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Donnerstag, 14. Juni 2018

Vrenelisgärtli - Chalttäli (AD+)

Die Glärnisch Nordwand ist ca. 8km breit und über 2000m hoch. Eine ganz imposante Wand also, mit diesen Parametern sogar alpenweit ein richtig grosses Ding. Trotzdem hat sie in der alpinen Szene bisher wenig Beachtung gefunden, ist nicht weitherum bekannnt. Woran es liegt?!? Vielleicht an der relativ geringen Gipfelhöhe von nur gut 2900m?!? Eventuell an der nicht immer überragenden Felsqualität?!? Oder handelt es sich einfach um eine der unerklärbaren Anomalien in der Kletterwelt, die es immer wieder gibt?!? Einer der wenigen Wege durch die grosse Mauer ist die Chalttäli-Route. Auf einem etwas verschlungenen Pfad überwindet sie die 2000m-Wand, ohne dass man dabei auf nennenswerte technische Schwierigkeiten trifft. Zwar handelt es sich dabei durchaus um einen lokalen Klassiker, der im Frühjahr bei guten Bedingungen regelmässig Begehungen sieht. Dass aber eine Tour von diesem Zuschnitt nicht regelrecht überrannt wird, erstaunt doch ein wenig.

Die breite Glärnisch Nordwand mit der Chalttäli-Route von vis-à-vis gesehen. Foto: P. Straub auf hikr.org.
Schon lange Jahre hatte ich die Tour durchs Chalttäli auf dem Radar. Schon seit jeher war klar, dass der Weg zurück zum Ausgangspunkt beim Hinter Saggberg, d.h. der Abstieg über die Normalroute vom Vrenelisgärtli via Glärnischhütte, und der Hatscher entlang vom See ein sehr weiter sein würde. Und seit ich mit dem Gleitschirmfliegen in Kontakt gekommen war, war die Erkenntnis da, dass man diese Tour idealerweise mit einem Flug verbinden würde, was den Abstieg zu einem Kinderspiel macht. Daher hatte ich das Chalttäli natürlicherweise ziemlich vorne in meinem Gedankenspiel, als ich mir in diesem Frühjahr endlich eine Ultraleicht-Flugausrüstung anschaffte. Nun ist die Tour von A-Z, d.h. vom Aufstieg bis zum Flug, perfekt gelungen. Die Ausgabe für das Flugmaterial hat sich daher zumindest gefühlsmässig bereits amortisiert.

Während man die Chalttäli-Route früher noch fast ganzjährig begehen konnte, gilt es heute im Zuge der Klimaerwärmung und der fortschreitenden Ausaperung das richtige Zeitfenster zu treffen. Es darf nicht zu viel Schnee haben, aber auch nicht zu wenig und natürlich soll es sich dabei um eine gut verfestigte, kompakte Unterlage handeln. Darüber hinaus ist's kommod, wenn die Hänge bis hinauf zum Chnorren (P.2210) bereits ausgeapert sind. Normalerweise trifft man von Mitte Mai bis Mitte Juni auf die besten Bedingungen, ausnahmsweise mag es auch einmal im Spätherbst ideal sein. Nun denn, nach dem schneereichen Winter 2017/2018 und dem extrem warmen Frühjahr 2018 waren die Bedingungen gegeben. Als dann noch eine Strahlungsnacht und am Folgetag leichter NW-Wind auf Gipfelhöhe angesagt waren, durfte es kein Zögern mehr geben.

Stimmungsbild aus der Nordwand, hier im Couloir bei den 'Chrumme Würm".
Während man im Chalttäli zwar auf keine wirklichen technischen Schwierigkeiten stösst und die Tour in aller Regel seilfrei macht (sichern kann man sowieso kaum!), so ist es eben doch keine Wanderung, sondern eine alpine Unternehmung, die entsprechend seriös angegangen werden will. Sprich auch mit einem ausreichend frühen Aufbruch nach einer klaren Nacht. Ist der Schnee einmal aufgeweicht und seifig, so werden die vielen, exponierten Querungen im 50-Grad-Gelände schnell einmal kritisch, zudem fallen bei schmelzendem Schnee auch gerne Steine (und loses Geröll hat es beileibe genügend in dieser Wand). So hiess es, den Wecker bereits auf 2.50 Uhr zu stellen, damit wir um Punkt 4.00 Uhr losgehen konnten. Auf die Platzierung eines Autos am anderen Seeende verzichteten wir, schliesslich waren wir davon überzeugt, per Gleitschirm absteigen zu können.

Im Schein der Stirnlampen ging's hinauf vom P.1048 via Tschingel und Vorder Schlattalpli zum Mittelstafel. Man folgt zwar unmarkierten, aber deutlichen Bergpfaden, die Orientierung kein Problem. Von den Alpgebäuden beim Mittelstafel quert man horizontal auf Wegspuren ins Chalttäli hinein. Noch vor dem Bach biegt man, nun weglos, bei Chueplangge links ab und steigt die gerölligen Hänge hinauf. Weiter oben an offensichtlicher Stelle überquert man den Bach und erreicht über Gras und Geröll die Mittelmoräne der Firnfelder im Chalttäli. Auf dieser geht's hinauf bis zu deren Ende auf ~1715m. Es war inzwischen erst gut 5.00 Uhr, da waren wir also zügig aufgestiegen. Wir konnten nun die Stirnlampen ausschalten, das Timing hatte perfekt gepasst - es macht Sinn, wenn man ab dieser Stelle über Tageslicht und Weitsicht verfügt. Ebenso nahmen wir die Pickel zur Hand, die Steigeisen konnten vorerst jedoch im Rucksack bleiben.

Ein schlechtes Foto, ich weiss, aber es zeigt so gut wie möglich den Einstieg aufs Band, das auf die Grashänge vom Chnorren leitet.
Sieht easy aus, ist aber die Schlüsselstelle auf dem Weg zum Chnorren: die ersten Meter, bis das Band breiter wird.
Das Schneefeld wird leicht links aufwärts gequert, es gilt den ca. 40hm weiter oben liegenden Einstieg in das Band zu finden, welches auf die Grashänge vom Chnorren leitet. Die Orientierung ist nicht weiter schwierig, unterhalb der auffällig gebänderten Felswand ist man richtig. Gleich die ersten Meter von diesem Band sind abschüssig und etwas 'gschüderig', eigentlich gleich die schwierigste Stelle bis hinauf zum Chnorren. Danach wird das Band deutlich breiter, wenig später biegt man um die Ecke und ist auf den Grashängen angelangt. Auf diesen geht's der Nase nach hinauf. Hier eine Routenbeschreibung anzugeben ist nahezu unmöglich, es gibt so viele Varianten. Auf jeden Fall muss man nirgends wirklich klettern (höchstens ein paar Züge kraxeln), ansonsten ist man falsch. Zu Wissen braucht man, dass man zuletzt nach rechts auf die NW-Hänge des Chnorren ausweicht und diesen nicht in direkter Linie ersteigt. Mehr braucht's nicht. Das Gelände ist gut gangbar, die Planggen trittig und nicht glatt. Ich würde das auf ein T5 veranschlagen - in etwa wie ein Wendenzustieg, einfach ohne Wegspuren.

Auf dem Chnorren (P.2210) trafen wir gut 2:00 Stunden nach unserem Aufbruch ein. Nun hatten wir bereits 1200hm und damit fast 2/3 der gesamten Höhendifferenz im Kasten. Man könnte denken, dass der Gipfel bereits zum Greifen nah sei, aber dieser Eindruck täuscht doch sehr. Der flache Rücken des Chnorren bietet sich jedoch sehr als Frühstücksplatz an, wir machten gerne davon Gebrauch und montierten gleich die Steigeisen. Meist wird es sich jedoch lohnen, noch bis hinauf zum ersten Band oder gar dessen Ende damit zu warten. Nun geht's nämlich vom Chnorren erst dem Rücken entlang und dann leicht linkshaltend hinauf über ein paar einfache Stufen zu eben diesem ersten Band. Um es zu gewinnen, muss eigentlich die einzige, kurze Kletterstelle der Wand gemeistert werden. Es sind allerdings nur 2-3m, nicht exponiert und etwa ein Zweier. Doch dann wird's gleich deutlich ernster. Wir hatten die Wahl, die Linksquerung auf diesem ersten Band entweder an seinem unteren Ende im geröllig-lottrigen Fels, oder oberhalb im steilen Schnee zu gehen. Sofort war gehörig Exposition da, Fehler sind hier keine mehr erlaubt.

Das ist (sic!) der Cruxmove der Chälttali-Route, d.h. der gesamten 2000m-Nordwand. Von der Akteurin elegant mit einem Dynamo an den (losen) Henkel gelöst ;-). Da muss man auch erst einmal im richtigen Moment den Auslöser drücken, um den entscheidenden Sekundenbruchteil in einem 5-stündigen Aufstieg einzufangen :-) 
Linksquerung auf dem ersten Band. An sich einfaches Gelände, aber eben sehr exponiert, Fehler sind da keine erlaubt.
Nach ~150-200m an linksansteigender Querung erreicht man das Couloir, das rechts an den 'Chrumme Würm' vorbeiführt. Diese markanten Felsformationen sind wirklich sehr sehenswert und einzigartig. Teilweise könnte man sogar richtig Kaminklettern darin! Das Couloir ist meist so um 45 Grad steil, hier kann man sich wieder ein bisschen entspannen. Es geht darin ~140hm aufwärts, bis fast zur markanten Felswand hinauf, wo der grosse Quergang beginnt. Man hüte sich davor, bereits eine Etage zu tief nach rechts abzubiegen. Der Quergang ist mit einer Länge von ~800m eine halbe Weltreise. Es geht meist horizontal dahin, jedoch mit etwas Auf und Ab und auf der ganzen Strecke werden brutto ungefähr 50hm vernichtet (netto sind's wohl über 100hm). Die ersten 300m des Quergangs, bis man wieder oberhalb vom Chnorren-Sporn ist, sind dabei deutlich schwieriger wie der zweite Teil. Die Steilheit des Geländes erreicht bisweilen (je nach Schneeverhältnissen) 50-55 Grad. Gefühlt befindet man sich wie auf einem Kirchendach, unterhalb folgt nur noch Luft bis hinunter zum Klöntalersee. An sich technisch unschwierig, jedoch unglaublich exponiert, es gibt wenig Fehlertoleranz und sichern ist eigentlich unmöglich. Fixpunkte gibt's keine - wenn, dann müsste man sich mit mobilen Sicherungen oder Schlaghaken im Fels welche schaffen (die Felsstruktur eignet sich dafür nur bedingt!) oder T-Anker im Firn verwenden.

Im Couloir, das rechts an den 'Chrumme Würm' vorbeiführt. Himmelsleiter mit grandiosem Tiefblick zum Klöntalersee.
Erwähnt sei auch noch, dass es durchaus möglich ist, vom Chnorren direkt hinauf zu steigen. Dabei ist aber mindestens eine brüchige Felsstufe zu meistern, welche zwingend und eigentlich ohne Sicherungsmöglichkeit ein paar Züge im dritten Grad verlangt. Das ist sicher noch eine Spur ernster wie der Weg durchs Couloir bei den 'Chrumme Würm'. Wie auch immer, nach ein paar aufregenden Momenten ging's für uns einfacher dahin. Erwähnt sei allerdings, dass wir von richtig guten Schneebedingungen profitieren konnten. Es war zwar nicht richtig gefroren, dafür gab es schön tiefe und dennoch solide Tritte. Ebenso konnte man den Pickel solide im firnartigen Schnee versenken, so dass dieser beinahe einen Elefanten gehalten hätte. So fühlte man sich natürlich stets sicher. Eine ganz andere Dimension bekommt diese Querung, wenn der Schnee entweder seifig-rutschig oder hartgefroren ist - puh! Ebenfalls ungünstig ist natürlich, wenn es bereits ausgeapert hat. Der hervortretende Fels ist brüchig-schuttig-heikel.

Eine der zapfigeren Stellen im 800m-Quergang, die Exposition ist wirklich atemberaubend!
Gegen Ende wird das Gelände im 800m-Quergang einfacher. Hinter der Akteurin mit rotem Helm die 'Chrumme Würm'.
Vom Chnorren bis zum Beginn des Ausstiegscouloirs hatten wir schliesslich beinahe 2 Stunden gebraucht, wir mussten jedoch auch den ganzen Weg spuren. In Luftlinie wäre es eigentlich eine kurze Wegstrecke und nur gut 200hm, aber wie immer, alles ist eben relativ. Das Ausstiegscouloir ist übrigens problemlos zu finden. Hier gibt's keine Fragezeichen: es ist das erste, breite Couloir, wo ein hinaufsteigen einfach möglich ist. Mit dem Ende der Quererei war auch klar, dass man nun wieder Fahrt aufnehmen könnte, sofern noch genügend Saft  in den Beinen vorhanden ist. Immerhin warteten noch beinahe 500hm an Stapferei in idealem Trittschnee. Inzwischen hatten sich alle 6 Personen, welche an diesem Tag durch die Wand stiegen vereint. Erstens war man sich (wie erstaunlich, oder eben doch nicht?!?) bereits persönlich bekannt und zweitens funktioniert an solchen Orten das Teamwork ja sowieso meistens gut. Das Ausstiegscouloir ist wiederum eher von der 45 Grad-Sorte, daher problemlos. Der ominöse Klemmblock, der bei stärkerer Ausaperung zu Tage tritt und eine Umgehung rechts im Fels fordert, tauchte nicht auf - er war noch zugeschneit. Ansonsten gilt es einfach, immer im Hauptcouloir zu bleiben und keinen der nach rechts abzweigenden Äste zu wählen.

Das rund 45 Grad steile Ausstiegscouloir von unten...
...und von oben.
Schliesslich senkte sich die Horizontlinie und wir erreichten den Grat auf 2800m. Wieder einmal hatten wir den Nordwandmoment - jener, wo einem die Sonne das erste Mal ins Gesicht scheint. Spannend war's für uns natürlich noch aus einem anderen Grund. Hier würde sich bereits weisen, wie die Windverhältnisse im Gipfelbereich sein könnten. Es wehte eine leichte Brise aus NW, von der Stelle wo wir den Grat erreicht hatten, wäre ein Start möglich gewesen. Was für eine Erleichterung. So konnten wir frohen Mutes dem Gipfel entgegen schreiten. Über gerölligen, von unzähligen Steigeisen zerkratzten Fels ging es hinauf. Schliesslich war es gerade gut 9.00 Uhr, bis wir nach rund 5:00 Stunden Aufstieg die etwas fragwürdige, aus ortsfremdem Stein gefertigte, anbetonierte Gipfelbank erreicht hatten. Auch hier waren die Windverhältnisse unserem Flugvorhaben dienlich, somit konnten wir beruhigt Gipfelrast abhalten. Während wir oben waren, trafen auch gleich noch zwei Tourengänger die über den Guppengrat aufstiegen ein. Von der Normalroute kam hingegen niemand herauf.

Idealer Startplatz unmittelbar unter dem Gipfelkreuz vom Vrenelisgärtli.
Perfekte Bedingungen, ready to go!
Bevor sich unsere Mitstreiter an den noch sehr langen Abstieg machten, übergaben sie uns dankend ihre Autoschlüssel. So war es möglich, ihnen die Blechkarossen am See unten zu platzieren und sie ihnen damit wenigstens ein Stück weit näher zu bringen. Dies würde ihnen am Ende des Tages den Gegenanstieg von 250hm vom See hinauf zum Hinter Saggberg ersparen. Wir indessen präparierten unsere Schirme unmittelbar beim Gipfelkreuz. Der Schneehang weist hier optimale Neigung auf. Nachdem es nicht vereist war, konnten wir uns auch gleich der Steigeisen entledigen (eine Landung mit Steigeisen kann bei schlechten Verhältnissen problematisch und bei guten problemlos sein). Dass wir hier problemlos und sicher in die Luft kommen würden, daran gab's keine Zweifel. Es gab leichten Vorwind, der Hang war ideal - einfach loslaufen und schon war man in der dritten Dimension. Da hätte einem jeder Anfänger den Schirm stehlen können, nur gut dass diese dies nicht wussten ;-) Der Flug hinunter zum Ausgangspunkt war dann purer Genuss, obendrein bot er herrliche Ausblicke in die eben begangene Nordwand, mit etwas Morgenthermik liess er sich sogar ein wenig verlängen. Sanft setzten wir unmittelbar neben dem Parkplatz auf. Nun hiess es nur noch die Schirme zu falten. Bereits vor Mittag waren wir auf dem Heimweg, rechtzeitig zum Essen war ich um ein grandioses Abenteuer reicher daheim. So genoss ich den Nachmittag dann mit "what ordinary people do" - einem Besuch im Freibad.

Facts

Vrenelisgärtli - Chalttäli AD+ III 2a 45-55° - 1200hm - Erste Begehung fraglich, vermutlich 1899
Material: Seil & Sicherungsmaterial verzichtbar, 2 Pickel oder moderate Eisgeräte, Steigeisen, Helm

Sehr imposante Tour durch die insgesamt 2000m hohe Glärnisch Nordwand, welche auf der idealen Route nur mässige technische Schwierigkeiten beinhaltet. Im Fels wird der zweite Grad nicht überschritten, das Grasgelände hinauf zum Chnorren ist im Bereich T5/+ nicht haarsträubend und auch im stellenweise bis zu 55° steilen Firn muss man keine Wunderdinge vollbringen. Trotzdem darf man die Tour absolut nicht unterschätzen, vor allem weil sie über rund 1200hm permanent in Absturzgelände verläuft und viele exponierte Querungen aufweist, wo sicheres Steigeisengehen absolute Pflicht ist. Sichern ist in diesem Gelände über weite Strecken nahezu unmöglich, die Mitnahme von Seil und Sicherungsmaterial daher eigentlich obsolet. Wer sich's nicht zu 100% seilfrei zutraut, wählt besser einen anderen Weg auf's Vreneli. Weitere Anforderungen werden an die Wegfindung gestellt. Markierungen oder Spuren gibt's wenig bis keine - auch wenn der Weg an sich absolut logisch ist und stets dem Pfad des geringsten Widerstands folgt, so ist doch ein guter alpiner Orientierungssinn und etwas Selbstvertrauen vonnöten. Gefahren drohen auch durch Steinschlag und Schneerutsche, man plane den Zeitpunkt der Begehung also sorgfältig und breche tageszeitlich früh auf. Ideal ist's dann, wenn die Hänge bis zum Chnorren bereits aper sind, oberhalb auf den Bändern und in den Couloirs jedoch noch durchgehend guter Trittschnee liegt. Meist trifft man so grob von Mitte Mai bis Mitte Juni auf geeignete Bedingungen. Liegt harter Schnee bzw. Eis oder sind die Querungen und Couloirs bereits ausgeapert, so dass geröllbedeckter, brüchiger Fels zutage tritt, so steigen die Anforderungen deutlich an!

Donnerstag, 7. Juni 2018

Gross Windgällen (3187m) - Nordwand

Die Nordwand der Gross Windgällen fällt über 1000m sehr steil zum Seewlisee im Kanton Uri ab. Wenn man ein Foto davon aus entsprechender Perspektive sieht, so braucht man nicht lange zu fragen, warum man als Bergsteiger zu einer solchen Tour aufbricht - Schwung und Steilheit sind einzigartig, die Herausforderung klar gegeben. Nach einigem Werweissen, ob die Bedingungen wohl gut sein würden, einigten wir uns schliesslich auf einen Aufbruch. Mit im Gepäck war auch hier wieder die Ultraleicht-Flugausrüstung, welche uns nach getanem Wanddurchstieg bequem ins Tal bringen sollte. Es wurde schliesslich eine Tour, welche sich sehr gut zur Reflexion eignet, wie schmal der Grat zwischen einem 'excellent adventure' beim abenteuerlichen Bergsteigen und purem Desaster ist...

Noch Fragen offen?!? Das ist die Nordwand der Gross Windgällen, gesehen vom Seewlisee. Foto: Dolmar @ hikr.org
Vorgeschichte & Zustieg

Dieses Mal musste ich bereits um 1.45 Uhr aus den Federn, unsere Tour startete schliesslich um 3.45 Uhr auf der Brunnialp. Die Fahrbewilligung dahin ist für 20 CHF im Rest. Alpina in Unterschächen erhältlich - natürlich nicht um diese Tageszeit, man organisiere sich zuvor entsprechend. Danach wartete ein harter Marsch in den anbrechenden Tag hinein zum Einstieg. Wir wählten die Route via Griesstal und Sprossengrätli. Via Firnband und Zinggen wäre auch möglich und etwas kürzer, jedoch weglos, anstrengender und im Dunkeln nicht ganz einfach zu finden. Bis ins Griesstal hinauf war's schneefrei, danach gingen wir zu etwa 75% über kompakten Sommerschnee. Genau diese Route hatte ich übrigens im Winter 2 Jahre zuvor schon unter dem Motto "Ohne Fleiss kein Eis" begangen. Man muss das nur leicht modifizieren zu "Ohne Fleiss kein Preis" oder eben keine Nordwand, so passt's auch schon wieder. Wenn ich noch daran denke, dass ich 1.5 Jahre zuvor die Gross Ruchen Nordwand via 'Der dunkle Turm' bestiegen hatte und im vorangehenden Sommer den Bigwall der Grüter/Müller (21 SL, 7a) am Wiss Stöckli vom selben Ausgangspunkt anging, so darf man das hintere Brunnital als Adventure Playground der ersten Güteklasse bezeichnen. So standen wir schliesslich um 5.40 Uhr im Angesicht der Wand, welche aus Bottom-Up-Perspektive sehr felsig aussieht. Der Eindruck täuscht aber... Wobei die Ausaperung der Wand tatsächlich schon deutlich fortgeschritten war, dies war uns jedoch von der ideal positionierten Webcam auf Biel-Kinzig schon bekannt. Da sich Literatur und Web weitgehend einig darin sind, dass dies ideale Verhältnisse darstellen (siehe Infoteil für meine Einschätzung dazu), stiegen wir nach einem Frühstück und Montage der alpinen Komplettmontur um 6.10 Uhr in die Wand ein.

Frontalperspektive auf die Wand vom Sprossengrätli, inklusive Routenverlauf. Das Ausstiegscouloir und auch der Gipfel sind aus dieser Perspektive nicht sichtbar. Markant die Differenz in der Steilheit der Wand zwischen diesem Foto und demjenigen oben. Man wähle aus, was einem besser zusagt ;-)
Es war ein fantastischer Marsch in den anbrechenden Morgen hinein. 
Leer schlucken, rechts umgehen. Es gäbe an der Gross Windgällen nicht nur Bruch und Schotter (wie dieser Bericht hauptsächlich beschreibt), sondern es gibt auch Zonen mit Hammerfels so wie hier. Wanna put up some hardcore alpine sportclimb?!? Here you go...
Unterer Wandteil mit den Hauptschwierigkeiten

Zuerst geht's auf dem unteren Firnband nach rechts hinaus. Diese Passage ist ähnlich wie der grosse Quergang im Chalttäli - einfach nur halb so lang und der Tiefblick ist auch noch nicht ganz so enorm. Zum Runterfallen ist's natürlich trotzdem nix. Dort, wo sich das Band in der Wand verliert, geht's kurz nach oben und dann nach links. Mit den Beschreibungen aus Literatur und Web ("um eine Kante herum") konnte ich vor Ort wenig anfangen. Jedenfalls ist es ziemlich unklar, wo es am besten durchgeht, das Gelände ist sehr unübersichtlich. Tipp: generell tief bleiben. Man kann hier noch seilfrei durch, wenn es so schwierig wird, dass man sichern müsste, ist man falsch. Wir konnten hier eine vor uns gestartete Seilschaft überholen, welche zu hoch hinaufgestiegen war und bereits ans Seil musste. Über dennoch stellenweise heikles und exponiertes Gelände gelangten wir zur sogenannten Schneesichel, welche einfach nach links hinauf zur Schlüsselstelle führt (7.30 Uhr, 1:20h ab Einstieg). Durch ein eisig-kaltes Rinnsal ging's hier im Grad 4b mit Steigeisen eine Länge nach oben. Der Fels ist (wie überall in der Wand) brüchig, am angenehmsten zu klettern dünkte es mich noch direkt im Wasserlauf selber und geduscht hatte ich bei einem Aufstehen um 1.45 Uhr an diesem Tag ja natürlich auch noch nicht. Passt ja alles :-)

Auf dem Einstiegsband, ein sehr exponierter Morgenspaziergang.

Die Schneesichel, am Ende des Schneefelds setzt die Crux an, es geht rechts hinauf.

Yours truly in den steilen Auftaktmetern zu Beginn der Cruxlänge. Auf ein paar Metern ganz ordentlicher Fels.

Danach rechts hinaus und mitten durch das eiskalte Rinnsal. Wenn der Fels hier vereist ist, dann gute Nacht!
Zum Sichern ist die Lage in der Cruxlänge trotz zweier Bolts am Anfang prekär. Noch doofer ist's dann, wenn man oberhalb in flacheres Gelände kommt und vielleicht einmal Nachnehmen möchte. Einen Stand gibt's da nirgends, Möglichkeiten für mobile Sicherungen sind Fehlanzeige. Man steht einfach auf einem geneigten, schuttbedeckten Wandabschnitt, der Fels ist brüchig. War ich froh, dass ich ein paar Schlaghaken am Gurt hatte! Auch diese sind nicht einfach zu platzieren, schliesslich fand ich jedoch eine Ritze, wo ich ihn mit ein paar saftigen Schlägen eintreiben konnte. Damit war der 'Point of no Return' bereits erreicht. An diesem windigen Haken abzuseilen, wäre höchstens als Plan Y, also eigentlich gar nicht in Frage gekommen. Handyempfang gibt's in der Wand übrigens auch keinen, der Ruf nach dem Helikopter als Plan Z ist also auch keine Option. Aufgrund der Situation (es waren total 8 Leute vor Ort) entschieden wir uns für eine Art Himalaya-Style-Climbing, d.h. alle anderen stiegen am fixierten Seil nach und ich ging als einziger im Vorstieg. Ziemlich ungewöhnlich, doch zeitsparend und in dieser Situation absolut angebracht. Aufwärts sah es allerdings auch nicht so erbaulich aus. Oberhalb zeigte sich komplexes, unübersichtliches Felsgelände mit höchst unklarer Routenführung, also wollte der Spürhund ausgepackt werden. Schon immer wieder erstaunlich, wie man an einem solchen Ort stehen kann, keine Ahnung hat, wo es langgeht und zig Optionen offen wären. Dann steigt man dort durch, wo es einem am besten scheint. Zuhause checkt man dann im Nachhinein noch einmal alle Berichte im Web und sieht anhand der Fotos - ah ja, die anderen nahmen offenbar denselben Weg.

Nachstieg am fixierten Seil, dies ist der am Anfang überhängende, breite Riss, der im unteren Abschnitt beschrieben ist.
Vom Stand nach der Cruxlänge ging's +/- gerade nach oben über einen brüchigen Plattenbuckel hinweg auf schuttbedeckte Platten und dann ein Schneefeld und zuletzt etwas morsches Eis. An einer 3m hohen Felsstufe liess sich nach 40m ein akzeptabler Stand an 2 Cams einrichten. In der nächsten Länge wurde diese erklettert, um ein nächstes Band zu erreichen. Darauf sind wir über Geröll und Schnee nach rechts gequert. Nach ca. 25m eröffnet ein breiter Riss den Durchschlupf durch den Felsriegel darob. Wiederum fand sich ein akzeptabler Stand an 2 Cams an dessen Fuss. Dann hiess es zupacken, der ca. 7m hohe Riegel war zu Beginn überhängend. Dank guten Griffen und kantigem Fels trotz dem Rinnsal, welches darüber hinunter lief, gut zu erklettern. Oberhalb flacht das Gelände ab, man erreicht wieder ein Band. Zum Sichern liess sich hier nur 1 eher durchschnittliches Placement für einen Cam identifizieren, suboptimal. Von dieser Stelle leitet einen das Gelände weiter nach rechts. Wir rollten das Seil vorerst auf, obwohl eine kurze, brüchige Engstelle auf dem Band zu passieren war. Es folgte ein weiteres Schneefeld und wieder einmal die Frage wie weiter. Beim Aufstieg nach oben wartete eine weitere Stelle im Fels, abgeschlossen war der Pfeiler von einer steilen, senkrechten Passage. Linkerhand hätten sich 2 etwas weniger steile Rinnen angeboten, aber da lief so viel Wasser... sehr unangenehm. Nach rechts hätte man weiter queren können, allerdings sah das abschüssig-schuttig-brüchige Gelände wenig einladend aus. Zudem fielen dort drüben hin und wieder Steine runter. Somit war der Pfeiler wohl die schwierigste, aber die beste Option, also los.

Der Pfeiler mit der steilen, senkrechten oder gar leicht überhängenden Passage, mitunter der beste Fels in der Route.
Am Fuss des steilsten Abschnitt konnte ich meinen letzten Schlaghaken versenken, sonst gab's kaum Optionen zum Sichern. Doch der Pfeiler wartete mit dem besten Fels der ganzen Route auf, mit ein paar kräftigen Zügen an Henkelschuppen war die Sache rasch erledigt. Schwieriger gestaltete sich dann hingegen die Suche nach einem Standplatz. Schliesslich fand ich einen Batzen Resteis, wo ich eine 13er-Schraube sogar ganz eindrehen konnte. Damit waren wir beim nächsten Wandabschnitt angelangt (10.00 Uhr, 3:50h ab Einstieg, in Zweierseilschaft bestimmt eine Stunde weniger). Erst ein schuttbedeckt-brüchiger, geneigter Abschnitt im Fels, dann lange, um die 50 Grad steile Schneefelder führen hinauf zum Ausstiegscouloir. Dieses ist vorerst überhaupt nicht ersichtlich, es hilft also durchaus, wenn man (z.B. aufgrund von einem guten Wandfoto) eine Vorstellung davon hat, wohin man zielen sollte. Der Zugang zum Couloir wird durch eine ungute, brüchige Felsstufe versperrt. Ein paar heikle Moves hinauf, lottrige Querung nach links in eine Rinne und dort das noch vorhandene Resteis pfleglich behandeln, dies bei gehöriger Exposition, uff! Dann geht's vorerst durch eine Art Kessel nochmals etwas einfacher dahin, bis sich das Couloir verengt.

Impressionen aus dem mittleren Wandteil...

...eine gehörige Rutschbahn, und überall liegen Schutt und Steine herum.

Die ungute Bruchstufe am Eingang zum Ausstiegscouloir. Der Scary-Faktor auf dem Foto ist definitiv zu tief.
Durch das Ausstiegscouloir zum Gipfel

Schon bald wartete eine erste Stufe im Couloir. Der Schnee/Eis-Pfropf an dieser Stelle war sich bereits am Auflösen begriffen. Vorsichtig stiegen wir darüber hinweg, er hielt dem Körpergewicht zum Glück stand. Wenn er fehlt, so wartet mit der Stelle aus der überhängenden Gufel hinaus wohl eine ganz andere Herausforderung. Über Schnee ging's weiter zum nächsten Steilabschnitt. An dessen Fuss steckt nochmals ein BH, Zeit um das Seil wieder auszupacken. Über ein paar Meter im 75-Grad-Eis ging's weiter. Nun ist der Juni logischerweise nicht gerade die Hauptsaison zum Eisklettern, selbst auf 3000m nicht. Doch obwohl die Struktur bereits etwas hohl und morsch war, war's genügend stabil und gut kletterbar. Das Problem bestand eher darin, danach einen Standplatz zu bauen. Die Seitenwände einfach nur aus unendlich brüchigem Klötzlifels. Die beste Option entweder ein T-Anker oder kurz vor Seil aus doch noch die Möglichkeit, ein paar Cams zu versorgen. Damit noch nicht genug, nach einem weitere Schneeabschnitt wartet die finale Steilstufe, auch hier nochmals mit einem (derzeit schwierig zu erreichenden) BH an der rechten Seitenwand. Es wartete eine kurze, nahezu senkrechte Kletterei an einem 'Eis-Wasserfall'. Letzteres würde ich eher als Laienbezeichnung titulieren, hier allerdings absolut zutreffend. Wasser floss in Strömen, doch das Safteis liess sich echt noch gut klettern und so war diese Stufe rasch erledigt. Allerdings, es sei erwähnt, wenn hier das Eis fehlt, so ist diese (im Fels) überhängende Stufe aus der Gufel darunter sicherlich auch ziemlich problematisch. Der Stand oberhalb an einer guten Eisschraube war völlig ok.

Heikler Schnee/Eis-Pfropf im Ausstiegscouloir. Wenn er weg ist, wird's schwierig!
Die letzte, eisige Passage im Couloir. Deutlich angenehmer wie der Wühlschnee!
Ich hatte das Seil wieder fixiert und mich diesem entledigt und machte mich darauf, den letzten Abschnitt zu spuren. Der Schnee wurde je länger je fauler, an gewissen Passagen artete es in eine ziemliche Wühlerei aus. Umso angenehmer war's, weiter oben nochmals auf eine vereiste Passage zu treffen. Dann ging's dem Sattel zwischen W- und E-Gipfel entgegen, zuletzt über loses Geröll hinauf zu Meteostation und Gipfelbuch beim E-Gipfel. Um 12.30 Uhr traf ich dort ein, sprich nach 6:20h in der Wand. Nur zu zweit in der Wand wären davon bestimmt 1.5h eingespart worden, aber für die angetroffene Situation war das sehr gut sich aus der Affäre gezogen. Auf dem Gipfel warf ich als erstes einen Blick in die ENE-Flanke, über welche der Abstieg führt. Dieser hatte mir schon a priori Sorgen gemacht. Er wird schon ab 5.30 Uhr von der Sonne bestrichen, somit war klar, dass der Schnee hier bereits aufgeweicht wäre, egal wie lange wir für den Wanddurchstieg bräuchten. Zudem hatte ich diese Wand rund 10 Jahre zuvor einmal als Skitour begangen und doch als heftig steile Sache im Kopf. Doch gottseidank lag eine gut ausgetretene Spur (d.h. der Gipfel wurde auch von der Hütte via den Normalweg angegangen) und ganz so steil wie ich es in Erinnerung hatte, schien es doch auch nicht zu sein. Somit konnte ich ein wenig mit dem Gefühl "wir haben's geschafft" relaxen und warten, bis alle Leute den Gipfel erreicht hatten. Der Aufstieg war nämlich eine ziemlich nervenaufreibende Sache gewesen. Brüchig, schuttig, heikel, schlecht zu sichern, objektiv nicht ungefährlich, da an manchen Orten nur schon ein fallender Stein oder ein kleiner Schneerutsch verheerend hätte sein können. Auch wenn's mir klettertechnisch nicht schwierig gefallen war, so fühlte ich mich unterwegs doch stets angespannt.

Blick vom Gipfel runter zum Sattel zwischen W- und E-Gipfel, zwei Kletterer sind auf den letzten Aufstiegsmetern.
Abstieg mit Schrecken...

Um etwa 13.15 Uhr begannen wir schliesslich mit dem Abstieg. Der Schnee war zwar tief und aufgeweicht, die Tritte aber immer noch solide, somit ging das problemloser, wie ich befürchtet hatte. Allerdings ging's nicht lange, bis ich wieder einmal eiskalte Griffel hatte, die Handschuhe waren ja schon längst komplett durchnässt. Um weiter agil zu bleiben und sicher absteigen zu können, blieb ich auf einer Felsrippe stehen, um einen wieder einmal vaterländischen Kuhnagel zu behandeln. Der Rest der Truppe ging voraus. Plötzlich wurde ich mir aus dem Augenwinkel oder akustisch bewusst, ganz genau kann ich's nicht sagen, wie deutlich rechts von meiner Position ein Schneerutsch über die Wand abging. Ich war auf sicherem Grund, aber die anderen waren inzwischen in einer Rinne genau unterhalb. Sofort warnte ich, aber es war viel zu spät um zu flüchten. Es dauerte nur noch Sekunden, bis sie von den Schneemassen erfasst wurden. Eine Person wurde mitgerissen und stürzte in der Folge rund 200hm über die Flanke und zwei je rund 20m hohe Felsstufen ab. Ich möchte an dieser Stelle nicht mehr über die folgende, beklemmende Stunde schreiben, ausser dass eine rasche, sehr professionelle Bergung durch die Rega erfolgte, die Person schwer verletzt wurde und sich auf dem Weg der Besserung befindet. Sowie auch, dass ich es als fast unglaubliches Glück empfinde, dass das Schicksal hier nicht grausamer zugeschlagen hat und es eine Perspektive nach vorne gibt.

Two minutes before the shit hits the fan... genau hier ist's passiert.
Gross Windgällen ENE-Flanke, durch die 3 Schneefelder inkl. der 3 Felsriegel verläuft der Abstieg.
Schliesslich war der Helikopterlärm verstummt, eine beinahe schon unheimliche Stille war eingetreten und der Rest der Equipe stand wie begossene Pudel auf dem Stäfelfirn. Eigentlich genau hier hatten wir geplant, mit unseren Gleitschirmen zu starten und den 3-4 stündigen Abstieg ins Tal effizient zu verkürzen. Was nun?!? Die Good Vibes waren definitiv verflogen, unter Ausblendung der Umstände waren die Flugbedingungen aber perfekt. Hört man in diesem Moment auf den Kopf oder auf den Bauch?!? Vielleicht mag es an dieser Stelle erstaunlich scheinen, dass wir uns für einen Start entschieden. Doch ich denke, es ist in den Bergen eine absolut unverzichtbare Eigenschaft, jede Situation neu für sich, aufgrund von Wissen und Erfahrung nach vorne gerichtet rational zu beurteilen und sich im entscheidenden Moment nicht zu fest von den Emotionen leiten zu lassen. Die wirkliche Crux für mich war es sowieso gewesen, die Stelle wo der Absturz Minuten zuvor passiert war, im Abstieg sicher zu passieren. Nein, der Flug wäre nicht nötig gewesen. Aber er war gut und safe, 30 Minuten später setzten wir bei der Talstation der Golzernbahn auf. Die Tour war damit noch lange nicht beendet. Kurzfristig ging's vor allem darum, noch einmal zurück zur Brunnialp zum Einsammeln des dort stehenden Autos zu kommen und sicher nach Hause zu zurückzukehren. Um dort dann ausführlich über das Geschehen am Berg nachzudenken. Auch wenn man vor Ort gewisse Dinge ausblenden können soll, so wäre es töricht, über diese nicht im Nachhinein scharf zu reflektieren, alles an seinem Platz einzuordnen und für die Zukunft die richtigen Schlüsse zu ziehen. Nicht zu vergessen, dass diese Tour und ihre Folgen jemanden unter uns noch lange beschäftigen werden. Auch an dieser Stelle wünsche ich alles Gute zur Genesung.

That moment when you feel the freedom! Start bei perfekten äusseren Bedingungen auf dem Stäfelfirn.

Prima Thermik über der Windgällenhütte. Durfte nicht ganz ungenutzt bleiben...

Weil's so unglaublich cool aussieht, nochmals eins vom Gleitschirmstart. Am Horizont vis-à-vis der Oberalpstock.
Facts

Gross Windgällen - Nordwand TD IV 4b WI3 50-55° - 850hm - Brun/Wagner
Material: 1x50-60m-Seil, Camalots 0.3-1 plus 1-2 kleinere, 4 Eisschrauben, Sortiment Schlaghaken

Imposante, kombinierte Tour, welche über rund 1000m Höhendifferenz zum lieblichen Seewlisee abfällt. Die Kletterei ist technisch nie sonderlich schwierig, aber ernsthaft. Die Route eignet sich nur für kompetente Alpinisten, die mit schwieriger Wegfindung, schlechtem Fels und allen Arten von Eis und Schnee souverän umgehen können. Sicherungen sind oft schwierig anzubringen und längere Abschnitte sind eigentlich (nur schon aus Zeitgründen) nur seilfrei sinnvoll zu begehen. Unbedingt mit sollte ein Set an Cams von Mikro bis zum Camalot 1, für grössere gibt's wenig Placements, die Mitnahme von Keilen ist ein wenig Geschmackssache. Je nach der erwarteten Menge an Eiskletterei 4-6 Schrauben pro Seilschaft. Ebenso würde ich keinesfalls auf ein gut sortiertes Sortiment von Schlaghaken (mind. 5 Stück) verzichten. Eine besondere Schwierigkeit dieser Tour besteht darin, geeignete Bedingungen anzutreffen. Man beachte auch, dass ein Rückzug bald schwierig bis unmöglich ist und dass in der Wand kein Handyempfang vorhanden ist (Stand 2018, Swisscom).

Wissenswertes

Jahreszeit: die gängige Empfehlung lautet, diese Tour im Frühsommer (Mai-Juli) nach kalten Nächten anzugehen. Dies greift jedoch zu kurz. Ist die Ausaperung schon fortgeschritten, so droht nach echt kalten Nächten vereister Fels, was die Schwierigkeiten massiv erhöht. Ebenso ändert sich dadurch die Gefahr durch die vielen, herumliegenden Steine nicht und den lottrigen Fels nicht. Selbstverständlich darf es aber auch nicht zu warm sein, da sonst die Gefahr von durch den Schmelzprozess fallenden Steinen erheblich wird. Meine Recherchen im Nachhinein haben ergeben, dass die Tour (bei einer Handvoll Begehungen pro Jahr) meist um dieselbe Jahreszeit bei insgesamt ähnlichen Bedingungen angegangen wurde. Ich sehe folgende Optionen:

  • Man greift wie am Eiger bei Winterbedingungen an. Idealerweise ist der Schnee fest und in den Steilstufen hat es solides Eis und es liegt nirgendwo loser Pulverschnee herum. Die idealen Zeitfenster wären wohl Nov/Dez und März/April. Allerdings braucht's dann für Zu- und Abstieg Ski und diese müssen durch die Wand mit. Ein Foto von einer solchen Begehung im März 2017 zeigt, wie sogar die Cruxlänge genüsslich als WI3 in solidem, fett gewachsenem Eis geklettert werden konnte.
  • Von einer weiteren Begehung Anfang Mai 2014 wurde mir berichtet. Da war bis auf die Cruxlänge noch die ganze Wand verschneit und es konnte auf einer soliden Schneedecke sicher, zügig und angenehm gestiegen werden. Die Steinschlaggefahr wurde als sehr klein empfunden. Im Zu- und Abstieg waren die Verhältnisse ähnlich wie bei uns.
  • Ich würde explizit davon abraten, die Wand bei bereits fortgeschrittener Ausaperung (wie bei uns) anzugehen. Das objektiven Gefahren scheinen mir zu hoch. Fehlt in den Steilstufen im Ausstiegscouloir das Eis (was bei uns nicht der Fall war), so warten dort weitere, schwierige Stellen.
  • Noch schlechter (schwieriger) dürften die Bedingungen sein, wenn in den Kletterpassagen dünnes Wassereis oder unverfestigter Pulverschnee liegt. 
Blick auf die Cruxlänge nach der Schneesichel bei einer Winterbegehung im März 2017. Statt eine brüchig-nasse 4b wie bei uns wurde hier genüsslich und gut abgesichert im WI3-Eis gepickelt. Bestimmt die bessere und sicherere Option, auch wenn dann die Ski auf dem Rucksack mit durch die Wand müssen. Foto: D. Perret, engelbergmountainguide.ch.
Zugang: entweder von der Seilbahn Silenen-Chilcherbergen oder aus dem Brunnital. Sofern man bereits bis auf die Brunnialp fahren kann (mit Bewilligung für 20 CHF, erhältlich im Rest. Alpina in Unterschächen), so beinhaltet die zweite Option weniger Höhenmeter und erlaubt es, die Tour ohne Übernachtung anzugehen. Allerdings ist's immer noch eine eher weite Wanderung zum Einstieg und die Logistik zum Rückholen des Autos ist auch eher aufwändig. Am Seewlisee kann man gut biwakieren oder evtl. auch beim Älpler Quartier finden.

Abstieg: über den Normalweg in der ENE-Flanke. Das Problem besteht darin, dass man bei einer Begehung der Nordwand ab April kaum eine Chance hat, zu einer solch frühen Zeit auf dem Gipfel zu sein, dass der Abstieg noch in guten Bedingungen ist. Stellenweise sind Sicherungsstangen oder Einzelbolts vorhanden, jedoch nicht durchgehend. Vom Bergschrund sind's dann noch ~2000hm bis ins Tal oder ~1400hm bis zur Golzerenbahn.

Flug: vom Gipfel kann 'nicht' gestartet werden. Wobei, aus der Scharte zwischen W- und E-Gipfel... nicht gänzlich unmöglich, sowohl nach S wie nach N, jedoch nur bei perfekten Bedingungen und für wagemutige, besser mit einem Miniwing. Auf dem Stäfelfirn einfache Startplätze von E über S bis W. Landung im Maderanertal problemlos. Im Reusstal oft sehr starker Talwind. Achtung, die Gegend ist sehr föhnanfällig.

Video

Wer so lange durchgehalten und den ganzen Text gelesen hat und bis an diese Stelle von diesem Blog vorgestossen ist, hat nun das grosse Vergnüngen, sich das exzellenten Video von Pascal zu dieser Tour zu Gemüte zu führen. Viel Spass!


Dienstag, 20. März 2018

Rubihorn - Rubi Love (M7, 11 SL, Erstbegehung)

Meine erste Bekanntschaft mit dem Rubihorn war von der eher ruppigen Sorte. In der Ruby Tuesday wurde ich aufgrund von einem Bohrhakenausbruch (!) abgeworfen. Mit etwas auf die Zähne beissen konnten wir die Route damals komplettieren. Auf dem Heimweg stiegen wir schliesslich, meinereiner mit ein paar Schrammen und einem verstauchten Fuss, übers Geröllfeld am Wandfuss ab. Die Blessur war Grund genug, um hin und wieder stehen zu bleiben und den Blick in die Wand schweifen zu lassen. Welchen Blick?!? Natürlich den Erstbegehungs-Röntgenblick, der die Rubihorn Nordwand nach lockenden, logischen und machbaren Linien abscannte. Und tatsächlich, da war etwas! Mein Seilpartner Tobias, seinereiner bereits ein richtiger Rubihorn-Aficionado, war von der Idee gleichermassen begeistert. So wurden Pläne geschmiedet, 4 Wochen später im Januar 2014 ging's nach den Studium von vielen Wandbildern und dem Einzeichnen potenzieller Routenverläufe dann gemeinsam los. Fast auf den Tag genau 4 Jahre nach dem ersten Angriff konnten wir die Route, von A-Z ein Gemeinschaftsprojekt, im Januar 2018 vollenden.

Rubi Love! Ja, es ist eine imposante Wand und ein tolles Klettergebiet - und das Einrichten hat sehr viel Spass gemacht!

Wandbild mit Routenverlauf, eine imposante Sache mit ca. 300hm von Ein- zu Ausstieg.
Der Zustieg zur Rubihorn Nordwand beginnt in Reichenbach bei Oberstdorf (ca. 860m) in den Allgäuer Bergen. Das tönt nach einer fernen Destination, jedoch sind's von Zürich Nord/Ost weniger als 2 Fahrstunden, also gar nicht so extrem weit weg. Der Anmarsch umfasst nur gut 550hm und ist bei guten Verhältnissen in einer Stunde erledigt. Bis kurz vor der Gaisalpe (Gasthof, 1150m) kann man die als Schlittelbahn geräumte Fahrstrasse benützen, dann geht's bis nach der oberen Richteralpe (1200m) bequem dahin, erst der der letzte Abschnitt zum Wandfuss und Einstieg (ca. 1420m) hinauf ist dann steiler. Bei sehr wenig Schnee tritt ein mühseliges Geröllfeld zu Tage, bei weichem, tiefem Schnee ist viel Kondition erforderlich. Bei guten Bedingungen jedoch (und nur dann sollte man die Rubi Love angehen!) wird hingegen meist gespurt sein, die klassische Rubihorn Nordwand (M4) ist eine regional sehr begehrte und beliebte Tour. So wird man für den Zustieg in aller Regel auf Hilfsmittel wie Schneeschuhe oder Ski verzichten können. Der Einstieg in die Rubi Love am Fuss einer markanten Schlucht dürfte kaum zu verfehlen sein. Darüber hinaus ist er mit Schlaghaken, Seilstück und einem Herz markiert. Rollen wir nun Geschehnisse und Erlebnisse mit den einzelnen Seillängen auf:

Am Einstieg gibt's einen bequemen und sicheren Platz. Neu mit einigen Schlaghaken auch als Garderobe ausgestattet ;-)

Hier geht's los! Hinein in die Gedärme vom Berg, nahezu wie an der Civetta - Ambiente total.
L1, 40m, M3: Bei sehr üppiger Schneelage wird man noch weit auf der weissen Unterlage in die Schlucht hinaufsteigen können (45 Grad). Meist sind jedoch gleich zu Beginn zwei klemmblockartige Aufschwünge zu meistern (M3). Am Ende der Schneepassage trifft man dann auf die Felsen. Der Stand befindet sich einige felsige Meter (M3) höher. Man mag befinden, dass dieser unbequem sei und sich an einem unlogischen Ort befinde - dafür ist er durch einen Überhang geschützt. Für Kletterer mit einer harten Schädeldecke liesse sich hingegen auch am Ende des Schneefelds (BH, NH) Stand beziehen.

Noch im Morgengrauen unterwegs in L1 (M3) an unserem dritten Bohrtag. Der Sack drückt sehr schwer auf die Schultern!
L2, 35m, M4+: Nach dem Stand klettert man links am "Hookup Crack" (M4). Dieser ist clean geblieben, nimmt jedoch Cams willig auf. Im zweiten Teil dieser Seillänge gilt es dann 2x, in etwas glatte, v-förmige Verschneidungen zu steigen (M4+, je 1 BH). Beim Felsklettern würde man sich ob den Grasbüscheln im Grund der Verschneidungen stören, hier sind sie eine willkommene Hilfe (bitte pfleglich behandeln!). Zuletzt geht's dann nach rechts hinaus (BH) und hinauf (M3+) in die "Love Cave", die Nische unter der nächsten Wandstufe.

Vorstieg am clean belassenen 'Hook-up Crack' in L2 (M4+) am zweiten Bohrtag.

Yours Truly in der Love Cave am Ende von L2 (M4+). Die Fortsetzung mit der M7-Stelle direkt ob dem Kletterer.
L3, 35m, M7 oder M5+ A0: In der Love Cave verweilt man aus naheliegenden Gründen gerne noch ein wenig länger... nein, nicht wegen dem, was ihr meint. Sondern, weil die nächsten Meter gleich richtig schwierig zu klettern sind. Leicht überhängend geht's zur Sache, der Riss hat leider Offwidth-Breite und der Ausstieg ins flachere Gelände darob ist nicht allzu strukturiert. Wir schätzen diese Passage auf M7 (oder A0 an 2 BH). Auch die folgenden Meter sind nicht einfach (M5+) und erfordern quasi zwingend den Camalot 3. Schlauerweise hatten wir diesen zur Gewichtsersparnis am zweiten Bohrtag daheim gelassen. Mit Schwitzen, Stöhnen und Fluchen ging's dann doch. Nach einem dritten BH kommt man in etwas einfacheres Gelände, welches schliesslich zu einem Abschlussriegel (M4+, BH) führt. Vor allem der Ausstieg auf Schneefeld darob ist tricky, dieses führt einen dafür dann einfach (40 Grad) zum Stand vor der nächsten Wandstufe.

Nach dem schwierigen, felsigen Auftakt in L3 (M7) wartet am Ende noch eine 40 Grad steile Schneepassage...

...der Ausstieg von der leicht überhängenden Wandstufe aufs Schneefeld ist jedoch wegen den plattigen Felsen knifflig.
L4, 40m, M6: Hier wartet zuerst so richtig typische Rubihorn-Kletterei an mit Grasmutten gespicktem Fels, wo man ideal seine Eisgeräte zum Einsatz bringen kann. Vorerst klettert man rechts an und in der Verschneidung (2 BH, M4+). Nach dem zweiten Bolt quert man aber nach links hinaus auf die dort mehr geneigte Wandpartie (2 BH, M4) und quert schliesslich nach rechts zurück (BH, M4). Hier passierte es mir beim Einrichten tatsächlich, dass sich die Exe unglücklich am Bolt verdrehte. Als ich dann das Seil ein wenig schüttelte, um die Exe wieder freizukriegen, so war sie schwupps ausgehängt. So stand ich nun in ungemütlicher Situation weit über dem vorletzten Haken - an sich eine ziemlich prekäre Situation. Jedoch nicht unbedingt beim Einrichten, wo mit dem Revolver am Gurt wieder für Sicherheit gesorgt werden kann. Der finale Abschnitt dieser Länge wird dann steiler und felsiger (3 BH) und wartet mit einer kniffligen Stelle (M6) mit bescheidenen Hooks auf. Zuletzt dann gerade hinauf zum Stand unter dem grossen Dach.

Auftakt in L4 (M6). Zähes Gelände mit plattigem Fels, hier ist man um jeden Grasbüschel froh!

Rückblick auf die finale Crux in L4 (M6). Es ist steil hier und so richtig gute Hooks (oder Griffe) fehlen.
L5, 25m, M4: Das grosse Dach haben wir "Brush-off Roof" getauft, denn hier haben wir tatsächlich einen Korb kassiert. Zwar war es nie der Plan, es direkt zu überwinden. Aber all die farbigen Linien, welche wir zuhause auf die Wandfotos aufgemalt hatten, führten an dieser Stelle nach rechts. Vor Ort war jedoch sofort ersichtlich, dass die dort zu überwindende Wandstufe sehr kompakt, geschlossen und glatt war, daher eine schlechte Option. Worin liegt also die Alternative? Tja dann wohl im "Seitensprung". Mit einem Quergang (2 BH, M4) geht's über eine felsige Stufe nach links hinaus, danach bald einfacher an Grasmutten diagonal hoch. Man trifft schliesslich auf die Linie vom Osterspaziergang (BH), dessen Stand (links an überhängender Wandpartie) man hier idealerweise mitbenutzt.

Stimmungsbild vom Quergang zu Beginn von L5 (M4). Im Vordergrund das durchschnittliche Eisvorkommen der Route ;-)

Auf der finalen Grasrampe in L5 (M4), welche nach links zu einem Stand vom Osterspaziergang führt.
L6, 30m, M5-: Was macht man als Lover nach dem Seitensprung? Genau, man geht nach Hause und legt sich ins "Bed of Roses". Genau so läuft's auch am Rubihorn. Vom Stand auf der Linie des Osterspaziergangs etwas rechtshaltend (BH) und hinauf (weiterer BH, kurz M4- und einfacher), um diesen schliesslich zu verlassen und auf das 1m breite und problemlose Latschenband (eben das "Bed of Roses") zu steigen, welches bequem und problemlos an sein rechtes Ende zu queren ist. Hier klettert man wieder im Fels (BH) und schliesslich athletisch an einer Art Graszapfen hinauf (M5-) zum luftigen Stand auf einer kleinen Kanzel.

Alpine Ambiance beim Rückblick auf L6 (M5-). Deutlich sichtbar das schneeige Latschenband genannt 'Bed of Roses'.

Die finale Felspassage in L6 (M5-) bietet die Crux, der Stand auf der Felskanzel extrem luftig.
L7, 50m, M7 oder M5+ A0: Gleich vom Stand weg folgt ein weiteres Pièce de Resistance der Route, nämlich der "Black Dancefloor". Bis hinein in die grosse, offensichtlich gut kletterbare Verschneidung sind es zwar nur wenige Meter, jedoch ist die schwarze Platte (3 BH) einfach grausam glatt, es herrscht hohe Schleudergefahr! Wer hier direkt über die Haken klettert sieht sich mit einer Passage konfrontiert, die gut im siebten Mixedgrad anzusiedeln sein dürfte. Am einfachsten ginge es (genau wie im Hinterstoisser-Quergang am Eiger) sicher, wenn eine solide Schnee- oder Eisschicht auf der Platte angefroren wäre. Doch wann und wie oft ist das der Fall?!? Das sind vermutlich sehr, sehr seltene Gelegenheiten. Die einfachste Freikletterlinie führt womöglich vom Stand weit absteigend in die Verschneidung - etwas umständlich, so dass wir dies nicht wirklich in Erwägung gezogen haben. Wer seine Begehung als Freikletterei verkauft, sollte aber so ehrlich sein und klar sagen, ob er den Black Dancefloor über die Haken geklettert oder umgangen hat. Nach dieser Schlüsselstelle geht's dann etwas leichter dahin (2 BH, M4+), bis zur Passage "Scherben bringen Glück". Hier quert man knapp unterhalb von einem Wandausbruch, wo viel brüchiges Gestein zurückblieb nach rechts (tief bleiben empfehlenswert!). Bei der ersten Gelegenheit jedoch wieder hinauf und auf einer Rampe, entlang einer schwach ausgeprägten Verschneidung in typischer Rubihorn-Kletterei (felsig mit Grasmutten gespickt) hinauf (3 BH, M4) zu Stand. An dieser Stelle hatte unser zweiter Bohrtag geendet.

Am unteren Bildrand der 'Black Dancefloor', Tobias hingegen bohrt kurz vor 'Scherben bringen Glück' - alles in L7 (M7).

Die finale Rampe in L7 (M7). Auch hier ist man um jeden Grasbüschel dankbar, wo die Haue solide beisst.
An unserem zweiten Bohrtag hatten wir beim Rückzug 20 Bohrhaken fest verzurrt in der Route hängen lassen, es war ja unsere Absicht, möglichst bald wiederzukommen. Schliesslich verging doch beinahe ein Jahr und die drängende Frage war, ob die Bolts denn noch vor Ort wären. Der geneigte Leser mag es vermuten - obwohl der Autor schon viele Routen eingerichtet hat, er hatte bis dato seine Ware immer komplett nach Hause getragen und beim nächsten Mal das Nötige wieder mitgenommen. Wenig effizient zwar, dafür auch frei von Unabwägbarkeiten. So stellte sich im Vorfeld des dritten Bohrtages die Frage, wie viele Bolts wir denn zusätzlich mitführen wollten. Konnten wir noch auf die deponierte Ware zählen? Es zu tun und schliesslich wegen fehlenden Bolts den ganzen Aufwand für nichts getrieben zu haben, das wäre bitter gewesen. Da schien die Mitnahme von zusätzlichem, wenn auch möglicherweise unnötigem Gewicht die bessere Option. Also hievten wir nochmals 24 Haken hinauf - nach Murphy's Law bestimmt auch optimal, um das Schicksal so zu beeinflussen, dass keine der deponierten Haken abhanden gekommen waren. So stellte es sich dann tatsächlich heraus... und weil bis zum Routenende nur noch 16 Bolts zum Einsatz kamen, trugen wir schliesslich sogar 4 der deponierten (und natürlich alle 24 zusätzlich mitgenommenen) Haken wieder nach Hause.

Das Bohrhakendepot... zum Glück waren die guten Stücke ein Jahr später noch vor Ort.

Tobias auf dem 'Black Dancefloor'. Die Platte ist listig glatt und bietet weder den Füssen noch Händen oder Hauen so richtig Widerstand. Meinung der alpinistisch äusserst kompetenten Erstwiederholer: "passt schon, man muss einfach mit den Frontzacken auf Reibung antreten, zum Festhalten braucht's auf einer Platte ja nicht unbedingt viel". Na dann... viel Erfolg!
L8, 35m, M4+: Der Weg ins Ungewisse am dritten Bohrtag startete unscheinbar, jedoch gar nicht so einfach. Die nach dem Start zu kletternde Stufe, wo sich die Verschneidung zu einer abstehenden, fast kaminartigen Schuppe verengt, sieht auf den ersten Blick easy aus. Ein zweites Hinsehen lässt einen dann jedoch den wenig strukturierten Fels erkennen. Und tatsächlich, nachdem ein Cam platziert ist, bin ich auf einmal mittendrin im Geschehen und es gibt nur noch die Flucht nach vorne - da noch den Revolver zur Verteidigung von Leib und Leben zu ziehen war utopisch (M4+). Danach steckt ein BH, es geht einfacher hinauf und schliesslich geht man eine Rechtsquerung auf einem schmalen, exponierten Band an (BH, M4). Über eine letzte, kurze Stufe (BH, M3) erreicht man ein spinnenartiges Schneefeld. Es geht hinauf zu dessen oberem Ende und auf einer Schneerampe (45 Grad) nach links hinauf. Hier (sehr empfehlenswert) die Möglichkeit zu  Zwischenstand an BH und einem kleinen Tannenbaum mit markantem Doppelstamm. Wer seine Sicherungen unten sehr grosszügig verlängert hat, kann sicherlich auch weiterklettern und die nächste Seillänge gleich anhängen.

Die Verschneidung mit der glatten linken Seitenwand zu Beginn von L8 (M4+).

Puh, da war ich ziemlich froh, als ich schliesslich diesen Haken platzieren konnte! Es ist die erste Sicherung in L8 (M4+).
L9, 20m, M3+: Das Ziel in dieser Seillänge ist die bereits erkennbare Nische 20m höher oben. Das Gelände dahin lässt sich bei etwas beliebiger Linienführung an Grasmutten gut beklettern. Unterwegs steckt nur ein einziger BH, dies jedoch genau vor der schwierigsten Stelle.

Graslastige Kletterei in der kurzen, leichtverdaulichen L9 (M3+). Guter Torf kletter sich definitiv besser als schlechtes Eis!

Früh im Zeitplan und damit guter Dinge, dass es am dritten Bohrtag bis hinauf zum Ausstieg reicht!
L10, 35m, M5: Nun gilt's aber nochmals ernst! Auf einem schmalen Band quert man entlang von einem kleinen Dach nach rechts hinaus, dann geht's hinauf zu BH (M4). Es folgt eine steile Passage an Schuppen (M5), welche mit Cams mobil abzusichern ist, zuletzt rammt man seine Geräte so richtig charakteristisch in zwei Grasbüschel und zieht sich aus der Senkrechte in einfacheres Gelände empor. Weiter geht's in ortstypischer Kletterei (BH, M3+) der Nase nach gerade oder vielleicht einen Tick linkshaltend hinauf, ein paar Latschen links und rechts säumen den Weg. Am Fuss einer kompakteren Wandstufe war dann klar, hier braucht's nochmals einen Standplatz.

Blick ins grüne Alpenvorland, den Microcam im Dach und die Querung am Anfang von L10 (M5).

Nach einer kniffligen, mobil zu sichernden Passage wartet zum Schluss von L10 (M5) gängiges Gelände.
L11, 40m, M4+: Die bereits erwähnte Steilstufe lässt sich erstaunlich einfach knacken, indem man ca. 8m nach links quert, direkt geht's (deutlich schwieriger) jedoch auch. Der BH oberhalb jedenfalls ist bereits vom Standplatz aus sichtbar, dort geht es gerade hinauf (zwei weitere BH, Stelle M4+). Schliesslich wird das Gelände weniger steil und verschneit, es geht dem BH-Stand an der letzten Felsstufe entgegen. Wer noch will, kann auch diese 3m überklettern und gelangt zu den Latschen, welche den letzten Verteidigungsgürtel vor dem Grat darstellen. Für diejenigen die wollen, befindet sich dort an etwas unbequemer Stelle eine Abseilschlinge. Wer sich nun noch durch die Latschen hindurchzwängt, erreicht nach 4m den Grat.

Das ist bereits die Passage vom Wandbuch hinauf zum Alternativstand an der Latsche wenig Meter höher oben.

Die allerletzten Meter zum Grat hinauf - ganz oben gibt's jedoch keine Abseilverankerung mehr, man muss retour klettern.
Hat man die Route bis zum Ende geklettert, was uns am dritten Bohrtag gelungen war, so bieten sich für den Rückweg verschiedene Optionen an. Am bequemsten ist es sicher, abseilend in die Tiefe zu gelangen. In 6 teilweise ausgereizten Manövern mit 2x60m-Seilen (Stände 11, 9, 7, 6, 3, 2) erreicht man bequem und in direkter Linie wieder den Wandfuss. Achtung, mit kürzeren Seilen wird die Abseilerei sehr mühsam! Von Stand 6 gelangt man zu Stand 5 wegen dem Quergang nur durch Zurückklettern, Stand 4 ist unter dem grossen Dach nur sehr beschwerlich mit tiefer abseilen und wieder hinaufklettern erreichbar und auch sonst muss das Seil noch 2x zusätzlich umgefädelt werden. Wir raten also ausdrücklich vom Abseilen mit kürzeren Seilen als 2x60m ab! Ein allenfalls nötiger Rückzug ist hingegen von jedem Standplatz aus vernünftig durchführbar. 

Teilweise freihängender, sehr effizienter 60m-Abseiler im zentralen Wandteil, über das 'Brush-Off Roof' hinweg.

Rückkehr in die 'Love Cave'. Nein, das ist nicht etwa Regen oder Angstschweiss, der da tropft. Sondern Spindrift.
Weiter schien es uns problemlos möglich, vom Ausstieg am Grat zu Fuss rückseitig zum unteren Gaisalpsee abzusteigen und von dort via den Wanderweg zurück zur oberen Richteralpe. Allenfalls wird hier die Lawinengefahr zum Thema, wobei bei guten Rubihorn-Kletterbedingungen dann wohl eher doch nicht. Für richtige Alpinisten besteht auch die Möglichkeit, über einfaches Schneegelände mit ein paar Stufen die rund 200hm zum Rubihorn-Gipfel aufzusteigen und von dort über den Normalweg zurück zu gelangen. Der Nachteil beider Fussabstiege ist jedoch, dass man nicht mehr am Einstieg vorbeikommt und dort keine Sachen deponieren kann. Jedenfalls, genau 4 Jahre und 2 Tage nach unserem ersten Angriff hatten wir am 13. Januar 2018 die Rubi Love vollendet. Welche ein grandioses Erlebnis - herzlichen Dank an Tobias für das tolle Teamwork. Hier hatten wir uns von der  Idee über Materialtransport bis zum Vorstieg alles brüderlich geteilt.

Möglicher Weiterweg vom Ausstieg zum Rubihorn Hauptgipfel. Es sind noch gute 200hm bis zum Gipfelkreuz.

Blick in die Allgäuer Berge mit dem bekannten Nebelhorn (2224m) und der rückseitige Abstieg zum unteren Gaisalpsee.

Byebye, ein letzter Blick auf die Wand. Der Einstieg befindet sich vom Kopf des Kletterers linkshaltend in den schneeigen Einschnitt, der Ausstieg ist am (vermeintlich) höchsten Punkt am Grat. Das Einrichten der Rubi Love war ein grandioses Erlebnis!

Facts

Rubihorn Nordwand - Rubi Love M7 oder M6 A0 - 11 SL, 385m - Bailer/Dettling 2018
Material: 2x60m-Seile, 12 Express, Camalots 0.3-3, Steigeisen, Eisgeräte (vorzugsweise mit alten Hauen). Haken, Keile, Eisschrauben und weiteres, exotischeres Sicherungsmaterial nicht nötig.

Typische Voralpen-Nordwandkletterei an einem Gemisch von Fels, gefrorenen Grasbüscheln und einigen Schneepassagen, welche nur in der kalten Jahreszeit mit Steigeisen und Eisgeräten begangen werden kann/soll. Die Route ist auch in perfekten Bedingungen nahezu eisfrei. Diese sind gegeben, falls kompakter, verfestigter Schnee liegt und die Grasbüschel nach einer trocken-kalten Periode solide durchgefroren sind. Keinesfalls bei Tauwetter oder in komplett schneefreien Bedingungen einsteigen. Ebenso bekommt die Kletterei eine völlig neue (Schwierigkeits-)Dimension, wenn die Wand mit Pulverschnee überzogen ist, ebenso dürfte dann das Auffinden der Bohrhaken zur schwierigen Herausforderung werden. Die Felsqualität darf man als grösstenteils gut und solide bezeichnen, dennoch ist eine gewisse Erfahrung alpine Erfahrung im Umgang mit schwierigem Gestein sicherlich hilfreich bzw. notwendig. Auf den Bändern liegt auch allerhand an Schutt, was bei korrekter Schneelage jedoch kein Faktor ist. Trotz allem geht man ein Risiko ein, wenn man hier hinter einer anderen Seilschaft einsteigt! Die Route ist mit rostfreien Bohrhaken gut abgesichert, wobei wir grösstmögliche Sorgfalt angewandt haben, diese in solidem und zuverlässigem Fels zu platzieren. Es sei einem jedoch bewusst, dass in jeder Seillänge zusätzlich Klemmgeräte anzubringen sind und auch einige längere, anspruchsvollere Passagen mobil abzusichern sind, was dort jeweils gut möglich ist. Alles in allem handelt es sich um eine zugängliche, objektiv sichere und gut abgesicherte Linie, welche trotzdem gewisse Ansprüche ans Können stellt und eine wohldosierte Portion an alpinem Abenteuer bietet.

Topo

An dieser Stelle lässt sich das komplette Topo zur Rubi Love in voller Auflösung als PDF downloaden. Weitere Informationen zum Gebiet und den anderen Klettereien in der Rubihorn Nordwand findet man im Eiskletterführer Bregenz bis Garmisch aus dem Panico-Verlag. Den Bericht von meinem Seilpartner Tobias findet man auf dem Rocksports-Forum.