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Mittwoch, 20. September 2023

Gonzen / Annagrethli - Gretchenfrage (6b+, 2 SL, Erstbegehung)

Das Annagrethli ist ein schlanker, rund 80m hoher Felsturm, welcher der gewaltigen Gonzenwand südlich vorgelagert ist. Verschiedene kurze MSL-Routen führen auf seinen isolierten Gipfel. Dieser steht in einer spannenden Gegend, wo es für Entdecker und Alpinwanderer allerlei zu besichtigen gibt. So ist der Turm insbesondere bei Einheimischen beliebt und wird, vor allem über den Normalweg (4b) regelmässig bestiegen. Doch auch Sportkletterer können inzwischen einen ausgefüllten Tag am Spitzli verbringen. Sei es mit einem Enchainement der Route KletterBar(6b) am Ghudlet Gonzen, oder durch die Kombination der hier präsentierten Neutour mit den anderen 3-SL-Touren am Annagrethli, die da wären: Chumbawamba (6c+), Dreikant (7a+) und Männer Mut Herz Blut (7b+)

Daniel in Aktion, d.h. am Einrichten von L1 (6b+), welche direkt am SE-Pfeiler verläuft.

Erschliessung

Nein, als "von langer Hand" geplant kann ich diese Neutour aus meiner Perspektive nicht bezeichnen. Die Vorgeschichte beginnt mit einem ungeplanten Wettkampferfolg und seiner spontanen Feier, was mir schliesslich sehr kurzfristig einen freien, aber auch vorerst kletterpartnerlosen Sonntag bescherte. Wahrscheinlich kennt ihr es ja alle bestens, die Reaktion darauf besteht üblicherweise darin, einmal Messages in alle Richtungen abzusenden. Eine Antwort kam von Daniel, er sei auf dem Sprung an den Gonzen, um dort am Annagrethli auf einer Solo-Mission etwas einzurichten. Ich solle mich doch anschliessen, falls es mich interessiere. Das tat es - weil aber Daniel gleich am Fuss des Berges wohnhaft ist, wies ich doch einen beträchtlichen Rückstand auf. Dass er mit schon gepacktem Sack startbereit auf mich wartete, schien aber die falsche Strategie. So vereinbarten wir, dass er bereits aufbräche und ich ihm so rasch wie möglich folgen würde.

Im Zustieg mit Blick auf die Südgratplatte am Gonzen, wo es auch reizvolle Kletterrouten gibt.

Das beschert mir nun meine allererste Neutour ohne Schlepping, d.h. wo ich vollständig auf einen Sherpa zählen konnte. In meinem Rucksack befanden sich nur gerade Gurt, Kletterfinken und Chalkbag. Noch dazu nutzte ich das Bike als Joker, mit welchem man (genügend Energie oder Batterie vorausgesetzt) fast bis zur Gonzenwand hinauf fahren kann. Die Höhenmeter purzelten im Nu und bald konnte ich die mir bis dato unbekannten Follaplatten beschreiten. Deutlichen Wegspuren sei Dank ist das keine Hexerei, wenig später hatte ich mit einer Traverse unter dem Breiten Turm hindurch das Annagrethli erreicht, wo Daniel eben den ersten Bohrhaken platziert hatte. Sozusagen ziemlich genau rechtzeitig war ich also da, um ihn ans Seil zu nehmen und beim Einrichten der ersten Seillänge zu sichern. Nach der Expressanreise eine willkommene Gelegenheit, um etwas durchzuschnaufen.

Daniel unterwegs in L1 (6b+).

Schliesslich war es Zeit für den Nachstieg, bei welchem ich die Seillänge gleich befreien konnte. Daniel war so grosszügig, den zweiten Abschnitt der Route mir zu überlassen. Eine steile Zone zu Beginn markierte die Crux, dann ging es über schöne Platten zum Gipfel. Zufrieden über die geglückte Neutour standen wir am Top. Daniel wurde von der Familie nach Hause gerufen, was am Annagrethli nicht nur im übertragenen Sinn oder via Smartphone, sondern auch fast in direkter Kommunikation möglich ist. Um mich für seine Schlepperei zu revanchieren, übernahm ich den zweiten Teil der "Drecksarbeit". Um eine genussvollere Kletterei zu ermöglichen, wollte die Route an einigen Stellen noch gesäubert werden. Am hängenden Seil wurde dies erledigt, am Ende konnte ich unser Werk am fixierten Seil dann nochmals bis zum Gipfel durchsteigen. Das vorerst letzte Kapitel dieser Neutour schrieb dann Daniel kurze Zeit später mit einer RP-Begehung im Vorstieg.

Auf dem Gipfel (wo eine Schweizer- oder sonstige Flagge nach Wahl gehisst werden kann).

Zustieg

Für Details und Visualisierungen siehe SAC-Kletterführer St. Galler Oberland von Thomas Wälti. Von Sargans nach Prod und in den Wald hinein bis P.731 (PW-Parkplatz). Nun zu Fuss oder per Bike auf Forstwegen hinauf zum Cholplatz (P.1155). Von dort einem Weg nach links (Westen) folgen, der schliesslich zu einem Pfad wird und zur Gonzenwand hinaufführt. Etwa 30m bevor man die Wand erreicht, zweigen Pfadspuren nach links in die Follaplatten ab. Über diese (Wegspuren, teils blaue Markierungen, zwei Fixseile) hinauf bis unter die Südgratplatte. Hier links um die Ecke und am rechten Rand des Grastrichters hinauf unter den Breiten Turm. Unterhalb von diesem nach links hinüber queren zum Annagrethli. Der Einstieg befindet sich in der SE-Wand bei einem kleinen Pass hinter einem markanten, vorgelagerten Block. Der erste BH (rostfrei, mit Irniger-Lasche) auf der Einstiegsplatte ist gut sichtbar. Koordinaten CH LV95 2'751'390/1'214'515, WGS84 47.06435/9.43173, Höhe 1390m. Zeitbedarf ab Parkplatz ca. 60-75 Minuten, mit dem Bike bis zu 30 Minuten schneller.

Im Zustieg, hier geht's über die Follaplatten hinauf - alles gut und ohne Schwierigkeiten begehbar.

Routenbeschreibung

Gonzen/Annagrethli - Gretchenfrage 6b+ (6a+ obl.) - 2 SL, 80m - D.Benz, M.Dettling 2023
Material: 1x50m oder besser 1x60m-Seil, 10-12 Express, 3-4 Schlingen, Cams 0.3-2

L1, 40m, 6b+: Die unscheinbare Einstiegsplatte wartet gleich mit einem kniffligen Bewegungsboulder auf, der gonzentypisch auch gute Fussarbeit erfodert. Dann geht's einfacher zum Pfeiler heran, wo zuerst steil an guten Leisten nach rechts hinauf geklettert wird. Hat man die Kante erreicht, gilt es sich gut positionierend an sloprigen Seitgriffen fortzubewegen. Später lassen die Schwierigkeiten graduell nach, nach links hinaus querend erreicht man schliesslich den Stand.

L2, 40m, 6b+: Los geht's mit einer rissigen Einstiegsstufe, bevor die Musik direkt am Pfeiler spielt. Eine kräftige und luftig exponierte Passage wartet da! Steht man einmal oben, so liegt die Fortsetzung erst in einer Verschneidung, welche man nach rechts in eine schöne Plattenzone verlässt. Der Fels weist da famose Schlitze und Löcher auf, wo man die Absicherung mit Cams ergänzen kann. Es folgt ein griffarmer Ausstieg auf ein "Bödeli", bevor ein letzter Aufschwung erklommen wird und man schliesslich in direkter Linie zum SW-seitig Standplatz am Gipfel klettert.

Marcel am Einrichten von L2 (6b+), gerade am Ausstieg aus der steilen Crux zu Beginn.

Abseilen

Am bequemsten seilt man vom Gipfelstand SW-seitig über Chumbawamba ab. Zuerst knappe 30m hinunter über die steile Wand (wo man sich vom guten Fels und der tollen Linie der Männer Mut Herz Blut überzeugen kann) zu Kettenstand in der Verschneidung. Dann weitere, volle 30m zurück auf den Boden. Achtung, ein 60m-Seil ist dafür absolut zwingend, Vorsicht aufs Seilende bei der zweiten Strecke! Wer nur ein 50m-Seil dabei hat, kann/muss etwas umständlicher in 3x über den Normalweg abseilen (22/17/25m), wofür man zuerst an E-seitig gelegenen Schlussstand dieser Route wechseln muss. Retour ins Tal gelangt man dann gleich wie auf dem Zustieg.

Daniel macht sich auf den Heimweg - seine Residenz auf dem Foto sichtbar 😀

Material, Absicherung, Topo

Die Route ist mit rostfreien BH gut abgesichert. Hier und da, v.a. in L2, lässt es sich gut mit Cams ergänzen, die Schlüsselstellen sind jedoch mit BH ausgerüstet. Der obligatorische Schwierigkeitsgrad ist für uns nicht so einfach einzuschätzen, dürfte sich aber im Bereich 6a/6a+ bewegen. Als Topo gibt es an dieser Stelle mein ins Gipfelbuch gezeichnete Werk. Infos zu den anderen Routen am Annagrethli bzw. am Gonzen findet man im SAC-Kletterführer St. Galler Oberland von Thomas Wälti. Zuletzt bleibt nur noch die Gretchenfrage, warum die Route so heisst - naja, dieser drängt sich am Annagrethli ja fast auf und da es sich bei unserer Linie an der SE-Kante um die mutmasslich letzte lohnende Neutour am Spitzli handelt, lag er auf der Hand. Ebenso, wie dass sich um die Erschliessungstätigkeit ganz allgemein zahlreiche Gretchenfragen diskutieren lassen...

Unser Topo zur Gretchenfrage, direkt ins Gipfelbuch gezeichnet.


Dienstag, 12. September 2023

Glärnisch / Bächihorn - Köbis Wäg (6c+)

Als "lange Route in totaler Einsamkeit" in einer "geologisch interessanten Gegend", so beschreiben die Erschliesser ihre Route durch die 350m hohe Südwand des Bächihorns am Glärnisch. Vor 11 Jahren wurde sie fertiggestellt, an der mutmasslich sehr spärlichen Frequentierung hat auch die Publikation des Topos im SAC-Kletterführer Glarnerland kaum etwas geändert. Umso mehr waren wir gespannt, was uns da erwarten würde. Kurz resümiert ein modernes Abenteuer, ein Hybrid zwischen Sport- und Alpinklettern mit den Rahmenbedingungen einer Bergtour.

Die Route bietet ein fantastisches Bergerlebnis. Hier unterwegs im Quergang von L10 (6c).

Ja, und eine Bergtour beginnt früh und mit einem langen Anmarsch. Das ist auch hier so, per Pedes sind es nahezu 10km Distanz und 1500hm an den Einstieg. Das Attribut "nur für Lauftüchtige" trifft hier auf jeden Fall zu. Ein bisschen bequemer noch geht's, wenn man das Bike mit in die Tour einbeziehen kann, wovon wir natürlich Gebrauch machten. Dafür wirft dies die Frage auf, wie man dem Zustieg im Detail gestaltet. Uns dünkte es schliesslich am ökonomischsten, das Bikedepot am Glärnischhüttenweg bei auf ca. 1440m zu machen und den Rossmatt-Talkessel im Uhrzeigersinn nach Bächi zu beschreiten. Die Gegenuhrzeiger-Option via Zeinenstafel und Bächistafel verwarfen wir wegen dem längeren Rückweg und da wir es ab Zeinenstafel im Kartenstudium als nicht mehr fahrbar taxierten - das ist aber möglicherweise nicht mehr aktuell, da kürzlich eine auf dem Luftbild noch nicht sichtbare, fahrbare Piste bis nach Bächistafel gebaut wurde.

Durch die eindrückliche, 350m hohe Bächihorn-Südwand führt mit Köbis Wäg nur eine einzige Route.

Naja, irgendwann und irgendwie wird man es nach Bächi geschafft haben. Auch von da sind es nochmals 500hm hinauf zum Einstieg ins Radtäli. Durch dieses war ich bei früherer Gelegenheit schon 2x anlässlich von Skitouren gegangen (Link zum Bericht). Erstaunt nahm ich zur Kenntnis, wie dieses bei guter Schneelage ebenmässig ausgefüllte Gelände im Sommer ein Chaos von riesigen Blöcken ist. Trotzdem, es ist auch zu Fuss ganz ordentlich begehbar, selbst die letzte Geröllhalde hinauf zum Einstieg war keine üble Schinderei. Der Einstieg liess sich mit den angegebenen Koordinaten und dem Wandbild im Originaltopo problemlos auffinden, er ist mit einem einzelnen, rostfreien BH mit Irniger-Plättli markiert. Wir waren zwar deutlich schneller wie die 3h welche auf dem Topo stehen, ziemlich genau 2:00h brauchten wir aber doch. Wir bereiteten uns zügig vor und starteten um 8.30 Uhr mit der Kletterei. Noch im Schatten übrigens, die Sonne erreicht den Einstieg anfangs September erst um ca. 10 Uhr.

Wildes Ambiente im Radtäli mit viel Schotter und steilen Felswänden - im Sommer kaum besucht.

L1, 40m, 6a+: Gebannt von der riesigen, durchaus etwas einschüchternden Wand stiegen wir ein. Immerhin präsentieren sich die ersten Meter wie auch die Absicherung als gutmütig, der Fels deutlich solider wie der Pessimist vom Wandfuss vermutete. Die Querung am Ende hat es dann in sich, ein paar feine Moves sind nötig. Ebenso wie eine durchdachte Wahl von Griffen und Tritten - als Sicherungsmann suchte ich instinktiv und gerne die Deckung auf.

Die ersten Meter in L1 (6a+). Gut abgesichert und freundlich zu beklettern.

L2, 45m, 6c: Entlang einer überhängenden Verschneidung geht's gleich volle Kanne los. Es wartet für den ganzen Körper anstrengende und komplexe 3d-Kletterei, ich fand es sehr fordernd für den Grad! Leider ist die linke Verschneidungswand nur durchschnittlich solide, so ist man trotz der guten Absicherung auch mental gefordert... geht aber schon. Nach einem Verschnaufer folgt dann der zweite Teil mit gutgriffiger, überhängender Wandkletterei - cool zu klettern, recht schöner Fels, aber auch da ist nicht alles bombensolide.

Überhängende, grossgriffige Kletterei im oberen Teil von L2 (6c).

L3, 35m, 5c+: Eine der schlimmeren Seillängen... hin und her mäandrierend sucht sich die Route den besten Weg zwischen den hohl tönenden Felszonen hindurch. Alleine schon die Linie gäbe einiges an Seilzug, zudem stecken dann einige Bolts auch noch blöd ausserhalb, weshalb man am Ende selbst mit Verlängerungen kaum mehr vorwärts kommt. Vermutlich gab's aber wegen der schlechten Felsqualität oft keine bessere Placement-Alternative. Ich empfand diese Länge eher als 6a+ wie 5c+, aber vielleicht habe ich im Nachstieg nicht so gut geschaut. Fazit: da muss man durch.

Das Ambiente überzeugt hier in L3 (5c+) deutlich mehr als die Felsqualität.

L4, 35m, 6c: Dieser Abschnitt ist über weite Strecken nicht schwieriger oder sogar einfacher wie der vorherige, die 6c-Crux gibt's allerdings durchaus. Das Originaltopo liefert den Hinweis "die Lösung liegt im Gras". Somit darf man das hier durchaus verraten. Wobei es eben wirklich kaum eine Alternative gibt, als die grosse Grasmutte in die Sequenz einzubauen. Der Fels dünkte uns wieder etwas besser als in L3, gerade in der Crux soll es aber auch wohlüberlegt sein, an welchen Strukturen man seine Kraft an den Fels bringt... vor allem weil man da mehr oder weniger zwingend auch an ein paar kleineren Dingen zu ziehen braucht.

Am Ende von L4 (6c) hat man den überaus steilen Wandsockel überwunden.

L5, 40m, 5b: Man wechselt am Beginn dieser Länge vom grauen Kalk in schwarzbraunes, sandsteinartiges Gestein. Sie bietet relativ einfache und unkomplizierte Kletterei. Etwas verwirrlich sind die (zwar auf dem Topo markierten) Verhauer gerade hinauf, welche von unten gesehen der offensichtliche Verlauf sind. Nach der relativ dicht gebolteten Crux (mit dumpf tönenden Schuppen darum herum) quert man über eine Art Rampe mit einem Riss nach links hinauf - hier findet sich einer der wenigen, längeren Hakenabstände und der Stand links um die Ecke ist nicht gut sichtbar.

Am Ende von L5 (5b) der rissdurchzogenen Rampe nach links hinauf folgen!

L6, 40m, 6c+: Wir stimmen mit dem Topo überein, dass sich hier die schwierigste Einzelstelle der Route befindet. Schon mal nicht ganz trivial geht's aus dem Stand raus bis dahin. Der technische Boulder erfordert dann etwas Einfallsreichtum für die zu wählende Sequenz und präzise Fussarbeit. Zum Glück hat man vor dieser Passage etwas Zeit, um sich eine Lösung auszudenken, ebenso kann man im fast schwarzen, körnigen Gestein auf eine exzellente Reibung für die Fusssohlen zählen. Nach der Schlüsselstelle geht's einfacher nach rechts querend hinaus zu Stand.

Der Autor gerade in der Crux der Route (L6, 6c+), das Foto ein bisschen ein Onsight-Spoiler 😘

L7, 40m, 5a: Erst kurz links ausholend hinauf, dann in einem grossen Quergang nach rechts. Unschwierig, teils etwas grasig, der Fels ist aber gut und eigentlich überall solide.

In L7 (5a) folgt die Route der natürlichen Linie, welche dafür etwas grasig ist.

L8, 40m, 5c+: Ziemlich steil geht's hier gutgriffig hinauf, wobei die Linie einige Ecken drin hat. Auch hier ist der Fels erfreulich solide. Es könnte ziemlich beruhigend sein, dies zu wissen, turnt doch der Vorsteiger über längere Zeit direkt über dem Stand herum und man steht da ziemlich exponiert.

Jonas in der schönen und gutmütigen L8 (5c+), aber oben droht die irrwitzig steile Headwall.

L9, 35m, 6b+: Nun hat man die von unten wahnwitzig steil erscheinende Abschlusswand erreicht. Wie das wohl wird? Der Fels ist stark strukturiert und weist dementsprechend viele Griff- und Trittmöglichkeiten auf. Die Frage scheint allerdings oft, woran man denn ziehen kann, ohne dass es einem gleich entgegen springt - und das sind halt oft nicht die besten Griffe. Unerschrockene Gemüter würde wohl einfach an allem zerren, was den Fingern Widerstand bietet. Wie lange das wohl gutgehen würde? Meine Einschätzung ist nicht allzu lange, aber vielleicht bin ich da zu pessimistisch veranlagt. Auch hier stecken die Haken ziemlich kreuz und quer (Seilzug!), am Ende dann weiter rechts wie ich vermutete.

Ausstieg aus L9 (6b+), die vermeintliche Engagée-Sektion wird durch einen versteckten BH rechts entschärft.

L10, 25m, 6c: Erst ein markanter Quergang nach links, dann gerade hinauf. Da wieder dasselbe Spiel wie vorher. Ein erfolgreicher Durchstieg erfordert nicht nur einfach 6c-Klettern. Sondern ausgehend von einem Haltepunkt tastet und klopft man alles Griffmaterial in Reichweite ab und entscheidet sich das für das solideste, was man halten kann. Das erfordert nicht nur Ausdauer, sondern auch eine gewisse Geduld. Und logischerweise verwendet man so eben öfter nicht die grössten Griffe und Tritte. Das Finish der Länge bietet dann erfreulicherweise besseres Gestein, ja es ist richtig cool, wie im kompakt-grauen Kalk sich genau an der richtigen Stelle ein paar Löcher befinden.

Coole Moves in schönem Fels am Ende von L10 (6c).

L11, 30m, 6b+: Hier besteht die Hauptschwierigkeit im Boulder aus dem Stand raus, nachher heisst es an guten Griffen noch eine Weile dran zu bleiben. Der Fels an dieser Stelle wirkt mit seinen Leisten klausenmässig und ist von prima Qualität. Am Ende verflacht sich das Gelände, Richtung 1 Uhr findet man nach dem längsten Hakenabstand der Route den nicht gut sichtbaren Stand - einfach da hin klettern, wo einem das Gelände leitet.

L12, 30m, 5b: Ein relativ kurzes 2-Bolt-Rüteli ohne besondere Schwierigkeiten. Jedenfalls wenn man am Ende nicht direkt klettert, sondern die logische Linie links herum wählt. Aber Vorsicht, die grossen verkeilten Schuppen da sind durchaus bedenklich und vor allem direkt über dem Standplatz. Hier investiert man möglicherweise besser etwas mehr Effort und klettert direkt?

Ein mega Ambiente am Ende von L12 (5b).

L13, 40m, 5c+: Der Horizont legt sich zurück und man kann das Ende dieser grossen Wand vermuten. Allerdings stellt sich einem durchaus nochmals ein Hindernis in den Weg. Und zwar nicht in Form von schwierigen Kletterstellen, sondern im Mitteldrittel von doch arg mürbem Fels. Im Vorstieg dank der eng gehaltenen (kreuz und quer)-Absicherung fast eher weniger bedenklich wie für die Sicherungsperson, welche am Standplatz weder Schutz- noch Ausweichmöglichkeit hat...

Die letzte Länge (L13, 5c+) erfordert einen umsichtigen Vorsteiger, damit die Sicherungsperson nicht in Lebensgefahr gerät. Hier befindet sich doch allerhand an Material, welches man problemlos in die Tiefe schicken kann und der ungeschützte Standplatz befindet sich direkt unterhalb.

Um 14.50 Uhr und damit nach 6:20h Kletterei waren wir wohlbehalten auf das flache Plateau am Gipfel des Bächihorns ausgestiegen. Mir war die ganze Route onsight (alle schwierigen SL im Vorstieg) bzw. flash (einfachere SL im Nachstieg) gelungen. Das ist immer toll, wenn einem dies beim Durchstieg einer solch hohen und eindrücklichen Wand gelingt. Nun könnte man sagen, was soll das schon, bei nur ein paar Seillängen im 6c-Bereich... aber hier fühlte ich eine besondere Genugtuung. Denn den Grad 6c gut klettern zu können, reicht m.E. für einen erfolgreichen Durchstieg im Köbis Wäg bei weitem nicht. Da braucht es das jahrelang geschulte Auge und die gesamte alpine Erfahrung, um die Route ohne Sturz wegen Griff- und Trittausbruch zu klettern. Natürlich hilft einem dabei ein höheres Kletterniveau durchaus, weil man a) mehr Zeit hat für die Auswahl der Strukturen und b) natürlich auch wählerischer sein kann. Als weiterer, erschwerender Faktor kommt hier noch dazu, dass man mit Rucksack klettert und die Schuhe und das ganze sonstige Geraffel mitführt, was bei der steilen Kletterei durchaus ein Faktor ist.

Top of Bächihorn (2638m), im Hintergrund der Bächistock (2914m) mit seinen letzten Eisresten.

Das Ambiente am Top war absolut grandios - die Nahblicke ins Glärnischgebiet, die anderen Glarner bzw. Schwyzer Berge und das Panorama bis zu den Berner Alpen. Vermutlich verirrt sich ja kaum je eine Menschenseele auf diesen Nebengipfel am Glärnisch, aber richtig schön und vor allem einsam ist es da wirklich. Allem Genuss zum Trotz, der Abstieg rief. Denn einerseits ist der Abstieg lang und verspricht laut Topo/Literatur T6-Gelände, andererseits hatte ich um 19 Uhr noch einen fixen Termin. Der nordseitige Fussabstieg ist weder besonders schwierig noch lange anhaltend in schwierigem Gelände. Die Challenge besteht fast mehr in der Orientierung. Man verlässt den Gipfel ostwärts haltend und steigt dann etwas rechts ausholend ab. Ziel ist das diagonale Band der Kubli-Route, über welches man die folgende Steilstufe links absteigend überwindet. Der Einstieg in dieses Band befindet sich ca. bei den Koordinaten 2'717'290/1'206'285 (CH LV95) bzw. 46.99725/8.98081 (WGS84) auf 2550m. Vom Gipfel bis dahin fanden wir keine Markierungen vor, in der Rampe selber gab es dann wenige Steinmänner und BH. Ob es wirklich ein T6 ist, bleibe mal dahingestellt. Bei schneefreien Bedingungen geht's ganz ordentlich, exponiertes Absturzgelände ist es allerdings durchaus. Und eben, falls nötig hat es die Verankerungen zum Sichern.

Blick auf die Nordseite des Bächihorns, über welche sich der Abstieg vollzieht. Aus dieser Perspektive ist es kaum zu glauben, dass die Steilzone seilfrei im Kraxelgelände begangen werden kann. Es geht aber tatsächlich ganz ordentlich. Hinweis: mittig, dort wo 2 Varianten gezeichnet ist, haben wir die obere Querung gewählt. Die direktere Variante sollte aber vermutlich ebenso funktionieren.

Schon knappe 100hm weiter unten ist die Absturzgefahr gebannt. Es wartet einiges an weglosem Geröllgeholper über das Gletschervorfeld, wobei es stets nach rechts zu halten gilt, um schliesslich auf den markierten Trail vom/zum Vrenelisgärtli zu erreichen. Auf diesem hinunter zur Hütte bzw. im Sommer 2023 dem Basecamp-Provisorium. Nach einer 15-minütigen Einkehr gab's gleich nochmals "Kehr", nämlich viele derer hinunter zum Bikedepot, wo wir um 16.55 Uhr eintrafen. Die rauschende Talfahrt, vorbei an einigen Hochtourengängern mit bereits nicht mehr sehr rundem Schritt, nahm keine Viertelstunde in Anspruch. Wow, das war ein Abenteuer! Vielen Dank Jonas für deinen Abenteuergeist und den Vorschlag zu dieser Tour.

Zurück beim Bikedepot im Rossmatter Kessel. 

Facts

Bächihorn - Köbis Wäg 6c+ (6b obl.) - 13 SL, 475m - Balsiger/Bär 2012 - **;xxxx
Material: 2x50m-Seile, 12 Express, evtl. Cams 0.3-0.75

Eines ist sicher, wegen der grandiosen Felsqualität muss man diese Route nicht klettern. Es warten viele verschiedene Gesteinsarten, nicht alle davon sind bombensolide. Ich würde das Unternehmen nur Leuten empfehlen, welche solide Alpinerfahrung aufweisen und im Umgang mit unsicherem Gestein versiert sind. Daher gibt es auch nur eine 2*-Bewertung. Man verstehe mich aber nicht falsch: die ganze, abenteuerliche Unternehmung, die riesige Wand, das Ambiente, viel lässige Kletterei und teils auch sehr schöner Fels lieferten mir persönlich einen 5*-Tag. Nun, im Wissen darum wie es ist, würde ich die Tour erst recht angehen - ich finde man muss einfach wissen, was einen erwartet und sie ist nicht für jedermann geeignet. Die Absicherung mit rostfreien BH ist sehr gut ausgefallen - die schwierigsten Passagen sind auf xxxxx-Niveau gebohrt und nicht obligatorisch und auch im einfacheren Gelände gibt es keine weiten Abstände. Die Mitnahme von mobilen Sicherungsmitteln ist daher nicht wirklich nötig (wir hatten keine dabei). Hin und wieder wäre es aber schon möglich, noch einen kleinen bis mittleren Cam zu versenken. Ein Abseilen/Rückzug über die Route ist bis Stand 9 ohne Schwierigkeiten möglich. Die Standplätze sind auch danach zum Abseilen eingerichtet, wegen dem querenden Verlauf im Steilgelände wird ein Rückzug aber aufwändig und mühsam. Der Fussabstieg vom Top ist sicher die viel bessere Variante, jedoch nur im Spätsommer bei schneefreien Verhältnissen ohne alpine Ausrüstung möglich. Auch wenn man nicht abseilt, so sind 2x50m-Halbseile zu empfehlen (mehr Sicherheitsreserve bei Steinschlag, teils Halbseiltechnik zur Vermeidung von Seilzug nötig). Unten das Topo vom (mir persönlich bekannten) Erschliesser Fredi Balsiger. Vielen herzlichen Dank für all eure Arbeit und Chapeau für die Courage und das Durchhaltevermögen, in dieser Wand eine solche Route einzurichten. Wer so etwas noch nie selber gemacht hat, kann sich kaum vorstellen, wie viel Effort und Herzblut dafür nötig sind.


Das Topo der Erschliesser, vielen herzlichen Dank! Es ist auch als PDF verfügbar.


Montag, 4. September 2023

Titlis Nordwand - Size Matters (7c)

Hitzewelle mit stabilem, gewitterfreiem Wetter schon seit einiger Zeit, leider hatte ich sie nicht wirklich für MSL-Touren nutzen können, welche nur bei diesen speziellen Lagen möglich sind - ja sogar mich sogar an einem Tag bei absolut saunahaften Bedingungen anlässlich der ZKM im Indoor-Klettern versucht. Das war für mich aber eine ziemlich frustrierende Erfahrung, gebadet im eigenen Schweiss fühlten sich alle Griffe wie mit Schmierseife bestrichen an, der Grip war bei unternull und es ging einfach rein gar nichts 🥵 Klarer kann man es nicht aufgezeigt erhalten, dass in einer solchen Periode an einer hoch gelegenen, schattigen Wand angegriffen werden soll. Und tatsächlich, mit etwas Geduld war die Gelegenheit da, um mit Local Angie an der steilen Titlis Nordwand zu versuchen. Das Ziel war, die erst kürzlich im 2020 von Tobias Wolf und Michel Meyer erschlossene Size Matters (9 SL, 7c) zu begehen, so weit wie möglich freizuklettern und zu punkten.

So gefällt es mir die Hitzeperiode wesentlich besser als schweissgebadet und ohne Grip in der Halle.

Unsere Tour startete um 7.15 Uhr beim üblichen Ausgangspunkt bei der Fürenalpbahn. Zügig liefen wir den uns bestens bekannten Weg hinauf zum Einstieg, welcher sich ca. 30m rechts der Rampe befindet, über welche man für viele andere Touren in die Wand quert. Ein rostfreier BH mit langer Schlinge markiert den Start, zur Zeit unserer Begehung war der Name auch mit einem Stein im belagigen Fels eingeritzt. Nach 1:25h hatten wir diesen Ort erreicht und bereiteten uns im Schatten bei angenehmen Temperaturen auf die Kletterei vor. Ein paar Minuten vor 9.00 Uhr ging es schliesslich los. Wir hatten uns für einen Blockvorstieg entschieden, wobei Angie die ersten 4 und ich meinerseits die folgenden 5 Längen übernehmen würde.

Der zentrale Teil der Titlis Nordwand mit dem Verlauf von Size Matters (7c).

L1, 50m, 7b+: Los geht's zwar recht steil, aber griffig und daher moderat schwierig im 6b-Bereich. Etwas bedenklich ist der Abstand von Bolt #2 zu #3, wo ein Grounder absolut drinliegt. Man kann dazwischen eine mobile Sicherung anzubringen versuchen (Cam 0.75, passt eher schlecht, besser evtl. einen mittleren Keil verwenden). Nach einem etwas brüchigen Intermezzo muss dann ein massiv überhängender Wulst attackiert werden. Da hätte es bestimmt auch Optionen mit etwas tieferer Schwierigkeit gegeben, aber die Route führt volle Kanne mittendurch. Die Hauptschwierigkeit ist ziemlich kurz und zwar gut abgesichert, da man aber schon relativ weit oben von gestuftem Gelände ins Steile klettert, ist aufmerksames Sichern geboten. Es muss heftig an kleinen Leisten bei akuter Trittarmut geriegelt werden. Leider ist der Fels ziemlich staubig. Noch dazu waren meine Finger (als Nachsteiger, nach längerem Sichern) nicht wirklich auf Betriebstemperatur und so habe ich hier ziemlich subito das Handtuch geworfen. Ein bisschen schade zwar, aber werten wir das positiv als die nötige Altersweisheit, welche unnötige Verletzungen vermeidet. Nach einem henkligen Exit aus der Crux folgt nochmals einfacheres und auch nicht überall supersolides Gelände zum Stand. 

Seitenblick zum Lochblick - wer sucht, der findet einen Kletterer der Seilschaft, die dort aktiv war.

L2, 50m, 6b: Gleich aus dem Stand raus wartet die Crux in kompaktem Gelände. Wer sucht der findet die 6b-Lösung, zauberhaft geht's auf! Der Rest der Seillänge bietet leider nicht dieselben, erquickenden Erlebnisse. Erst eine Verschneidung mit etwas brüchigem Fels, dann wird das Gelände graduell einfacher und gestuft, ja sogar beinahe Gehgelände. Etwas Vorsicht ist angebracht, denn auf den Bändern liegen lose Steine und die Sicherungsperson unten steht exponiert in Schusslinie, hat aber keinen Sichtkontakt.

Ausblick auf L2 (6b), die einen wirklich coolen Beginn hat und dann einfach wird.

L3, 50m, 7a+: Eine sehr originelle Seillänge, einzigartig! Es stellt sich nämlich eine kompakte Plattenzone in den Weg. A priori ist es schwierig einzuschätzen, wie "machbar" sich dieser Abschnitt entpuppt. Mit etwas Kenntnis vom Titlisfels kann man zwar vermuten, dass die nötigen Leisten schon da sind. Aber es war dann doch noch ein wenig anders wie zuerst gedacht. Anyway, gleich zu Beginn heisst es erst einmal, die grauen Zellen einzuschalten. Die Erschliesser haben sich wohl beim Bohren der Sicherung auch gedacht, dass es gerade hinauf schon gehe - das war/ist ein Irrtum. Nach dieser Passage geht's vorerst recht kommod voran, wie erhofft hat es genügend positive Struktur. Was sich aber ändert: die Schüpplein werden plötzlich klein à la Beastmaker 8mm und man muss die Sequenz sorgfältig zu planen beginnen. Erwähnt sei, dass manche dieser Minischüpplein etwas fragil wirken. Ohne ihnen voll zu vertrauen geht es aber nicht, bei uns hat auch alles standgehalten. Die Crux ist ein Rockover auf einen hohen Tritt, der zwar gut gesichert, aber doch zwingend ist. Adäquate Hüftbeweglichkeit und präzises Schuhwerk mit etwas Downturn machen es sicher einfacher. Recht anhaltend, aber nicht mehr ganz so schwierig geht's zum Stand.

Die kompakte Wandzone von L3 (7a+) bietet einen sehr langen Abschnitt...
...mit echt cooler Crimperei!

L4, 35m, 7b+: Bis zu dieser Seillänge spielte sich die Route (mit Ausnahme vom kurzen Wulst in L1) auf der gutmütigen Seite der Vertikale ab. Mit Blick nach oben wird klar "das ändert nun". Na gut, erst führt noch ein kurzes Schnafel-Intermezzo zur steilen Wand, welche an ihrem Eintritt dann auch gleich mit der Crux aufwartet. Es handelt sich um einen kniffligen, eher technischen Boulder in leicht überhängender Wand. Mir ist der ziemlich leicht gefallen, schwierigkeitsmässig gefühlt nicht "on par" mit der Passage in L1. Ob das generell gilt, an individuellen Vorlieben oder der Körpergrösse liegt?!? Schwer zu sagen, ich konnte problemlos passieren und die folgenden Henkel erreichen. An diesen geht's im Turnfest-Style bei Anforderungen von maximal im 7a Richtung Stand, wobei die letzten Meter nochmals etwas Entschlossenheit erfordern.

Einstieg in den steilen Wandteil mit der Boulder-Crux von L4 (7b+). Auch der erste Teil von L5 (7a+) verläuft in dieser Wand, welche hier den Horizont bildet, mehr oder weniger direkt oberhalb der Position des Fotografen. 
Prima Moves findet man auch im oberen Teil von L4 (7b+).

L5, 50m, 7a+: In der steilen Wand geht's weiter, mein Apriori-Eindruck von "da haben sich aber auch eher die steilste als die gängiste Variante gewählt" verflüchtigt sich beim Klettern subito. Liegt auch daran, dass das Gestein hier ortstypisch mit formidablen, positiven Henkeln in rauem Fels auftrumpft. Die Passage ist sehr freundlich gesichert, trotzdem gilt es den Weg von Haken zu Haken zu planen. Aufgehen tut wohl jede erdenkliche Sequenz, die Frage ist bloss, wie wählerisch man zu sein hat, um in der Vorgabe von 7a+ zu bleiben. Vermutlich nicht einmal allzu sehr, ist mein Fazit in Retrospekt. Mir jedenfalls gelang es mühelos, auch wenn man vielleicht mal 2-3 Griffe leicht riegeln muss, kommt dann sicher der nächste Henkel, wo man sich wieder Übersicht und Luft verschaffen kann. Man steigt dann in eine seichte Verschneidung aus, das Gelände legt sich zurück und die Schwierigkeiten lassen nach. Man wähnt die Sache schon als gegessen, wie das Gestein zum Ende hin (für den Titlis absolut untypisch) nordwandmässig glatt und mit weissen Flechten übersät wird. Gut planen, ausspreizen, den Füssen vertrauen und kühlen Kopf bewahren heisst es da. Was auch daran liegt, dass sich diese Passage über dem Haken abspielt. Es ist mehr mental als schwierig... aber mit dem nach unten ziehenden Seilgewicht und der Sicherungsperson ausser Sicht- und Hörweite fühlt man sich da unweigerlich etwas auf sich alleine gestellt.

Auf diesem Foto sieht man das Filetstück von L5 (7a+) mit der überhängenden Henkelei nicht. Gezeigt wird hingegen der etwas einfachere Ausstieg durch eine seichte Verschneidung. Auch das hier für die Location unübliche, nordwandelig glatte Gestein mit den weissen Flecken kann man nachvollziehen. Die etwas heimtückische Abschlusspassage bleibt dann jedoch wieder verborgen.

L6, 50m, 6c: Der Ausblick verrät, dass die Wand steil (vertikal bis leicht überhängend) daherkommt. Von unten sieht's kompakt und unnahbar aus, aber der Titlis-Kenner weiss um die Henkel, welche sich hier typischerweise präsentieren. Und genau so ist es dann. Zuerst über ein paar Meter gestuftes Gelände geht's ans Eingemachte, wobei hier 3 BH mit kurzem Abstand und auch die schwierigste Passage folgen. Aber dann... werden die Sicherungsabstände weit! De fakto sind es am Ende 8 BH auf die 50m, wobei die ersten drei ja eben nahe stecken. Somit sind die Sicherungsabstände im oberen Teil jeweils ca. 8-10m. Ja, es ist alles gutgriffig und wohl so im Bereich von 6a+/6b. Aber eben doch auch etwas spooky. Man stelle sich eine anhaltende 6b-Hallenroute vor, wo man gerade mal 1 Zwischensicherung einhängen darf (klar ok, ist wegen der dortigen Bodensturz-Gefahr auch nicht wirklich vergleichbar, einfach so rein von den Distanzen her, denke in der Halle kriegt man eher auch schon Muffensausen, wenn man einmal 2 Haken auslassen müsste, hier wären es dann aber eher etwa 5). Kommt noch hinzu, dass man sich den Weg zwischen den in schön gerader Linie steckenden Haken etwas mäandrierend suchen muss, sie oft recht ehrlich angeklettert sein wollen. Und vor allem auch, dass der Fels nicht Premium ist. Griffe zum Ausreissen und Tritte zum Wegbrechen gibt's da sicher manche - natürlich aber auch genügend solides Material, welches standhält. Man verstehe mich nicht falsch, mit der nötigen Erfahrung, einem kühlen Kopf und wissend was man tut ist es nicht so eine Sache, echt gefährlich wohl auch nicht... irgendwie leicht unentspannt aber doch.

Gutgriffige Kletterei bei weiten Hakenabständen im oberen Teil von L5 (6c).

L7, 25m, 6c+: Ja, jetzt habe ich im Paragrafen zu L6 so viel getippt, dass mir hier fast nichts mehr übrig bleibt. Denn diese Seillänge unterscheidet sich von der vorangehenden kaum. Bald nach dem Stand folgt die schwierigste und etwas steilere Passage, hier ist auch der Fels schöner/solider und die Absicherung vernünftig. Die oberen zwei Drittel sind dann eben vom in L5 geschilderten Style.

Seitenblick zur sehr markanten Struktur der Nase, wo Duracell (7b) und Land ohne Herren (7c) enden.

L8, 50m, 7a: Und es folgt gleich nochmals ein Abschnitt, welcher den beiden vorangegangenen sehr stark ähnelt. Auch hier beginnt es in der Tendenz etwas steiler und kompakter, während im oberen Teil erneut wieder Nervenkitzel im "ja nicht stürzen"-Gelände folgt. Die Crux ist etwas unübersichtlich, für einen Moment stand ich da etwas wie der Esel am Berg (bzw. hing an guten Griffen, bevor es wirklich losgeht). Denn irgendwie schien es plötzlich keine tauglichen Strukturen mehr zu haben, viele Alternativen waren denkbar (links, mittig, rechts), aber keine präsentierte sich als optimale Wahl. Sprich, die Intuition streikte für einen Moment und "7a, w.t.f." dominierte die Gedankenwelt. Das hilft aber bekanntlich nicht weiter, mit etwas Geduld fand ich den Schlüssel, alles löste sich prima auf und so war es eben auch nicht schwieriger als 7a. Danach zum Stand hin dann wieder das bekannte runoutige, eher alpin anmutende Gelände.

Zumindest optisch alpin anmutende Kletterei im oberen Teil von L8 (7a).

L9, 30m, 7c: Mir schien es, als ob die Erschliesser hier ihrer Route noch einen Schlusspunkt setzen wollten, der sie als taffe MSL-Sportkletterei definiert und nicht bloss einfach eine 7b-Route für jede:n ist. Vom Stand leicht rechts hoch, ein paar Meter neben der nun gewählten Linie hätte sich m.E. schönes, griffiges Gelände gefunden, welches kaum den 9. UIAA-Grad fordert. Aber item, die Route führt leicht nach links und verläuft in (oder zumindest hart an) einem dunklen Wasserstreifen, der sicher nicht immer trocken oder dann etwas staubig-belagig ist. Ein kurzer Bewegungsboulder zum Einstieg führt zu einem Dächli (erste Crux), wo man erst an etwas dubiosen, verkeilten Steinen zerrt und dann an staubigen Schlitzen mantelt. Es folgt eine etwas einfachere Sequenz (ca. 7b) mit leistenlastiger Rési-Wandkletterei, das sind echt coole Moves. Vor der finalen Crux lässt es sich dann recht gut Schütteln und überlegen, was man tun will. Laut Topo gibt es da nämlich 2 Varianten, die direkte (8a) und eine Rechtsschleife (7c). Letztere ist der Weg des geringsten Widerstands und gerade im Onsight sicherlich die logische Wahl. Eine schliesslich doch erstaunlich knifflige, bewegungsintensive Querung führt zu einem Extrabolt und guten Griffen, die einem wieder nach links auf den Direktweg zurückleiten. Ein Tipp an alle, die bis dahin noch keinen Tolggen im Reinheft haben: nicht die Sache auf den letzten Moves noch hergeben... Es ist steil und unübersichtlich, man muss noch 1-2x durchziehen - nicht wirklich schwierig, wenn man weiss was tun, bzw. wo die Griffe sind die anhängen. Mit leerem Tank hat das aber quasi auf dem letzten Meter leider noch Abwurfpotenzial. 

Angie am Schüttler nach der "leistenlastigen Rési-Wandkletterei" im Mittelteil von L9 (7c). Am Seilverlauf erkennt man gut den folgenden (vor Ort absolut logischen) Auskneifer in den Goldstreifen. In voller Auflösung ist auch der nicht geklippte BH der 8a-Variante erkennbar. Er liegt zwar fast im Seilverlauf und von unten denkt man sich zuerst durchaus "den klippe ich dann, auch wenn ich die 7c-Variante mache". Aber das entpuppt sich als komplett unrealistisch...

Zur 8a-Direktvariante kann ich nicht allzu viel sagen: wie geschrieben leitet einen das Gelände nach rechts, sprich in direkter Linie hat's keine offensichtlichen, tauglichen Griffe und der Klipp des BH der 8a-Variante scheint so etwas zwischen 'proper hard' und 'desperate'. Irgendwie dünkte es mich, dass man nach dem Klipp (für welchen man etwas höher steigen muss als man in der 7c-Variante klettert) wohl doch so schnell und gut wie möglich nach rechts in den Bereich der 7c-Lösung halten würde, um die dort einfach deutlich zahlreicheren und besseren Strukturen zu erreichen, womit sich die 8a aus dem Klipp des schwierig erreichbaren BH ergeben würde. Aber das ist nicht verifiziert und möglicherweise ein Trugschluss - take it for what it's worth. Oder mit anderen Worten: wenn ich die 8a hätte punkten können, so würde mein Text vielleicht ganz anders ausfallen.

Super fotogen und viel Luft unter dem Bürzel - Angie in L9 (7c).

Ein paar Minuten nach 16.00 Uhr und somit nach guten 7:00h der Kletterei waren wir am Top. Die Seillängen 2-8 gelangen mir alle gut onsight bzw. flash und am Stand vor der Crux hatte ich mich schon gefragt, ob ich die Chance auf den stilreinen Gesamtdurchstieg mit meinem Verzicht auf vollen Angriff in L1 wegen den noch kalten Fingern zu leichtfertigt verschenkt hatte. Wie gut man mit der logisch gefolgerten Emotion "es ist besser, wenn du die 7c nicht schaffst" klettert, kann man sich ja vorstellen... 🙈 Nein, ich mache nur Spass - natürlich habe ich mein Bestes gegeben und solch doofe Gedanken komplett ausgeblendet. So ganz ohne Kletterspuren war sie mir aber leider zu schwierig für einen Onsight 🤷🏼‍♂️. Mit noch etwas Tuning der Sequenz schien mir ein RP zwar absolut realistisch. Aber eben doch auch nicht zu 100% gewiss, zudem hätte ich ja dann auch in der 7b+ von L1 noch Nachbessern müssen (was mir ehrlich gesagt da und erst recht jetzt im Nachhinein mehr Bedenken macht/e). Zusammen mit der Tatsache, dass auch die Sonne bald die Wand bestreichen würde, einer durchaus fühlbaren Müdigkeit und vor allem der persönlichen Einstellung, dass man beim Wiederholen von MSL pro Seillänge genau 1 Shot hat und es entweder gleich geht oder dann halt nicht, wurden allfällig aufkeimende Ambitionen auf "mehr" wieder verworfen.

Im Exit aus L9 (7c) warten noch 1-2 athletische Moves mit Abwurfpotenzial 😲

Somit seilten wir ab. Im Vergleich zur jüngsten Erfahrung in Land ohne Herren war das in der Size Matters bloss ein Kinderspiel (eine in der LoH agierende Seilschaft brauchte tatsächlich ein Mehrfaches an Zeit für das Abseilen wie wir). L9 ist deutlich überhängend und erfordert etwas Pendelschwung, das passt aber gut. Ebenso sollte man in L5 ein, zwei BH einhängen (da die Länge oben seitlich quert und unten überhängend ist). Die restlichen Stände sind gut erreichbar, im unteren Teil ist sogar eher die Seilpflege und Umsicht wegen ausgelöster Steine das dominierende Thema. Während in der Wand durchaus angenehme Temperaturen geherrscht hatten (kurze Hose, T-Shirt, manchmal das Jäckli zum Sichern, sogar beim Klettern blieb es mal an), konnten wir uns zurück beim Einstieg sogar genussvoll und ohne gleich versengt zu werden in die Sonne setzen. Nach einer gütlichen Pause machten wir uns an den zügigen Abstieg - das war es wohl mit der Titlis-Saison 2023, but we'll see.

Facts

Titlis Nordwand - Size Matters 7c (bzw. 8a, ca. 6c obl.) - 9 SL, 390m - Wolf/Mayer 2020 - ***;xxx
Material: 2x50m-Seile, 12 Express, evtl. Cam 0.3-0.75 oder Keile für L1

Zur Zeit noch wenig bekannte und begangene Route durch einen zuvor noch unerschlossenen Wandbereich zwischen der Piccola Spada und dem Lochblick. Wir waren sehr gespannt auf dieses Unternehmen, welches sich auf laut den Einstufungen auf dem Papier in einer ähnlichen Kragenweite wie die Land ohne Herren abspielen könnte. Diese Erwartung wurde nicht ganz erfüllt: die Route ist deutlich weniger steil als die beliebten Unternehmungen à la Süpervitamin und Land ohne Herren im linken Wandteil. Überhängend-athletische, eindrücklich steile Henkel-Ausdauerkletterei findet man nur in Teilen von L4 und L5 sowie in L9. Auf weiten Strecken ist die Kletterei in der Size Matters sogar erstaunlich einfach, die schwierigen Stellen sind meist kurze Bouldersequenzen. Auch wenn sich die Route lohnt und mir einen tollen Klettertag beschert hat, wird sie sich kaum als die erste Adresse etablieren, auf welche man an dieser Wand aspiriert. Die Absicherung mit rostfreien BH ist an den schwierigen Stellen (ab ca. 6c) prima und im xxxx-Bereich einzuordnen. Im einfacheren Gelände sind die Abstände aber dann schon deutlich grösser und man könnte eindrückliche Flüge hinlegen, wenn man zur Unzeit einen Fehler macht oder ein Griff/Tritt ausbricht (dass einem an den dortigen Henkeln die Kraft ausgeht, ist hingegen eher unwahrscheinlich). Weil die Wand da meist steil ist, wären solche weiten Stürze aber hoffentlich folgenlos. Item, dort würde ich die Absicherung noch maximal auf Stufe xxx einschätzen. Hinzu kommt, dass das Gestein dort dann auch nicht immer bombig, zumindest aber noch sehr unabgeklettert ist. Für umsichtige, alpin erfahrene Kletterer passt das schon, aber [...]. Laut dem Topo der Erschliesser (siehe unten) werden keine mobilen Sicherungen empfohlen. Dem kann ich beipflichten, denn gute Placements gibt es (v.a. dort wo es nötig schiene) kaum. Wir hatten ein paar Cams am Gurt, ausser in der im Text erwähnten Stelle in L1 haben wir jedoch nix gelegt.

Topo der Erschliesser - hier geht's zum Blog von Tobias, wo es herkommt!