Erneut war ein grandioser Bergtag mit stabilem Wetter angekündigt, den wir für eine Tour und das Kennenlernen neuer Berge und Täler in der französisch-italienischen Grenzregion nutzen wollten. Eine relativ zugängliche, aber trotzdem lange und eindrückliche Plaisirtour findet man an der Tête de Sanglier im Vallon d'Ubaye. Über eine Strecke von fast 500 Klettermetern findet man hier schön griffigen, festen Quarzit. Geht man so wie wir nach der Tour zum Gipfel und steigt zu Fuss durch das Vallon des Houerts ab, so ergibt sich eine tolle, landschaftlich sehr schöne Überschreitung. Die Mama war aufgrund ihrer Knieverletzung noch nicht genügend fit für eine solche Tour und musste sich mit einem Spaziergang im Talgrund begnügen, um die Batterien vom Sportklettern wieder aufzuladen. Somit bestritt ich die Tour mit Larina (10 Jahre) und Jerome (8 Jahre), welcher auch dabei sein wollte, nachdem sein gebrochenes Schlüsselbein wieder gut verheilt war und die Schwierigkeiten den Grad 6a nicht überschritten.
Die aus griffigem Quarzit bestehende E-Wand der Tête de Sanglier im Vallon d'Ubaye weist doch beachtliche Dimensionen auf! Die Route 'Les Jardins d'Amadine' (6a) führt immer rechts der markanten Verschneidung in Bildmitte durch die Wand. Einstieg und Top der Route sind je mit einem roten Punkt markiert. Bildquelle: Aurelien Quiri, camptocamp.org. |
Die Anfahrt führt von Guillestre über den Col de Vars nach St-Paul-sur-Ubaye und ist alleine schon sehenswert. Vom Ort geht's ins auf schmaler Strasse ins verlassene Tal hinein, der Parkplatz befindet sich 300m vor dem Weiler La Barge. Nun nicht gleich zu Beginn einen Verhauer leisten: der Pfad startet undeutlich links vom Bachbett (Steinmann vorhanden. Achtung, auch rechts vom Bach beginnt ein Pfad, der führt jedoch woanders hin!), wird dann aber bald besser und führt entlang von Steinmauern diagonal links aufwärts über Kuhweiden Richtung Wand. Später geht's dann durch die Bäume, man überquert die grosse Runse und steigt zum Wandfuss hinauf. Wenn man den Anfang des (richtigen) Pfades einmal gefunden hat, so wird man ihn nicht mehr verfehlen, er ist tiptop ausgetreten.
Vallon d'Ubaye. Der Ausgangspunkt zur Tour in Bildmitte am unteren Bildrand gerade knapp zu sehen. |
Wir haben auf einen späten Start gesetzt und sind erst um 12.20 Uhr vom Auto los. Dank dem stabilen Wetter und wegen den hohen Temperaturen kletterten wir lieber erst am Nachmittag, als die Sonne nicht mehr so stark in diese Ostwand brannte oder gar schon um die Ecke verschwunden war. Diese Strategie ging schliesslich perfekt auf. Anyway, vom Wandfuss geht's noch links diagonal über die Rampe hinauf. Der wenig empfehlenswerte Originaleinstieg unserer Route befindet sich rechts des schwarzen Wasserstreifens. Jener war im trockenen Sommer 2019 kaum erkennbar, auch die grüne Schrift war kaum mehr lesbar und nur noch mit Spürsinn zu erahnen. Wir gingen aber sowieso weiter zum gebräuchlichen und schöneren Linkseinstieg. Der befindet sich wenige Meter vor dem breiten Riss, welcher in die Riesenverschneidung hinaufführt (keine Markierung vorhanden, aber dank ausgetretenem Geröllplatz erkennbar, wenn man späht, wird man auch die ersten BH erkennen). Nach 30 Minuten Zustieg waren wir vor Ort, wohl ein paar Minuten nach 13.00 Uhr starteten wir die Kletterei.
Erster Aufschwung
L1, 45m, 5b: plattig, schön griffiger Quarzit
L2, 40m, 5c: ähnlicher Charakter, bisschen schwieriger
L3, 25m, 6a: es wird steiler, kurz aber anhaltend fordernd
L4, 45m, 6a: nochmals steil und griffig, zuletzt links raus
L5, 45m, 6a: überhängender und henkliger Start, dann ein schöner Riss
L6, 35m, 5c+: Knifflige Verschneidung, gefolgt von etwas unlogischer Links-Rechts-Schleife
L7, 45m, 4b: Einfaches Teilstück der Rippe entlang, zuletzt kurz links an steilerer Wand (BH)
Zwei schnelle Nachsteigende = wenig Zeit, um Kletterfotos zu machen. Hier am Ende von L4 (6a). |
An dieser Stelle hat man den ersten Teil der Wand bezwungen und man könnte (wie vermutlich auch schon nach L6) rechtshaltend über Bänder in die grosse, geröllige Runse queren und durch diese zum Ausganspunkt absteigen. Wir wollten aber natürlich weiter zum Gipfel und machten uns daher auf, den oberen Teil zu erreichen.
L8, ca. 70m, 2a: zuerst 3m links hinauf, dann horizontale Traverse nach links, schliesslich auf einem Band diagonal abkletternd. Wegen der querenden Natur, da sich drüben am Beginn des zweiten Aufschwungs kein Stand befindet und es unterwegs kaum Möglichkeiten für Zwischensicherungen gibt, ist dieser Abschnitt heikel, wenn man ihn als Seillänge begeht. Darum besser seilfrei bzw. am kurzen Seil gehen. Der Start vom oberen Routenteil befindet sich fast drüben bei der Verschneidung in weissem Fels, zur Zeit unserer Begehung befand sich ein Steinmann beim Startpunkt. Wie so oft an diesem Berg waren die Haken aber auch da schwierig zu erspähen.
Zweiter Aufschwung
L9, 45m, 5b: Super griffige Genusskletterei, Dächli am Ende, dann ansetzende Verschneidung
L10, 45m, 5c: Links der Verschneidung, dann steil und griffig, vor dem zweitletzten Bolt lose Blöcke
L11, 40m, 5c+: Steilzone an rechten Ende griffig überqueren und wieder eher links haltend hinauf
L12, 30m, 4a: Gerade hinauf zum Top. Oben findet man 2 BH und Abseilmöglichkeit
Panorama aus der Wand |
Um 17.30 Uhr waren wir nach 4:30h Kletterei am Top und hatten eben eine Seilschaft aufgeholt, welche lange vor uns gestartet war. Für den Weg ins Tal gibt's mehrere Möglichkeiten. Eine besteht darin, über die Route abzuseilen. Das wären zu dritt 11 Strecken plus die Querung in Wandmitte. Zieht man zusätzlich den strukturierten Fels in Betracht, so hätte dies wohl eine geraume Zeit gedauert und wäre wenig spassig gewesen. Somit zogen wir den auch nicht ganz kurzen Fussabstieg vor, welcher über den Gipfel und später westwärts ins Vallon des Houerts führt. Dazu steigt man über Platten und Schrofen (T5, II) ca. 80hm weiter auf bis zu einem flachen Vorgipfel. Von diesem wenige Meter absteigen und durch die folgende Wand hinauf mit etwas Kraxelei über Stufen und Bänder (T4+). Zuletzt kann man sich nach links in einen grasigen Sattel (ca. 2600m) drängen lassen, von wo es zum fakultativen Gipfel der Tête rechts weitere 50hm sind. Vom Top der Route bis zum Sattel sind es ca. 200hm und eine knappe halbe Stunde Aufstieg.
Da wir schon dabei waren, liessen wir den Gipfel natürlich nicht aus, rasteten dann aber kurz im Sattel und verpflegten uns. Der Abstieg von dort führt über alpine Wiesen etwas rechtshaltend hinab. Das Gelände ist problemlos begehbar (T3), aber Wegspuren gab's absolut keine. Der Weg ist jedoch logisch und gut zu finden. Weiter unten zielt man dann in Richtung der Schäferhütte aus Stein, die sich auf dem letzten flachen Wiesenboden im Vallon des Houerts (ca. 2300m) befindet. Dort trifft man auf den Weg, der zurück ins Tal führt. Recht steil und erstaunlich weit (600hm) geht's abwärts, bis wir auf die Strasse trafen, wo wir um 19.30 Uhr ankamen. Das waren jetzt doch auch 2 Stunden ab Routenende bzw. 1:30 Stunden für die 1000hm Abstieg vom Gipfel. Wir hatten Glück und die Mama war bereits da, um uns aufzuladen. Sonst hätten nämlich noch 2km und 150hm Aufstieg zurück zum Ausgangspunkt gewartet, welche den Rückweg zusätzlich verlängert hätten. Wir tuckerten zurück über den Col de Vars zu unserem Zelt, um einen wunderbaren Klettertag durch eine grosse Wand in einer eindrücklichen Gegend reicher.
Auf dem Fussabstieg ins Vallon des Houerts. In der linken Bildhälfte der Sommet Rouge, wo man auch klettern kann. |
Nur eine Frage bleibt bis heute ungeklärt: die Seilschaft, die wir am Routentop angetroffen hatten, verfügte über keinen Plan für den Abstieg. Ich erklärte ihnen den von uns geplanten (und gewählten) Fussweg. Sie machten sich wenige Minuten vor uns aufsteigend auf den Weg, doch wir bekamen sie nie mehr zu Gesicht. Da sie zuvor nicht durch Schnelligkeit brillierten, wir nicht herumtrödelten und man im Gelände später immer wieder weit voraus sieht, ist es kaum denkbar, dass die beiden wirklich den Westabstieg wählten. Sie mussten sich entweder verhauen haben oder wählten schliesslich doch eine andere Option. Aber welche?!? Ich hoffe, die beiden kamen trotzdem gut vom Berg - die Kinder beschäftigten sich jedenfalls noch tagelang mit dem Schicksal dieser Seilschaft. Letzteres ist für mich gut nachvollziehbar: es war ja doch eine wilde Gegend, ein isolierter Gipfel und ein wenig offensichtlicher, etwas komplizierter Abstieg. Kein Wunder, dass es für die Kids einen ziemlichen Alptraum darstellt, dort oben verloren zu gehen!
Facts
Tête de Sanglier - Les Jardins d'Amadine 6a (5c obl.) - 12 SL, 450m - Chevalier/Fiaschi/Golé 1994 - ****;xxx
Material: 1x oder 2x50m-Seil, 12 Express, Keile/Friends nicht nötig
Plaisirkletterei mit alpinem Touch: kurzer Zustieg, gut abgesicherte, moderat schwierige, gutmütig bewertete und schön griffige Quarzit-Kletterei, die aber trotzdem durch eine grosse Wand und auf einen richtigen Gipfel führt. Insgesamt ein ausgefülltes Erlebnis, das zusammen mit dem langen Abstieg doch etwas Kondition erfordert. In diesem Schwierigkeitsgrad auf jeden Fall eine grosse Tour, für mich ohne Zweifel 4 Sterne wert! Wie bereits erwähnt, ist die Absicherung als freundlich und auf Stufe "Plaisir gut+" einzuschätzen, einzig in den einfachsten Abschnitten sind die Abstände grösser. Für mobile Sicherungen verspürte ich keinen Bedarf, viele Möglichkeiten zu deren Platzierung gibt's obendrein auch nicht. Es stecken verzinkte Haken mit Fixé-Plättli, leider ein ungeeignetes Material für diese Umgebung. Die Bolts sind teils schon ordentlich korrodiert und haben sich in ihrer Farbe dem Fels angeglichen. Zusammen mit der Felsstruktur und dem typischen Gegenlicht sind sie oft schwierig zu erkennen. Somit braucht's trotz der guten Absicherung durchaus etwas Spürsinn für den Routenverlauf. Meist geht's aber ziemlich geradeaus und wenn das nicht zutrifft, eher nach links wie nach rechts. Ein Topo befindet sich im Topoguide Band II oder auch in lokalen Kletterführern (z.B. Escalade en Ubaye). Hinweis: es gibt im Vallon d'Ubaye keinen Handy-Empfang (Stand Sommer 2019), d.h. weder am Ausgangspunkt noch in der Wand hat man Verbindung.