Eigentlich figurierte die My Darling im Val d'Iragna schon seit längerer Zeit im Tessiner SAC-Kletterführer. Leicht abschreckend wirkte da die Tatsache, dass bei der Absicherung nur zwei von vier Haken figurierten, zudem stand bei der ersten 6c-Länge ein fettes Expo. Das hielt nicht nur mich, sondern wohl auch viele andere Kletterer von einem Besuch ab, denn über die Qualität der Route hörte man nichts. Das änderte sich in den letzten Jahren, der Extrem Sud zeichnete ein neues Bild von Routenqualität und Absicherung. Bald gab's auch die ersten, sehr positiv lautenden Berichte, u.a. von meinem Kletterkollegen Jonas. Tatsächlich hat die My Darling viele Vorzüge auf ihrer Seite: sie ist von der Alpennordseite her kommend rasch und mit kurzem Zustieg zugänglich, sie liegt sehr sonnig und gibt ein ideales Ziel für die kühlere Jahreszeit her, die Absicherung mit einem Mix aus vernünftig steckenden Bolts wo nötig und selber abzusichernden Rissen ist absolut stimmig und zuletzt passt ganz einfach auch die Qualität der Kletterei. Knifflige Steilplattenstellen an den ortstypischen Slopern, athletische Wandpassagen, Risse, Verschneidungen und sogar Schrubber-Kamine, auf den 6 Seillängen gibt's das volle Programm.
Schönes, typisches Tessiner Ambiente in Citto mit seinen malerischen Hütten. Das Objekt der Begierde im Bildzentrum. |
Nun denn, der September scheint als Jahreszeit fast etwas gar früh für einen Besuch im Val d'Iragna. Allerdings war auf der Alpennordseite gerade eine Unmenge an Schnee bis in mittlere Lagen gefallen, somit war dort nichts zu holen. Tatsächlich trafen wir im Tessin auf ideale Bedingungen, besser hätte es nicht sein können. Doch es sei an dieser Stelle erwähnt, dass es an dieser Wand selbst an den kürzesten Tagen um den Jahreswechsel rund 4.5 Stunden Sonnenschein von ca. 8.40-13.10 Uhr gibt, was die Route zu einem Ganzjahresziel macht. Eine gut ausgebaute Bergstrasse führt von Rodaglio (zwischen Iragna und Lodrino) hinauf nach Citto (P.739) - hier hilft es, wenn man die Farbe Rot auf weissem Grund nicht so gut wahrnehmen kann. Anscheinend aber ein Phänomen, welches unter Kletterern absolut verbreitet ist... wohl zurecht, denn der Arm der Tessiner Gesetzeshüter scheint nicht bis zu diesen Bergflanken hochzureichen. Alternativ wären es von Iragna 450 zusätzliche Höhenmeter Fussaufstieg auf markiertem Pfad, in ~40 Minuten gut zu machen.
Wandansicht mit dem Routenverlauf |
Von Citto wählt man den mehr oder weniger horizontal verlaufenden Pfad, welcher ins tief eingefressene Tal des Riale d'Iragna hineinführt. Dort, wo man dem Talgrund nahe kommt, wählt man den Pfad nach unten und gelangt bald zur geländerlosen, eindrücklichen Brücke. Auf der anderen Seite geht's dann auf dem markierten Pfad wieder horizontal talauswärts, dies über ziemlich exponierte Felsbänder. Man gelangt schliesslich zu einigen Felstreppen und steigt über ein paar Kehren aufwärts, bis man die zwei gut sichtbaren, halb zerfallenen Ställe erreicht. Links am linken der beiden vorbei, kurz aufwärts und dann wieder horizontal taleinwärts. Dieser Abschnitt kann vom Farnkraut überwuchert sein, zur Zeit unserer Begehung war der Pfad allerdings prima ausgemäht und bequem begehbar. Zuletzt dann, bei einer Rinne (Steinmänner, Rinnsal) hinauf zur Wand - Achtung, nicht zu früh hinaufsteigen, der richtige Punkt ist offensichtlich. Über schwache Wegspuren gelangt man zum Wandfuss, mit Hilfe von einem Fixseil gelangt man aufs Einstiegsband. Entgegen der Angabe in den Kletterführern gibt's im September 2017 nicht nur eine, sondern bereits 3 Routen. Links die Baci dal Nord, in der Mitte die My Darling (Routenname ist am Fels eingemeisselt) und rechts die Chiodo Sudato (mit Metalltafel markiert). Von Citto brauchten wir nur rund 40 Minuten zum Einstieg, es sind nur rund 200hm zu überwinden. Um 11:15 Uhr ging's los mit der Kletterei.
Ambiente im Zustieg, welcher sich auf gut begehbaren, aber exponierten Bändern über dem Riale d'Iragna vollzieht. |
L1, 40m, 6c: Vom Einstieg hochblickend lässt sich die "Expo"-Angabe im Tessiner Führer durchaus nachvollziehen und lässt einen leer schlucken. Der erste Haken steckt auf rund 12m Höhe und die steile Wand bis dahin ist sicher kein Spaziergang. Allerdings auch nicht voll die Härte, zudem lassen sich gut Cams legen, somit sieht's schlimmer aus, als es tatsächlich ist. Nach dem Bolt geht's dann allerdings bald los mit der kniffligen Kletterei. Es warten steile Platten, immer wieder muss man sich an sloprigen Leisten bedienen, die Moves genau planen, sorgfältig hinstehen und sich gekonnt aufrichten. Die Sache ist anhaltend und lässt erst kurz vor dem Stand wieder "lugg". Die Absicherung ist gut, wenn auch zwingend und mental fordernd, einmal ist ein schwierigerer Schritt auch über einem Cam zu machen. Wer diese Länge gemeistert hat, der hat die Route im Sack. Insgesamt eine geniale Sache, danach ist man sicher warm!
Absolut hervorragende, steile und anhaltende Wandkletterei in L1 (6c). |
L2, 30m, 6b: Am schwierigsten sind gleich die ersten Meter nach dem Stand. Zwar stecken die Bolts dort eng und absolut vernünftig, dennoch herrschen beim Sicherer leichte Befürchtungen, dass der da oben im Falle eines Falles der eigenen Rübe gefährlich nahe kommen könnte. Es handelt sich dabei übrigens um typische Tessiner Wandkletterei. Der zweite Teil der Seillänge spielt sich dann etwas einfacher in einer coolen Verschneidung ab, welche mit Cams und Keilen zusätzlich abgesichert werden muss (sehr gut möglich). Der finale Mantle aus der Verschneidung raus ist dann auch nochmals ein bisschen fordernd.
Auf dem Foto kommt die coole Rissverschneidung von L2 (6b) nicht so zur Geltung. |
L3, 25m, 6b: Nach dem zweiten Stand müssen beide Kletterer an einem Fixseil über das horizontale Band etwa 15m nach links dislozieren. Dort will eine grosse, abstehende Schuppe gemeistert werden, was spreizend und in Kamintechnik vonstatten geht. Die Crux dann bei deren Ausstieg, entweder nach links oder gerade hinauf, beides ist nicht ganz trivial. Hier haben verschiedene Leute schon ihre Cams von den Rissen fressen lassen, also Vorsicht! Vermutlich sind ja aber die festgeklemmten noch da und die eigenen Geräte können am Gurt bleiben. Der zweite Teil führt dann kurz etwas durch den Dschungel, allerdings sind die Moves im Fels dazwischen gar nicht gänzlich trivial (und selber abzusichern).
Hier lässt sich's noch easy posieren, die nächsten Meter in L3 (6b) sind dann nicht mehr so einfach. |
L4, 30m, 6b+: Eine weitere Perle von einer Seillänge! Die offensichtliche Verschneidung geht's hinauf, wobei die ersten 15-20m komplett selber abzusichern sind (sehr gut möglich). Helfend ist dabei auch der Riss in der linken Seitenwand, aber das wird dann schon jeder selber merken ;-) Im oberen Teil wird's dann noch richtig athletisch mit 3d-Kletterei. Spreizen, klemmen und schliesslich mit dem Rücken an die Wand, so richtig unkonventionelle Moves warten dort. Man kann's sich's ohne Zweifel viel schwieriger machen, wie es wirklich ist.
Impressionen aus L4 (6b+). Zuerst wird dem Riss entlang gejammt... |
...nachher in exponierter Position gechillt. Das selbst abzusichernde Finale bietet die Crux (und eine gute Ruheposition). |
L5, 25m, 6c: Die Seillänge beginnt gleich mit der Crux, ein unangenehm ausdrehender Piazmove auf schlechten Tritten, wo die Finger eher knapp nicht in die dünne Rissspur passen wollen. Gleich danach kann man diese dann wieder solide darin versorgen und auf Gegendruck vorwärts marschieren. Zumindest bis man in der Rissverbreiterung drin ist, weil dann gilt's in Schrubber-Technik den Kamin zu meistern (und diesen mit Cams im Grund auch selber abzusichern). Nach ein paar Metern ist dieses Intermezzo vorbei, es kommt final eine grossgriffige Wand-Steilstufe zum Stand hinauf.
Prima Ambiente hoch über der Riviera. Vis-à-vis Osogna, Cresciano und der Pizzo di Claro. |
L6, 30m, 7a: Nun wartet noch die nominelle Crux! Erst einmal geht's die steile, athletische Verschneidung hinauf, welche selber abzusichern ist (sehr gut möglich). Dann der Bolt und eine athletische Passage an sloprigen Bändern und Seitgriffen, welche praktisch ohne Tritte in Campus-Manier geklettert werden muss. Ein absolut genialer Boulder, sowas kann man einfach gar nicht schrauben, und genau deswegen klettert der Homo Verticalis so gerne im Tessiner Gneis!!! Jedenfalls wird dort geprüft, wie viel Saft noch in den Armen geblieben ist. Nach ein paar einfacheren Metern folgt nochmals eine plattig-technische Stelle, welche den Zugang zur henkligen, überhängenden Abschluss-Verschneidung erlaubt. Diese hinauf und nach rechts, zum unbequemen (dafür fürs Abseilen sinnvoll platzierten) Stand.
Diese steile Verschneidung zu Beginn von L6 (7a) muss selbst abgesichert werden. |
Um 15.10 Uhr hatten ich nach gerade rund 4:00 Stunden Kletterei das Top erreicht. Somit hätte es also tatsächlich rein von den Sonnenzeit her auch an einem der kürzesten Wintertage gereicht. Leider musste mein Kamerad wegen drohender Verpflichtungen im weltlichen Leben und somit aus Zeitgründen trotzdem auf den Nachstieg in der letzten Länge verzichten. Der Weg zurück wird abseilenderweise vollzogen. Obwohl die Seillängen nicht allzu lang sind, empfiehlt es sich aufgrund einer Bäume und Zacken weniger, die Stände zu überspringen. Wir haben's von Stand 5 nach Stand 3 gemacht, jedoch mit entsprechend Bammel das Seil abgezogen (was zum Glück gut ging). Bald darauf hatten wir den Wandfuss erreicht und machten uns zügigen Schrittes von dannen. Auch am Gotthard herrschte zum Glück und ausnahmsweise freie Fahrt, so dass wir trotz überzogenem Kletter-Zeitbudget rechtzeitig zurück daheim waren. Das war nun wirklich ein vergnüglicher Klettertag in einer höchst empfehlenswerten Route gewesen!
Facts
Parete Val d'Iragna - My Darling 7a (6b+ obl.) - 6 SL, 180m - Balestra/Petrini 1995 - ****;(xxxx)
Material: 2x50m-Seile, 12 Express, Camalots 0.3-2 plus 1 kleinerer, Keile nicht zwingend nötig
Sehr abwechslungsreiche, typische Tessiner Kletterei in bestem Gneis. Einige Bänder mit Büschen und Bäumen durchziehen die Wand, was jedoch nur anspruchsvolle Gemüter zu stören vermag. Die Moves dazwischen sind jedenfalls von Topqualität und bieten viel Abwechslung. Von plattiger Wandkletterei zu selbstabzusichernden Rissen und Verschneidungen über Kaminpassagen bis zu athletisch-griffigen Passagen gibt's alles, was das Herz begehrt. Dort wo man kann, muss die Route selbst abgesichert werden, was mit einem Set Cams (0.3-2 plus allenfalls 1 kleinerer Cam) sehr gut möglich ist. Die nicht absicherbaren Wandpassagen sind gut mit Inoxbolts eingerichtet, wobei die erste Seillänge die forderndste ist und das xxxx-Rating höchstens knapp verdient. Die Vorzüge der Wand kommen insbesondere in der Nebensaison zum Tragen, denn auch im tiefsten Winter gibt's hier noch über 4 Stunden Sonnenschein, was für eine Begehung ausreichen sollte. Das Topo der Erstbegeher ist unten abgebildet, weitere Infos findet man im Extrem Sud oder im SAC-Kletterführer Tessin (z.B. bei Bächli Bergsport erhältlich).
Topo der My Darling. Quelle: scoiattoli.ch |