breiter wird. |
Das Schneefeld wird leicht links aufwärts gequert, es gilt den ca. 40hm weiter oben liegenden Einstieg in das Band zu finden, welches auf die Grashänge vom Chnorren leitet. Die Orientierung ist nicht weiter schwierig, unterhalb der auffällig gebänderten Felswand ist man richtig. Gleich die ersten Meter von diesem Band sind abschüssig und etwas 'gschüderig', eigentlich gleich die schwierigste Stelle bis hinauf zum Chnorren. Danach wird das Band deutlich breiter, wenig später biegt man um die Ecke und ist auf den Grashängen angelangt. Auf diesen geht's der Nase nach hinauf. Hier eine Routenbeschreibung anzugeben ist nahezu unmöglich, es gibt so viele Varianten. Auf jeden Fall muss man nirgends wirklich klettern (höchstens ein paar Züge kraxeln), ansonsten ist man falsch. Zu Wissen braucht man, dass man zuletzt nach rechts auf die NW-Hänge des Chnorren ausweicht und diesen nicht in direkter Linie ersteigt. Mehr braucht's nicht. Das Gelände ist gut gangbar, die Planggen trittig und nicht glatt. Ich würde das auf ein T5 veranschlagen - in etwa wie ein Wendenzustieg, einfach ohne Wegspuren.
Auf dem Chnorren (P.2210) trafen wir gut 2:00 Stunden nach unserem Aufbruch ein. Nun hatten wir bereits 1200hm und damit fast 2/3 der gesamten Höhendifferenz im Kasten. Man könnte denken, dass der Gipfel bereits zum Greifen nah sei, aber dieser Eindruck täuscht doch sehr. Der flache Rücken des Chnorren bietet sich jedoch sehr als Frühstücksplatz an, wir machten gerne davon Gebrauch und montierten gleich die Steigeisen. Meist wird es sich jedoch lohnen, noch bis hinauf zum ersten Band oder gar dessen Ende damit zu warten. Nun geht's nämlich vom Chnorren erst dem Rücken entlang und dann leicht linkshaltend hinauf über ein paar einfache Stufen zu eben diesem ersten Band. Um es zu gewinnen, muss eigentlich die einzige, kurze Kletterstelle der Wand gemeistert werden. Es sind allerdings nur 2-3m, nicht exponiert und etwa ein Zweier. Doch dann wird's gleich deutlich ernster. Wir hatten die Wahl, die Linksquerung auf diesem ersten Band entweder an seinem unteren Ende im geröllig-lottrigen Fels, oder oberhalb im steilen Schnee zu gehen. Sofort war gehörig Exposition da, Fehler sind hier keine mehr erlaubt.
Linksquerung auf dem ersten Band. An sich einfaches Gelände, aber eben sehr exponiert, Fehler sind da keine erlaubt. |
Nach ~150-200m an linksansteigender Querung erreicht man das Couloir, das rechts an den 'Chrumme Würm' vorbeiführt. Diese markanten Felsformationen sind wirklich sehr sehenswert und einzigartig. Teilweise könnte man sogar richtig Kaminklettern darin! Das Couloir ist meist so um 45 Grad steil, hier kann man sich wieder ein bisschen entspannen. Es geht darin ~140hm aufwärts, bis fast zur markanten Felswand hinauf, wo der grosse Quergang beginnt. Man hüte sich davor, bereits eine Etage zu tief nach rechts abzubiegen. Der Quergang ist mit einer Länge von ~800m eine halbe Weltreise. Es geht meist horizontal dahin, jedoch mit etwas Auf und Ab und auf der ganzen Strecke werden brutto ungefähr 50hm vernichtet (netto sind's wohl über 100hm). Die ersten 300m des Quergangs, bis man wieder oberhalb vom Chnorren-Sporn ist, sind dabei deutlich schwieriger wie der zweite Teil. Die Steilheit des Geländes erreicht bisweilen (je nach Schneeverhältnissen) 50-55 Grad. Gefühlt befindet man sich wie auf einem Kirchendach, unterhalb folgt nur noch Luft bis hinunter zum Klöntalersee. An sich technisch unschwierig, jedoch unglaublich exponiert, es gibt wenig Fehlertoleranz und sichern ist eigentlich unmöglich. Fixpunkte gibt's keine - wenn, dann müsste man sich mit mobilen Sicherungen oder Schlaghaken im Fels welche schaffen (die Felsstruktur eignet sich dafür nur bedingt!) oder T-Anker im Firn verwenden.
Im Couloir, das rechts an den 'Chrumme Würm' vorbeiführt. Himmelsleiter mit grandiosem Tiefblick zum Klöntalersee. |
Erwähnt sei auch noch, dass es durchaus möglich ist, vom Chnorren direkt hinauf zu steigen. Dabei ist aber mindestens eine brüchige Felsstufe zu meistern, welche zwingend und eigentlich ohne Sicherungsmöglichkeit ein paar Züge im dritten Grad verlangt. Das ist sicher noch eine Spur ernster wie der Weg durchs Couloir bei den 'Chrumme Würm'. Wie auch immer, nach ein paar aufregenden Momenten ging's für uns einfacher dahin. Erwähnt sei allerdings, dass wir von richtig guten Schneebedingungen profitieren konnten. Es war zwar nicht richtig gefroren, dafür gab es schön tiefe und dennoch solide Tritte. Ebenso konnte man den Pickel solide im firnartigen Schnee versenken, so dass dieser beinahe einen Elefanten gehalten hätte. So fühlte man sich natürlich stets sicher. Eine ganz andere Dimension bekommt diese Querung, wenn der Schnee entweder seifig-rutschig oder hartgefroren ist - puh! Ebenfalls ungünstig ist natürlich, wenn es bereits ausgeapert hat. Der hervortretende Fels ist brüchig-schuttig-heikel.
Eine der zapfigeren Stellen im 800m-Quergang, die Exposition ist wirklich atemberaubend! |
Gegen Ende wird das Gelände im 800m-Quergang einfacher. Hinter der Akteurin mit rotem Helm die 'Chrumme Würm'. |
Vom Chnorren bis zum Beginn des Ausstiegscouloirs hatten wir schliesslich beinahe 2 Stunden gebraucht, wir mussten jedoch auch den ganzen Weg spuren. In Luftlinie wäre es eigentlich eine kurze Wegstrecke und nur gut 200hm, aber wie immer, alles ist eben relativ. Das Ausstiegscouloir ist übrigens problemlos zu finden. Hier gibt's keine Fragezeichen: es ist das erste, breite Couloir, wo ein hinaufsteigen einfach möglich ist. Mit dem Ende der Quererei war auch klar, dass man nun wieder Fahrt aufnehmen könnte, sofern noch genügend Saft in den Beinen vorhanden ist. Immerhin warteten noch beinahe 500hm an Stapferei in idealem Trittschnee. Inzwischen hatten sich alle 6 Personen, welche an diesem Tag durch die Wand stiegen vereint. Erstens war man sich (wie erstaunlich, oder eben doch nicht?!?) bereits persönlich bekannt und zweitens funktioniert an solchen Orten das Teamwork ja sowieso meistens gut. Das Ausstiegscouloir ist wiederum eher von der 45 Grad-Sorte, daher problemlos. Der ominöse Klemmblock, der bei stärkerer Ausaperung zu Tage tritt und eine Umgehung rechts im Fels fordert, tauchte nicht auf - er war noch zugeschneit. Ansonsten gilt es einfach, immer im Hauptcouloir zu bleiben und keinen der nach rechts abzweigenden Äste zu wählen.
Das rund 45 Grad steile Ausstiegscouloir von unten... |
...und von oben. |
Schliesslich senkte sich die Horizontlinie und wir erreichten den Grat auf 2800m. Wieder einmal hatten wir den Nordwandmoment - jener, wo einem die Sonne das erste Mal ins Gesicht scheint. Spannend war's für uns natürlich noch aus einem anderen Grund. Hier würde sich bereits weisen, wie die Windverhältnisse im Gipfelbereich sein könnten. Es wehte eine leichte Brise aus NW, von der Stelle wo wir den Grat erreicht hatten, wäre ein Start möglich gewesen. Was für eine Erleichterung. So konnten wir frohen Mutes dem Gipfel entgegen schreiten. Über gerölligen, von unzähligen Steigeisen zerkratzten Fels ging es hinauf. Schliesslich war es gerade gut 9.00 Uhr, bis wir nach rund 5:00 Stunden Aufstieg die etwas fragwürdige, aus ortsfremdem Stein gefertigte, anbetonierte Gipfelbank erreicht hatten. Auch hier waren die Windverhältnisse unserem Flugvorhaben dienlich, somit konnten wir beruhigt Gipfelrast abhalten. Während wir oben waren, trafen auch gleich noch zwei Tourengänger die über den Guppengrat aufstiegen ein. Von der Normalroute kam hingegen niemand herauf.
Idealer Startplatz unmittelbar unter dem Gipfelkreuz vom Vrenelisgärtli. |
Perfekte Bedingungen, ready to go! |
Bevor sich unsere Mitstreiter an den noch sehr langen Abstieg machten, übergaben sie uns dankend ihre Autoschlüssel. So war es möglich, ihnen die Blechkarossen am See unten zu platzieren und sie ihnen damit wenigstens ein Stück weit näher zu bringen. Dies würde ihnen am Ende des Tages den Gegenanstieg von 250hm vom See hinauf zum Hinter Saggberg ersparen. Wir indessen präparierten unsere Schirme unmittelbar beim Gipfelkreuz. Der Schneehang weist hier optimale Neigung auf. Nachdem es nicht vereist war, konnten wir uns auch gleich der Steigeisen entledigen (eine Landung mit Steigeisen kann bei schlechten Verhältnissen problematisch und bei guten problemlos sein). Dass wir hier problemlos und sicher in die Luft kommen würden, daran gab's keine Zweifel. Es gab leichten Vorwind, der Hang war ideal - einfach loslaufen und schon war man in der dritten Dimension. Da hätte einem jeder Anfänger den Schirm stehlen können, nur gut dass diese dies nicht wussten ;-) Der Flug hinunter zum Ausgangspunkt war dann purer Genuss, obendrein bot er herrliche Ausblicke in die eben begangene Nordwand, mit etwas Morgenthermik liess er sich sogar ein wenig verlängen. Sanft setzten wir unmittelbar neben dem Parkplatz auf. Nun hiess es nur noch die Schirme zu falten. Bereits vor Mittag waren wir auf dem Heimweg, rechtzeitig zum Essen war ich um ein grandioses Abenteuer reicher daheim. So genoss ich den Nachmittag dann mit "what ordinary people do" - einem Besuch im Freibad.
Facts
Vrenelisgärtli - Chalttäli AD+ III 2a 45-55° - 1200hm - Erste Begehung fraglich, vermutlich 1899
Material: Seil & Sicherungsmaterial verzichtbar, 2 Pickel oder moderate Eisgeräte, Steigeisen, Helm
Sehr imposante Tour durch die insgesamt 2000m hohe Glärnisch Nordwand, welche auf der idealen Route nur mässige technische Schwierigkeiten beinhaltet. Im Fels wird der zweite Grad nicht überschritten, das Grasgelände hinauf zum Chnorren ist im Bereich T5/+ nicht haarsträubend und auch im stellenweise bis zu 55° steilen Firn muss man keine Wunderdinge vollbringen. Trotzdem darf man die Tour absolut nicht unterschätzen, vor allem weil sie über rund 1200hm permanent in Absturzgelände verläuft und viele exponierte Querungen aufweist, wo sicheres Steigeisengehen absolute Pflicht ist. Sichern ist in diesem Gelände über weite Strecken nahezu unmöglich, die Mitnahme von Seil und Sicherungsmaterial daher eigentlich obsolet. Wer sich's nicht zu 100% seilfrei zutraut, wählt besser einen anderen Weg auf's Vreneli. Weitere Anforderungen werden an die Wegfindung gestellt. Markierungen oder Spuren gibt's wenig bis keine - auch wenn der Weg an sich absolut logisch ist und stets dem Pfad des geringsten Widerstands folgt, so ist doch ein guter alpiner Orientierungssinn und etwas Selbstvertrauen vonnöten. Gefahren drohen auch durch Steinschlag und Schneerutsche, man plane den Zeitpunkt der Begehung also sorgfältig und breche tageszeitlich früh auf. Ideal ist's dann, wenn die Hänge bis zum Chnorren bereits aper sind, oberhalb auf den Bändern und in den Couloirs jedoch noch durchgehend guter Trittschnee liegt. Meist trifft man so grob von Mitte Mai bis Mitte Juni auf geeignete Bedingungen. Liegt harter Schnee bzw. Eis oder sind die Querungen und Couloirs bereits ausgeapert, so dass geröllbedeckter, brüchiger Fels zutage tritt, so steigen die Anforderungen deutlich an!
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