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Donnerstag, 30. März 2023

Sasso Altis - Poco Loco (7a+, 9 SL, Erstbegehung)

Im Februar 2022 besuchten wir das erste Mal den Sasso Altis. Die gewaltige Wand begeisterte uns mit anspruchsvoller Kletterei in bestem Tessiner Gneis. An diesem Tag reifte der Entschluss, dass wir es hier im Valle di Vergeletto mit einer Neutour probieren wollten. Klar, ein wenig "am Ende der Welt" befindet sich der Sasso durchaus, aber im Vergleich zu Destinationen wie Grönland, Patagonien oder der Antarktis ist er dann doch nur einen Katzensprung von daheim entfernt. Es dauerte schliesslich ein gutes Jahr, bis unser Projekt zur Realisierung kam. Es entpuppte sich als ganz nach unserem Gusto. Die Linie begeisterte uns mit ihrer tessintypischen, plattigen Wandkletterei mit allerlei abgefahrenen Moves. Anspruchsvolles Terrain erforderte unsere vollen Einsatz und das komplette Können - dieses aber war gut genug, um die Route komplett freizuklettern. Ein Tanz auf des Messers Schneide, der zu unseren Gunsten ausging also - insgesamt ein absolut grandioses Projekt, das enorm Freude machte!

Die Wand aus Bottom-Up-Perspektive mit allen Infos kompakt. Das komplette Topo gibt's als PDF!

Erschliessung

Exakt 370 Tage nach unseren ersten Besuch am Sasso Altis war es am 4./5. Februar 2023 soweit. Im Tessin war es schon seit Wochen trocken, von Schnee gab es in tieferen Lagen weit und breit keine Spur, zusätzlich war mildes und uneingeschränkt sonniges Winterwetter angesagt. Vor allem aber waren wir beide von Freitag- bis Sonntagabend frei. Hier gleich für 2 Tage am Stück anzureisen schien das Minimum, um die Sache effizient angehen zu können. Noch besser wären ein paar zusätzliche Tage gewesen, die Profis hätten es bestimmt so gemacht. Mit den Verpflichtungen von Beruf und Familie schien es aber wenig realistisch, auf die Möglichkeit einer solch langen, freien Zeitperiode zu warten und wir entschlossen und zum Go. So pilgerten wir an einem perfekt zum MSL-Klettern geeigneten Wintermorgen mit Seilen, Bolts und Ausrüstung megaschwer bepackt zum Sasso Altis. Die Vorkenntnisse des steilen Zustiegs machten die Sache sicher leichter, allerdings wog dies den Nachteil unserer überschweren Säcke nicht auf. Aber naja, irgendwann waren wir parat und konnten in freudiger Erwartung starten.

Auch wenn's nicht so aussieht: schwer bepackter Aufstieg zur Route, direkt über dem Fotografen.

Zum Verlauf über die unteren Platten hatten wir dank guten Fotos einen klaren Plan fassen können. Einen solchen zu haben erleichtert und verschnellert die Erschliessungsarbeit immer sehr stark. Nichts frisst so sehr Zeit wie das Werweissen darüber, wo es optimalerweise entlang gehen soll, mit dem unweigerlich folgenden Hin und Her. Dieser erste Bohrtag verlief einfach hammermässig, wir richteten die ersten 4 SL komplett ein - im Angesicht der Schwierigkeiten eine erstklassige Performance. Einerseits waren wir "chargé de force et motivation" (cit. Gebrüder Remy), andererseits war uns das Schicksal sehr gnädig. In den blankesten Zonen tauchten immer genau dort wo es am nötigsten schien die rettenden Leisten auf. Während diverse Bolts zwar durchaus Einsatz für ihre Platzierung erforderten, ging es sich immer irgendwie vernünftig aus und wir mussten nie über längere Zeit um das Bohren einer Sicherung kämpfen. Am Ende reichten dann auch unsere fixierten Seile über eine Strecke von 120m exakt auf den Boden zurück (Anmerkung der Redaktion: wäre dem nicht der Fall gewesen, so hätte die Kacke da schwer gedampft). Im Dunkeln stiegen wir durch den Steilwald ab - da wir den Weg schon ein wenig kannten ging das, für Neulinge ist es hingegen nicht so empfehlenswert.

Viktor wagt sich hinaus in eine so richtig blanke Plattenzone - die nötigen Leisten sind aber da!

Bevor wir uns aufs Ohr legen konnten, galt es noch die Akkus für den nächsten Tag zu laden. Nicht unbedingt das einfachste in einem abgelegenen Tessiner Tal. Irgendwo einfach anzuklopfen wäre die Notlösung gewesen, doch in der vernünftig nahen Dorfkneipe von Russo gab's Strom und ein feines Znacht, perfekt! So konnten wir uns gütlich aufs Ohr legen, am nächsten Morgen für einmal leicht bepackt in Rekordzeit zum Sasso aufsteigen und über die fixierten Seile zur Vortriebsstelle gelangen. Die Alpträume, dass das vor Ort belassene Bohr- und Klettermaterial wegen einer plötzlich auftretenden Unpässlichkeit dort oben versauern würde, waren zum Glück nur Phantasien geblieben. Für die folgenden Seillängen 5 und 6 hinauf zum Mittelband hatten wir keinen gleich exakten Plan mehr. Diese Zone war auf unseren Fotos vom Wandfuss schon so stark verzerrt, dass eine realistische Einschätzung des Parcours kaum mehr möglich war. In L5 ergab sich mit einer C-Schleife eine doch ganz nette Lösung, während deine Dachzone in L6 traversierend zu überwinden war. Das griffig-steile Gelände darob saugte die Energie aus den Armen, doch schliesslich war das Band erreicht.

Morgen-Jugging am zweiten Bohrtag. Schneller wie Klettern, anstrengend aber doch!

Die Zone vom Band weg war auf unseren Fotos gar nicht einsehbar. Und auf den ersten Blick ergab sich auch keine offensichtliche Möglichkeit. Somit beschlossen wir, die wenigen verbleibenden Stunden an Tageszeit zu nutzen, um erneut über die "In Destinazione..." zum Top zu klettern. Dass wir dabei das Gelände ideal studieren konnten, war natürlich der erwünschte Haupteffekt. Wir konstatierten, dass die einzig vernünftige Linie vom Band weg jene war, welche die Nachbartour nahm. Einzig ob den Dächern bestand wieder die Möglichkeit für eigenständige Meter. Daheim kontaktierte ich die Erschliesser der "In Destinazione..." und erklärte ihnen die Situation. Natürlich dürften wir gerne ihre Route für 2 SL nutzen und dann ein eigenständiges Finish einrichten, lautete die Antwort. Somit hiess die Aufgabe also, nochmals mit dem Bohrmaterial ins Vergeletto zu reisen. Wir malten uns aus, dass wir im Idealfall die Route bis L8 befreien könnten, dann den Schluss einbohren und auch dort gleich noch die Punktebuchhaltung ins Reine bringen.

Nach dem Aufstieg am Fixseil geht's weiter mit dem Einbohren von L5 (6b).

Fünf Wochen später, am 12. März 2023, kam die Gelegenheit. Das Tageslicht dauerte nun schon ein gutes Stück länger, das spielte uns in die Karten. Andererseits hatten wir nur einen einzigen Tag zur Verfügung, doch den wollten wir ausgiebig nutzen. Tagwache um 3.45 Uhr bedeutete das, grosse Dinge erfordern ihren Einsatz! Trotz allem fit, gut ausgeruht (naja, am Vortag konnte ich das Move & Groove-Finale im Grindelboulder dann doch nicht unbesucht lassen) und voller Vorfreude starteten wir in den Tag, und um 9.00 Uhr schliesslich mit der Kletterei. Während die erste Seillänge noch leicht von der Hand ging, war schon bald High Noon. Die Cruxpassagen warteten in L2 und L3. Zeit zum Ausbouldern hatte wir keine eingeplant. Das schien aber auch nicht nötig, da wir alle Passagen schon beim Einbohren entschlüsselt und freigeklettert hatten. Um im Zeitplan zu bleiben war es aber sogar fast imperativ, dass es im ersten Go mit dem Durchstieg klappte. Die Anspannung war dementsprechend gewaltig, viele Faktoren spielen da mit: der ganze Aufwand an den Sasso Altis zu kommen, die seltenen Gelegenheiten wo das überhaupt zustande kommt und der unbedingte Wille, das Projekt zu vollenden. "Mais pour ça on aime le sport" kann es da nur heissen! Und tatsächlich, beide Seillängen gelangen mir auf Anhieb, ein paar gewaltige Urschreie der Erleichterung die Konsequenz.

Diese wunderschöne und einsame Berglandschaft wurde mit den Power-Screams beschallt 😊

Damit war aber noch nicht aller Tage Abend. Zuerst einmal galt es, die nächsten 3 Seillängen bis zum grossen Band fehlerfrei zu absolvieren. Da von der Schwierigkeit her etwas tiefer eingestuft, mag das nicht als ultimativer Test scheinen. War es de fakto auch nicht, aber hier hatten wir beim Einrichten weniger Aufmerksamkeit auf die effizienteste Lösung gelegt. Zusammen mit dem Gefühl, dass so viel auf dem Spiel steht, blieb es doch stets aufregend. Aber schliesslich war das Band erreicht, wenig später hatten wir auch L7 und L8 auf dem Parcours der "In Destinazione..." bewältigt und waren um 14.00 Uhr bereit, unserem Projekt eine Ergänzung hinzuzufügen. Die initiale Stufe war so gutgriffig wie wir sie vermuteten, doch nach einer schon etwas fordernden Querung wurde es richtig zäh. Die praktisch vertikale Wand wies viel sloprige Struktur auf, an welcher man sich tatsächlich im 7a-Bereich bewegen kann. So richtig gute Tritte fehlen aber, noch mehr störte zum Einbohren aber die Tatsache, dass es überhaupt keine positiven Griffe gab. Nur unter höchster Anspannung und Mühe konnten die nächsten Bolts platziert werden. Endlich kamen schliesslich ein paar griffige Schuppen in Reichweite, womit es wieder etwas bequemer Richtung Ausstieg ging. Erst in der Gegend von 17.30 Uhr war die Arbeit beendet - unglaublich was man da an Zeit verbratet!

Die Route wurde im Winter erschlossen, das Tageslicht wurde jedes Mal voll ausgenutzt. Dies zum Preis eines Abstiegs in der Dunkelheit, dafür gab es jeweils fantastische Abendstimmungen.

Ich war inzwischen ausgepresst wie eine Zitrone, doch natürlich wollte auch diese letzte Seillänge noch gepunktet sein. Also ein Feld zurück im Leiterlispiel, neu einbinden und los ging's! Mein Zustand, wo mir inzwischen die Finger aufgingen sobald ich etwas länger daran ziehen musste war wirklich sehr unvorteilhaft. Auch die Sonne verabschiedete sich bereits hinter dem Horizont, das Tageslicht war somit eine beschränkte Ressource. Somit gab es wirklich nur mehr einen Shot, es musste nun einfach klappen. Mit unbändigem Willen und Geist kämpfte ich um jeden Meter, dass es sich auch bei dieser Seillänge (für mich) mehr um ein technisches Bewegungs- und Positionierungsproblem wie um einen Athletiktest handelt, gereichte zum grossen Vorteil. Tatsächlich gelang der Durchstieg, um 18.30 Uhr und damit bereits in fortschreitender Dämmerung waren wir beide am Top und das Projekt somit zu einer Route geworden. Mit Freude beschrieben wir das unmittelbar links vom Ausstiegsstand platzierte Buch und machten uns Richtung Heimweg. Bald einmal holte uns die Dunkelheit ein - inzwischen war das ja bereits Routine und kümmerte uns nicht weiter. Um ca. 19.45 Uhr waren wir retour am Parkplatz. Das Material wurde sortiert, dann ging's auf die lange Heimfahrt. Erst weit nach Mitternacht legte ich mich schliesslich daheim auf's Ohr. Eine weitere, kurze Nacht stand mir bevor, riefen doch schon bald wieder die Pflichten für Arbeit und Familie. Doch wenn eine solche Route wie die Poco Loco der Preis ist, dann nimmt man ein paar Unannehmlichkeiten noch so gerne in Kauf!

Zustieg

Der Ausgangspunkt ein wenig taleinwärts vom P.1049 bei Partüs (nach neuer Schreibweise Al Partös). Unmittelbar vor der zweiten Bachrinne hat es rechterhand einen kleinen Parkplatz, wo auch eine kleine Elektro-Schaltzentrale steht, zudem befindet man sich da direkt unterhalb der Wand. Entgegen den Angaben im SAC-Kletterführer Tessin ist es viel bequemer, den ersten Teil des Zustiegs im trockenen Bachbett 20m links (westlich) vom Parkplatz zu absolvieren. In diesem gut 100hm hinauf bis zu einer Verflachung (1160m), wo der Bachverlauf nach links in plattige Felsen abzweigt. Von dort gewinnt man in 30m mühelos über einen Wildwechsel den Kamm rechts. Man folgt diesem, bis er sich auf ca. 1210m verbreitert. Eine Stufe wird in einer Linksschleife erstiegen, dann hält man sich etwas nach rechts zum Fuss der markanten, ca. 40m hohen Felswand.

Zustiegsskizze, sie möge bei einem möglichst bequemen Trip zum Einstieg helfen!

Man steigt am Fuss der Felswand in einer wenig ausgeprägten Rinne bis auf ca. 1260m auf. Ab da wird die Rinne enger und endet später in einer überhängenden Stufe (Sackgasse). Man quert über eine plattige Kletterstelle (2a) nach links in mit Buchen bewaldetes Gelände und steigt dann hinauf. So bald wie möglich, auf ca. 1290m, d.h. wenn man die überhängende Stufe umgangen hat, quert man deren Rinne nach rechts hinaus. Nun in leicht aufsteigender Rechtsquerung zu einer Felsstufe, die an ihrem rechten Ende mit ein paar Moves (2a) überstiegen werden kann. Man gelangt so zur Plattenzone unter der gewaltigen Wand. Vorerst in einfachem Gelände bis auf 1360m, wo die Platten kompakt werden und leichte Kletterei erfordern. Man steigt linkshaltend hinauf, bis man dem besten Weg folgend nach rechts zum Birkenwäldchen am Wandfuss traversiert (Stellen 2a-3a, Sichern für den Seilersten nicht möglich, Vorsicht insbesondere bei Nässe!). Der Einstieg befindet sich ca. 15m rechts vom Wäldchen auf 1390m und ist mit Farbe angeschrieben. Die Gehzeit für die 350hm beläuft sich auf nur ca. 40 Minuten (wenn man den Weg findet und im T4/T5-Gelände versiert ist).

Das ist erst der Zustieg 😲 Viktor auf den Platten (2a-3a, geht schon!) unmittelbar vor dem Wandfuss.
Routenbeschreibung

Sasso Altis - Poco Loco 7a+ (6b+ obl.) - 9 SL, 280m - M. Dettling & V. Wegmayr 2023
Material: 2x50m-Seile, min. 10 Express, Cams/Keile nicht nötig bzw. einsetzbar

L1, 35m, 6b, 7 BH: Die Sache beginnt mit einem listigen Einstiegsboulder. Schaut zwar völlig trivial aus, aber da wird man gleich einmal aufgeweckt. Danach geht's in gut gestuftem Gelände in schöner Plattenkletterei dahin. Es muss nochmals kurz sauber angetreten werden, bevor das Finish an einigen Grasbalkonen vorbei einfacher zum Stand führt.

Los geht's, die Reise ist gestartet! Viktor hat den Einstiegsboulder in L1 (6b) bereits geschafft.

L2, 30m, 7a+, 8 BH: Gleich aus dem Stand raus wartet eine durchaus zum Nachdenken anregende Boulderstelle. Das ist auch der Grund, warum die beiden Haken mit etwas Distanz nach bester 'Chäppi Ochsner'-Manier stecken. Nach ein paar Metern erlaubt die Felsstruktur zügiges Voranschreiten, bis man auf das 'Mantle Boulder Problem' stösst. Da heisst es parat sein, den Füssen vertrauen und sich geschickt bewegen! Ein paar schöne Rails führen zur abgefahrenen Crux. Diese ist einerseits sehr fusslastig, ohne Vertrauen in den Gummi flutscht es da nicht. Andererseits gibt es durchaus ein paar Minileisten zum Zukneifen, was auch mit Insbrunst getan sein will! Die Querung lässt sich mit 1pa entschärfen, der nachfolgende, einfachere Zug auf die Schulter ist dann, 1.5m rechts vom Haken, zwar perfekt gesichert aber ziemlich zwingend. Kurzes Dranbleiben an guten Griffen führt zu BH und in Bälde danach zum Stand.

Gekonnt auf Reibung antreten und kleine Leisten halten heisst es in der genialen L2 (7a+).

L3, 30m, 7a+, 9 BH: Dieser Abschnitt überzeugt mit anhaltender und sehr abwechslungsreicher Kletterei. Der Beginn mit einer kurzen Rechtsquerung und einem Fingerriss stellt noch keine grossen Aufgaben, auch das erste Boulderlein am zweiten BH wird kaum zum Stopper. Die Challenges beginnen mit einem kräftigen Zug zur Schuppe danach und dem Verlassen dieser zunächst griffigen Struktur in die nächste Plattenzone. Doch so genial ist es, die Struktur die es braucht ist eben da, ja sogar genau am richtigen Ort. Das gilt auch für den folgenden Bauch, der dank ein paar Incut-Leisten verblüffend kommod von der Hand geht. Danach kommt es aber dicke: ein zwei wacklige Aufsteher erfordern viel Balance, etwas Beinkraft, die nötige Zuversicht und die kreative Nutzung von mickrigen Strukturen für die Hände - mega! Einfach schön kühles Blut bewahren! Das Finish ist dann etwas einfacher zu haben, die Absicherung lässt die Linienwahl ziemlich frei - wer einen Tipp braucht, weit linksrum geht's am einfachsten.

Was für eine Knallerseillänge, mitten durch den Plattenschuss! Es geht aber immer auf in L3 (7a+).

L4, 35m, 6b+, 8 BH: Von diesem Punkt weg steilt sich die Wand im Gegensatz zu ihrem Sockel nun mehr auf. Das Gelände wird dafür aber auch griffiger, so dass die Schwierigkeiten sowohl bei unserer wie auch bei der Nachbartour etwas zurückgehen. Sodann auch auf dieser Länge. Dass der Auftakt in noch mässig steilem Gelände nicht die ultimative Challenge bietet, ist sofort klar. In chillig-lässiger Kletterei also erst mal diagonal hinauf, dann an einigen Schuppen unter das markante Dach. Dank einiger positiver Leisten (zuerst), bzw. Bomber Jugs (danach) ist das aber recht gut gegessen. Nach einer Traverse bietet die folgende Wand eine schöne Leistenstruktur, so dass sie sich gut klettern lässt. Nur die Abschlusspassage in nunmehr wieder plattigerem Terrain gab mir jedesmal das Gefühl, dass ich mich blöd anstelle - entweder trifft das zu, oder es ist schlicht und einfach nochmals etwas tricky.

Unterwegs in L4 (6b+), gleich folgt die gutgriffige Passage über das markante Dach hinweg.

L5, 30m, 6b, 7 BH: Hier müssten wir aufpassen, das wussten wir von der "In Destinazione...". Die hat nämlich genau auf dieser Höhe ihre ätzende, blanke 7b-Stelle, die wir damals kaum hochkamen. Somit setzen wir unsere Linie hier nicht direkt hinauf in eine glatte Zone an, sondern zogen nach links um etwas strukturierteres Terrain zu erreichen. Optimistisch versuchte ich nach der initialen Querung die halbdirekte Linie hinauf, um beim Einbohren schlussendlich doch abzublitzen. Es wäre da zwar wohl nicht unmöglich, aber in Freikletterei einfach unverhältnismässig saumässig schwierig gewesen. Die Alternative war, den Linksbogen noch etwas weiter auszudehnen. Weil man so eine witzige Leistenpassage erreicht und über eine luftige Querung wieder nach rechts retour kommt, fehlt auch hier der Klettergenuss nicht und die Linienführung geht trotz dieses kleinen Umwegs tiptop auf.

Am Ende geht's in der 'C'-Pitch (L5, 6b) wieder nach rechts zurück zum Stand.

L6, 30m, 6c, 7 BH: Man befindet sich hier vor einem veritablen Dach, das sich aber an seinem rechten Ende komfortabel übersteigen lässt. Manch einem Logiker würde ab der ersten Stufe eine Linie direkt hinauf als die Methode der Wahl scheinen. Doch da wir eine grosse, schlecht verwachsene Schuppe oberhalb lieber umschiffen wollten, heisst es nach dem ersten BH nach links zu queren. Beim Bohren hat uns das ins Schwitzen gebracht, da haben wir die Stelle obermurksig gelöst - beim Punkten habe ich dann aber eine elegante und viel einfachere Lösung gefunden. Viel Text schon für die ersten 2 BH dieser Länge! Danach folgt sehr coole, steile, gutgriffige und etwas ausdauernde Kletterei in luftiger Position - genial! Man erreicht schliesslich das grosse Band, mehr oder weniger an der Stelle, wo die "In Destinazione..." (nach einer Linksquerung auf dem Band) ihren Weg in den oberen Wandteil fortsetzt.

L6 (6c) endet auf einem Band und ist deshalb im Rückblick nicht so fotogen.

L7, 20m, 6b, 3 BH: Eine nur kurze Seillänge (die eigentlich zur "In Destinazione..." gehört), welche auch ziemlich unscheinbar daherkommt. Die senkrechte Wandstelle ist aber sehr witzig zu klettern. Sie verläuft in stark quarzhaltigem Gestein, welches ideale Incut-Leisten präsentiert. Die ursprüngliche Bewertung von 6a haben wir jedes Mal als zu tief empfunden, 6a+/6b passt im Vergleich zum Rest sicher besser. Wen man will und die Sicherungspunkte strategisch geschickt ausreichend verlängert, dann kann die folgende L8 gleich angehängt werden. Wir haben das aus Effizienzgründen 2x so gemacht, unbedingt empfehlenswert ist es aber nicht, für jene die genügend Musse haben.

Eine kräftige Leistensequenz in stark quarzhaltigem Gestein wartet auf der kurzen L7 (6b).

L8, 25m, 6b, 5 BH: Diese Seillänge ist nicht nur witzig, sondern ein echtes Highlight. Sie passiert eine steile Zone mit zwei ausladenden Dächern - und dies auf eine elegante und erstaunlich einfache Art und Weise. Das liegt daran, dass diese Strukturen eigentlich riesige Schuppen sind, welche stets scharf geschnittene Risse ausbilden. Noch dazu gibt's dann beim oberen, grösseren Dach genau an der richtigen Stelle auch noch ein fettes Trittrail. Trotzdem, die Kletterei ist recht athletisch und bietet zuletzt auch noch einen leistigen Ausstieg zum superbequemen Stand. Wir schlagen auch hier eine Bewertung von 6b vor.

Viktor am grossen Dach in L8 (6b), während sich der Fotograf an Stand 6 befindet.

L9, 40m, 7a, 10 BH: Enden tut unsere Route mit einem absolut würdigen Schlussbouquet, welches eine Art von Kletterei bietet, die man hier noch nicht gesehen hat und auch global gesehen einen grossen Seltenheitswert aufweist. Los geht's noch ein paar Meter mit der "In Destinazione..." nach rechts, dann aber direkt henklig über die Steilstufe und in linkshaltender Querung in die steile Wand. Diese trumpft, wie bereits erwähnt, mit einer sehr aussergewöhnlichen Struktur auf: eine Art Wellenlandschaft mit sloprigen Buckeln! Alleine für sich gäben diese zu wenig her um die Wand klettern zu können. Jedoch befinden sich auf den Buckeln Fragmente aus härterem Gestein, die hier und da Mikrostrukturen mit kleinen Incuts aufweisen. Und genau dank diesen geht's - die Challenge ist nur, hier durch diesen Ozean zu manövrieren (d.h. es könnte Onsight recht schwierig für den Grad sein!). Schliesslich erreicht man ein System von Schuppen. Erst heisst das "Henkel", später dann "Sloper", doch genau in jener Sektion sind dafür die Tritte gut, so dass im letzten Drittel nicht mehr die extremen Schwierigkeiten warten. Über stark quarzhaltiges Gestein erreicht man das Routenende auf einem bequemen Band. Das Routenbuch ist gleich links auf dem Band gut sichtbar deponiert.

Routenende! Das Profil zeigt es deutlich, unter dem grossen Abschlussdach ist finito.

An diesem Punkt endet die Route auf derselben Höhe wie die "In Destinazione..." rechts nebenan. Die nachfolgenden, weit ausladenden Dächern weisen sandig-mürbes Gestein auf und sind in Freikletterei unmöglich. Das wussten wir natürlich schon von Beginn an und beendeten die Route an diesem Punkt absolut ohne Wehmut.

Abseilen & Abstieg

Das Abseilen vom Top geht superbequem in nur 5 Manövern (9 -> 8 -> 6 -> 4 -> 2 -> Einstieg). In der steilen Gneiswand ist wenig Seilpflege nötig und die 50m-Stricke werden stets gut ausgenutzt. Meist bleiben einige beruhigende Meter an Seilreserve übrig, nur auf der Strecke 4 -> 2 wird es knapper. Mit meinen 50er-Stricken ging es gut, bringt man hingegen alte, geschrumpfte Seile könnte es spitzig werden. Notfalls halt ein Zusatzmanöver an Stand 3 machen. Am Einstieg braucht man das Seil nicht aufzunehmen, sondern kann gleich zur untersten Birke beim Wäldchen transferieren und dort an einer Seilschlinge 50m über die Plattenzone abseilen. Nun die Seile aufrollen und nicht auf dem Aufstiegsweg zurück, sondern gleich nach rechts in den Wald. Dort etwas absteigend, dann querend und nochmals absteigend auf logischer Fährte zu einem Baum mit Seilschlinge oberhalb der überhängenden Steilstufe, welche die Rinne entlang der markanten Felswand beschliesst. Dort 30m Abseilen (1x50m-Seil reicht definitiv nicht, 1x60m passt!) bis wieder zu Fuss abgestiegen werden kann. Nach ca. 20hm trifft man mit der Aufstiegsfährte zusammen und folgt dieser (Rinne hinunter, Steilstufe rechtsrum abklettern, Kamm folgen bis zur Rechtsquerung ins Bachbett, dieses hinunter) zurück zum Ausgangspunkt. Natürlich kann man auch auf vielen anderen Pfaden wieder ins Tal gelangen. Nach der "In Destinazione..." sind wir noch nicht der hier beschriebenen Abstiegsroute gefolgt, haben insgesamt 4x an Bäumen abseilen müssen und viel Zeit gebraucht. Auf der obigen Route sind wir nun schon 3x runter (stets bei Dunkelheit) und haben es zuletzt in nur 35 Minuten geschafft.

Im Bild das Birkenwäldchen im Einstiegsbereich. In voller Auflösung erkennt man gut die Seilschlinge an der an ihrem Fuss bogenförmigen Birke in der rechten Bildhälfte, von welcher man einen 50m-Abseiler über die Zustiegsplatten zieht.

Material, Absicherung & Topo

Die Route ist mit Inox-BH prima auf Niveau xxxx abgesichert. Ein gewisses Kletterkönnen ist aber trotzdem nötig, um das Top zu erreichen. D.h. ca. 6b+ ist obligatorisch - was wie immer im Vergleich zu anderen solchen Einstufungen hergeleitet ist und nicht mit dem Hochkommen gleichzusetzen ist, wenn man Indoor mit Ach und Krach gerade so eine 6b+ schafft und noch nie Hand an den Tessiner Gneis gelegt hat. Mobiles Material ist nicht nötig und kaum einsetzbar. Es sei erwähnt, dass sich L2 mit 1pa Hakenhilfe zur 6c/+ entschärfen lässt, dasselbige gilt für L3 mit 2pa. Nun sind alle ganz sicher brennend heiss am Topo interessiert. Man kann es komplett mit Skizze, Wandbild und Zustiegsplan als PDF runterladen. Viel Spass, geniesst die Tage im Valle di Vergeletto genau so fest wie wir dies getan haben! Cheers, Marcel & Viktor 🥳

Die Toposkizze zur Ansicht, kann auch als PDF runtergeladen werden.

Dienstag, 21. März 2023

Galerie - Zwetschgenwegli (7a+)

NEWS aus dem Galerie Waldsektor! Zwischen den beiden bestehenden Routen 'Claudio Serenade' (6a) und 'Les vices et versa' (7b) konnte ich eine Neutour einrichten. Es ist sicherlich nicht die grandioseste Route der nördlichen Hemisphäre, ja nicht einmal im Einzugsbereich vom Walensee. Nichtsdestotrotz ein interessanter Zeitvertrieb - erst recht für all jene, die darauf gewartet haben, dass in diesem Sektor "wieder einmal neu geschraubt wird".

Athletischer Sitzstart-Boulder als möglicher Auftakt.

Man kann - und das ist doch ziemlich speziell - die Route mit einem Sitzstart beginnen. Spinnt der jetzt komplett?!? Nein, die kleine Grotte am Fuss der 3m hohen Einstiegswand bietet sich perfekt für diese Spielerei an. Das hatte seinerzeit auch schon ein unbekannter Felsspecht gemerkt und die besten Griffe leider mit dem Bohrer aufgedonnert. Immerhin, die Sache klettert sich auch an diesen "Kunstwerken" spassig, das Video unten zeigt die Moves. Der Boulder spielt sich ungefähr im Bereich von Fb 6A+ ab. Er gehört nicht zwingend zur Route, man darf also gerne auch stehend starten. Da der Sitzstart nicht die Crux darstellt und man auf der nachfolgenden Terrasse beliebig lange ausruhen kann, ändert er auch die Bewertung nicht. Braucht also keiner seine Hose schmutzig zu machen!

Der Hauptteil der Route startet vom Plateau in 3m Höhe. Das nun folgende, überhängende Wändchen wartet mit einer kniffligen Kletterstelle auf, die einerseits Entschlossenheit und andererseits etwas Kraft verlangt. Hat man sie geschafft, so folgt anhaltend vertikale, fingerlastig-ausdauernde Wandkletterei mit technischem Zuschnitt. Es war für mich gar nicht so einfach, die optimale Lösung zu finden. Vielleicht helfen ja in Zukunft die Kletterspuren bei deren Identifikation. Wirklich direkt über die Haken ohne Umwege in die benachbarten Routen lässt es sich zum Umlenker auf ca. 18m Höhe klettern.

In ziemlich direkter Linie einen Hauch links vom Seil verläuft die Route.

Zuletzt stellt sich noch die Frage, was denn die Begehung von diesem Zwetschgenwegli bewertungstechnisch wert ist. Da fällt es mir auch eher schwierig, eine klare Aussage zu machen. Zum Postulieren eines Vorschlags bin ich ja aber verpflichtet und der fällt auf 7a+. Mit dem genauen Wissen was zu tun ist, fällt mir die Route nicht allzu schwer. Ob ich es hingegen im noch fast neuen Zustand ohne Spuren und Markierungen onsight geschafft hätte?!? Längst nicht sicher, ich hätte sicher durchaus scheitern können. Es sei aber auch erwähnt, dass ich die Route (nach einer früheren, kurzen Inspektion zum Abklären der Machbarkeit) alleine und in einer einzigen Session eingerichtet habe. Und mit n=1 lässt es sich nur schlecht Statistik machen, meint der Experte. Kurzum, Ausprobieren ist herzlich willkommen!

Dienstag, 14. März 2023

Sasso Altis - In direzione ostinata e contraria (7c)

Wir sind für ein Weekend im Tessin, der Auftakt ist uns mit der Radici del Silvio am Pizzo d'Eus hervorragend gelungen. Nachdem die festgefahrene Karre in Eigenregie wieder flott ist, tuckern wir zu Tal, dem Nachtessen und der Bleibe für die körperliche Erholung entgegen. Wo packen wir am nächsten Tag an? Das Entdeckungsfieber lockt wie immer, und so entscheiden wir uns mit grosser Vorfreude für die hier beschriebene Route am Sasso Altis. Dieser gewaltige Gneisdom befindet sich im Valle di Vergeletto, einem Seitental des Valle di Onsernone, das wiederum vom Centovalli abzweigt. Der Sinn dieser genauen geografischen Beschreibung sei es aufzuzeigen, dass wir hier ein wenig vom "Ende der Welt" sprechen. Hinter Russo im Onsernone mit seinem fabelhaften Klettergarten beginnt auch für mich Terra Incognita, ins Vergeletto habe ich (und bestimmt auch viele anderer Kletterer) noch nie einen Fuss gesetzt. So kurven wir gespannt dahin.

Die gewaltige Wand des Sasso Altis, im Vordergrund die Hütten von Partüs / Al Partös.

Bei den letzten Häusern von Vergeletto steht am Strassenrand ein Fahrverbot. Wir interpretieren es so, als dass es zur Seite gestellt ist und damit freie Passage erlaubt. Wäre dies nicht der Fall, so müsste man ab diesem Punkt noch ca. 1h der asphaltierten Strasse entlang ins Tal hinein wackeln, bzw. eben ein Bike mitbringen. Vermutlich aber ist das Verbot nur bei winterlichen Bedingungen aktiv, dann jedoch kann am Sasso Altis sowieso nicht geklettert werden. Als wir dahintuckern, kommt der imposante Gneisdom ins Blickfeld - er lässt schon beinahe Erinnerungen ans Yosemite aufkommen und der Puls schlägt sogleich schneller. Wie es wohl kommt, dass es in der gewaltigen Wand nur gerade eine einzige Route gibt, welche erst im 2007 erschlossen wurde?!? Wir machen uns gerne auf den Weg, um dies näher zu ergründen 😃

Was da wohl kommt? Unsere Frage zum Sasso Altis, genauso wie jene der Steinböcke, die hier kritisch um die Ecke linsen.

Der Ausgangspunkt ein wenig taleinwärts vom P.1049 bei Partüs (nach neuer Schreibweise Al Partös) ist mit den Angaben im SAC-Kletterführer Tessin gut zu identifizieren, auch wenn es nicht ein Kraftwerk, sondern nur eine kleine Elektro-Schaltzentrale hat. Um 8.05 Uhr machen wir uns auf den Weg zu den wenigen Hütten von Partüs. Dahinter geht's den steilen Grashang auf der rechten Seite hinauf und am oberen Ende der Lichtung nach links zum Sporn, welcher zuerst moränenartig gegen das Bachtobel abbricht. Diesem Sporn gilt es zu folgen, vorerst ist er mässig steil und weist noch einige Zeugen (Eisenstangen, Drahtseile) aus alten Zeiten auf. Es gibt keinen Weg, aber trotzdem wenige Fragezeichen, nur das viele Laub und Unterholz stören. Wie wir erst bei einem späteren Besuch am Sasso Altis herausfinden, ist dieser Abschnitt durch das Bachtobel westlich viel weniger beschwerlich und schneller zu begehen. 

Durch dieses trockene Bachbett verläuft der beste Zustieg im unteren Teil - besser als durchs Unterholz!

Ab ca. 1200m wird das Gelände über 45 Grad steil und wir haben uns ziemlich schwergetan. Der beste Weg ist beim ersten Mal schwierig zu finden. Der Untergrund, dürres Gras mit äusserst rutschiger Laubauflage, immer wieder eingelagerte Felsstufen und störendes Unterholz lassen uns auf einer richtigen Dschungelexpedition wähnen. Nach einiger Zeit gelingt uns eine Querung nach rechts, wir stehen nun vor flachen Reibungsplatten am Wandfuss. Der Blick auf die riesige Wand lässt uns die Kinnlade hinunterklappen - wow, das sieht einfach richtig geil aus! Zuerst heisst es aber, im 2./3. Grad über die Platten zu schleichen - sofern diese trocken sind, kein grösseres Problem. Der einfachste Weg führt zu einer grünen Oase mit kleinen Birkenwäldchen. Zum Einstieg muss man ca. 30-40m nach rechts queren. Achtung, es handelt sich um die rechte der beiden Routen, die ca. 20m weiter links startende Linie ist zwar sehr empfehlenswert (Details folgen 😎), aber eben nicht die "In Destinazione...". Die 350hm an Zustieg (ca. T5 mit Stellen II-III) hatten uns 50 Minuten gekostet, um 9.25 Uhr waren wir parat und stiegen ein.

Zustiegsskizze, sie möge bei einem möglichst bequemen Trip zum Einstieg helfen!

L1, 40m, 6b+: Los geht's noch gemässigt schwierig, der hier quer gebänderte Gneis erlaubt gutes Fortkommen. Allerdings müssen sich die Nackenhaare von der zweiten zur dritten Sicherung sträuben, denn da ist der Abstand weit und ein Grounder zu befürchten. Die Crux folgt nach dem fünften BH an einem kleinen Dächli, welches mit sloprigen Leisten überwunden werden will. Auch danach lässt es nicht so richtig nach, delikate Moves über der letzten Sicherung sind gefordert, es bleibt zwingend bis hinauf zum Stand.

Grosszügige, plattige Wandkletterei in L1 (6b+), da ist man gleich gefordert!

L2, 20m, 6a+: Eine kurze Seillänge mit nicht so logischem Verlauf. Die ersten 2 BH erzwingen die Kletterei dem rechten Schuppensystem entlang, wobei es links offensichtlich besser ginge. V.a. muss später dann doch etwas knifflig nach links gewechselt und ein erstes (noch vergleichsweise harmloses) Dornengebüsch passiert werden, bevor man weitgehend griffig den Abschlussboulder erreicht. Dieser erfordert das Kneifen von einigen kleinen Quarzgriffen, bevor man die Standhaken erreicht.

Am Ende von L2 (6a+) wartet noch eine knifflige Plattenstelle.

L3, 25m, 7c bzw. 6c A1: Nun folgt die nominelle Crux der Route über einen eindrücklichen Plattenschuss. Einige Strukturen in Form von Rails sind durchaus vorhanden, so dass die Sache a priori schwierig einzuschätzen ist. Doch die Realität rückt die Dinge rasch zurecht. Schon gleich ist es richtig taff und wenig später geht's dann subito Richtung unmöglich. Die Wand ist zu steil, um sich ohne Griffe rein auf Reibung zu bewegen, die Felsstruktur zu abschüssig um gescheit etwas festzuhalten. Immerhin stecken die Haken genügend nahe, dass man mit dem Einsatz von Trittschlingen weitgehend A0 durchkommt. Dem bedienen wir uns auch ausführlich, von einer freien Begehung sind wir meilenweit entfernt. Über ca. 15 anhaltend schwierige Meter haben wir nicht den Hauch einer Chance. Ob der Grad von 7c passt?!? So wirklich beurteilen können wir es de fakto nicht, das müssen Berufenere einschätzen. Zum Ende der Seillänge muss dann zwingend im 6c-Bereich freigeklettert werden. Abgeschlossen wird die Seillänge mit einem Runout, der in einem Grasbüschel-Boulder in den Stand gipfelt, welcher durch reichlich Dornengebüsch verteidigt wird - uff!

Über diese Platte führt L3 (7c), wobei der Verlauf den logischen Weg entlang der Strukturen nimmt. Auf den ersten Blick sieht's nicht so gravierend hart aus, doch leider täuscht der Eindruck. Um einfach nur hinzustehen ist es definitiv zu steil, und neben den Strukturen ist's einfach total blank.
Die Gegenperspektive auf L3 (7c), im Vordergrund noch der Boulder in die Botanik am Ende.

L4, 35m, 6b+: Eine ziemlich lange Seillänge mit etwas verzwickter Linienführung. An sich nicht so schwierig, doch die kreuz und quer steckenden Haken sorgen für Verwirrung und machen dem Vorsteiger die Sache nicht einfach, da man ohne grosszügige Verlängerungen bald einmal mit heftig Seilzug bezahlt. Auch hier zieren Dornengebüsche die Umgebung des Standplatzes, doch da man sich zum Glück auf einem geräumigen Band befindet, kann man recht gut ausweichen.

Prima Kletterei, aber durchaus mit Anspruch, gerade bei der Platte am Ende von L4 (6b+).

L5, 50m, 7b bzw. 7a A1: Pièce de Resistance, welches uns beinahe das Handtuch werfen liess! Im 6b-Bereich geht's einigermassen griffig los, gefolgt von einem etwas grasigen Riss zu einem Pfeilerköpfchen, von welchem eine Stelle an positiven Leisten zur Crux führt. Darüber wie (und ob) diese frei zu klettern ist, können wir keine Auskunft geben, aber es schien uns absolut unmöglich. Nur schon das schiere Hochkommen war eine grosse Challenge: es erforderte mit Start in einer korrekt abgelängten Trittschlinge nahezu griffloses Aufstehen ohne Wegzukippen auf dem Bolt mit einem Pistol Squat, dies im Steilgelände. Ab ca. 185cm Körpergrösse reicht es dann überstreckt in einen Untergriff, worauf man heikel die Füsse auf Reibung stellt, um schliesslich den Rettungshenkel zu erhaschen. Pfff, das fühlte sich selbst inklusive aller Tricks wie eine 7a, bzw. eher 7b-Stelle an, mit dem erheblichen Risiko aus der Trittschlinge oder beim Aufsteher auf der schlipfrigen Boltlasche sehr unangenehm abzupfeifen. Ein No-Hand-Rest ermöglicht danach ausgiebiges Durchschnaufen, was durchaus nötig ist. Anhaltende Kletterei im 6c/+ Bereich mit vernünftiger, aber zwingender Absicherung führt zur nächsten Dornenbusch-Insel (aka Stand) auf dem breiten Band in Wandmitte - Holladuli!

Ab der Position des Akteurs zeigt sich L5 (7a A1 oder 7b???) bald widerspenstig.

L6, 20m, 6a: Wir waren nicht unfroh darüber, dass uns das Topo nur noch 4 einfachere Seillängen zum Routenende prophezeite. Ginge es nämlich so weiter wie zuletzt, würde das Zeitbudget definitiv explodieren, das Top der Route läge ausser Reichweite. Wie erhofft konnten wir auf diesem Abschnitt aber Zeit gutmachen, er gelang uns zügig. Er ist kurz, die Kletterei an positiven Leisten in stark quarzhaltigem, wenn auch etwas flechtenbewehrten Gestein lässig und angenehm. Nach unserem Empfinden für eine 6a auf der eher schwierigen Seite - oder war es nur das stark angeknackste Selbstvertrauen, das uns die Länge eher als 6a+/6b taxieren liess?

Unterwegs in der schönen, nicht ganz trivialen L6 (6a).

L7, 25m, 6a+: Eine richtig coole, metermässig auch eher kurze Sequenz entlang einer sehr griffigen Rissverschneidung, welche luftig über ein Doppeldach führt. Nachdem sich auch noch an den genau richtigen Stellen optimale Trittrails befinden, bewältigt man mit eleganter Tänzerei Gelände, das rein aufgrund der Anlage auch erhebliche Schwierigkeiten bieten könnte. Zuletzt wiederum über positive, etwas flechtige Quarzleisten zu bequemem Stand. Wer will, kann diese Sequenz bei geschickter Seilführung ziemlich gut mit L6 verbinden.

Kühne Routenführung, dank griffigen Rissen und guten Trittleisten geht's gut (L7, 6a+).

L8, 30m, 5c: Für Abwechslung ist auf dieser Route gesorgt. Unschwierig geht's nach rechts zum ungünstig platzierten, ersten BH, worauf die Herausforderung erst einmal war, unbeschadet das massive, ungestutzt wuchernde Dornengebüsch zu passieren. Das bringt einen an die grosse Schuppe, hinter welcher sich ein Kamin ausgebildet hat. Klemmend, stemmend oder aussen bleibend beschreitet man diesen - für uns mit grossem Schreckmoment, weil eine 2x1m-Schuppe bedenklich wackelte und Leib und Leben zu gefährden schien. Der Versuch, diese im Nachstieg dann effektiv in die Tiefe zu senden scheiterte - immerhin wurde sie dadurch so gut im Kamin verkeilt, dass sie von Menschenhand nicht mehr bewegt werden kann und keine Gefahr mehr darstellt. Im Finish ist der Riss dann auf einer Strecke von ca. 4m üppig mit Dornen bewuchert... man kann aber halbwegs ausweichen und sich schadlos halten. Insgesamt sicher eine Länge, welche nicht die grossen Schwierigkeiten bietet, aber sicherlich jeden 5c-Kletterer weit überfordern würde.

Die Schuppe in L8 (5c) fast schon wie im Yosemite - aber gibt's dort auch Dornengebüsch?

L9, 25m, 6c: Zum Abschluss folgt eine lässige Seillänge mit Wandkletterei an sloprigen Strukturen, welche auch prima mit Bolts abgesichert ist. Es stört einzig die Tatsache, dass das Gestein hier, unter dem Schutz der grossen Abschlussüberhänge zunehmend sandig/brösmelig wird. Die Sache gipfelt schliesslich in einem Walfisch-Mantle auf ein schmales Band, wo die Route abrupt bei einem Chalk-Smiley endet. Die Entscheidung der Erschliesser ist aber nachvollziehbar, über die grossen Dächer ginge es nur in künstlicher Kletterei mit vielen Bolts und das Gestein in dieser Zone lädt wenig zum Weiterklettern ein.

Pressige, sehr schöne Kletterei in der letzten Seillänge (L9, 6c).

Um 15.25 Uhr hatten wir nach ziemlich genau 6:00h Kletterei das Top erreicht. Wir waren froh, es doch noch geschafft zu haben, nachdem die Sache in L5 auf des Messers Schneide stand. Wir machen uns ans Abseilen, was mit 2x60m-Seilen in 5x möglich ist (Top -> 7 -> 5 -> 4 -> 2 -> Boden). Es geht sicher auch mit 2x50m gut, dann dürften wie gemäss Topo im SAC-Führer 6 Manövern fällig sein. Um 16.15 Uhr stehen wir wieder unter der riesigen Wand. Ob das unser letzter Besuch an diesem Berg war? Inzwischen kann ich diese Frage mit Sicherheit mit einem "nein" beantworten. Aber auch damals, unmittelbar nach dem Abseilen steckte die Idee, in dieser gewaltigen Wand eine Route zu erschliessen schon fest in meinem Kopf. Und dementsprechend streifen wir dem Wandfuss entlang und blicken in die Wand hinauf, in gespannter Erwartung was da wohl kommen möge. Es bleibt noch der Abstieg zum Parkplatz. Dazu haben wir zuerst 50m an einer Birke über die Vorbau-Plattenzone abgeseilt. Ab dort sind wir rechtshaltend etwas absteigend durch den steilen Wald gequert. Ein 30m-Abseilmanöver über die steilste Zone (d.h. den Abschlusskamin des Couloirs am Fuss der östlich begrenzenden Felswand) ist jedoch unumgänglich. Unterhalb geht's entlang des Aufstiegswegs retour zum Ausgangspunkt, wo wir um 17.10 Uhr eintrafen.

Abseilerei vom Top, man sieht den gesamten Weg bis ins Tal: Wand, schwarze Plattenzone am Vorbau mit 50m-Abseiler, die steile Waldzone hinunter zu den Hütten von Partüs, die am linken Bildrand sichtbar sind. Der Talgrund erhält um diese Jahreszeit überhaupt keine Sonne, darum hält sich dort bei Schönwetterlagen im Winter Schnee und Eis extrem lange, obwohl es am südlich ausgerichteten Sonnenhang ausnehmend mild ist.

Auf dem Heimweg blieb dann genügend Zeit, um über den Stil der gekletterten und der zu erschliessenden Route zu philosophieren. Wir sind uns einig: ein gewisser Anspruch soll und darf durchaus da sein, aber heikle Stellen mit erheblichem Verletzungspotenzial möchten wir unserer Gesundheit zuliebe doch lieber vermeiden. Wir sind zu diesem Zeitpunkt zuversichtlich, eine Linie zu finden, welche (für uns) komplett in freier Kletterei möglich sein wird. Nun, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Zeilen kennt der Autor das Resultat dieses Projekts bereits. Zwischen der Begehung der hier beschriebenen Route und dem ersten Go in unserer Neutour verging aber ziemlich exakt die Zeitspanne von 365 Tagen. So lange werde ich die Leser dieses Blogs nicht auf die Folter spannen. Um unserer gespannten Erwartung auf die Erlebnisse am Sasso Altis aber ein wenig Rechnung zu tragen, brauchen auch die Leser noch etwas Geduld, bis der Bericht über unsere Neutour am Sasso Altis präsentiert wird.

Facts

Sasso Altis - In destinazione ostinata e contraria 7c bzw. 7a A1 - 9 SL, 270m - T. Salvadori et al. 2007 - ***;xxx
Material: 2x50m-Seile, 12-14 Express, Cams 0.2-2

Interessante Kletterei durch eine extrem eindrückliche Wand in einem wenig besuchten Tal. Sie bietet meist guten bis sehr guten Fels, die hin und wieder vorhandene Botanik stört kaum. Während der grösste Teil der Route mit Schwierigkeiten im Bereich 6a-6c gut kletterbar ist, fallen zwei harte Sequenzen aus diesem Rahmen. Ob die dafür angegebenen Schwierigkeiten von 7b und 7c zutreffen, können wir nicht beurteilen. Jedenfalls fanden wir in beiden Fällen keine freie Lösung. Ich würde mal sagen, wer in griffloser Zauberei auf kompaktem Gneis nicht äusserst versiert ist, wird da nur mit Hakenhilfe durchkommen. Die Grundabsicherung mit Inox-BH ist an sich in Ordnung, leider wurde aber hier und da mit den BH eher gegeizt, was einige Stellen mit sportlichem Anspruch produziert. Auch die beiden harten Sequenzen sind nicht sonderlich konsumentenfreundlich gebohrt, so dass auch mit Hakenhilfe maximaler Einsatz zum Hochkommen nötig ist. Zur Ergänzung der Absicherung ist ein Set Cams von 0.2-2 hilfreich. Ein Topo befindet sich im SAC-Kletterführer Tessin. Nachfolgend mein Wandbild mit dem Routenverlauf.

Wandbild des Sasso Altis mit dem Verlauf von 'In destinazione...'. Orange der Start unseres Projekts.

Sonntag, 5. März 2023

Skitour Piz Nair (3059m)

Kurzfristig erhielt ich grünes Licht für eine Tour an einem perfekt sonnigen Samstag, an welchem das Bulletin mit Stufe 1 absolut sichere Bedingungen anzeigte. Warum nicht wieder einmal ins Urnerland? An die Skitouren mit Ausgangspunkt bei der Golzerenbahn im Maderanertal habe ich nämlich exzellente Erinnerungen. Die Touren zum Bristenstock (2008, 2009), zur Gross Windgällen (2009) und zum Gross Düssi (2011) gehören alle zur Crème de la Crème in meinem Palmares. Alle sind sie aber auch sehr lang, mit über 2000hm Aufstieg und alpinen Fussaufstiegen im Gipfelbereich. Ob ich das jetzt immer noch könnte, 10-15 Jahre nach dieser Blütezeit?!? Dem wollte ich auf die Spur gehen und erkor den Piz Nair (3059m) zum Tourenziel. Er war neben dem (noch schwierigeren) Witenalpstock (3015m) der letzte 3000er im Tal, den ich nicht nicht besucht hatte. Viele Infos über die zu erwartenden Schwierigkeiten konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Das SAC-Tourenportal bewertet den Aufstieg über den NW-Grat von der Fuorcla Piz Nair (2830m) als Hochtour mit WS, II+. Auch die Hikr Delta und Schlomsch berichten von ihren Sommertouren keine aussergewöhnlichen Schwierigkeiten am Grat. Mein Fazit war also, dass das auch im Winter gehen sollte - auch wenn das Netz keinerlei Infos über Besteigungen in der kalten Jahreszeit ausspuckte.

Der Piz Nair (3059m) in seiner ganzen Pracht, hier mit Blick auf seine Nordwand. Rechts vom Gipfel die Fuorcla Piz Nair (2830m), der NW-Grat mit dem alpinen Fussaufstieg ist im Profil gut sichtbar. Wer das Foto in voller Auflösung betrachtet, vermag auch meine Abfahrtsspur zu erkennen.

Somit rauschte ich in gespannter Erwartung zum Ausgangspunkt bei der Golzerenbahn (834m). Wobei, was ich schon wusste, war dass mich dort absolut keine Flocke Schnee erwartet. Mit den entsprechenden Karten, Bildern und Webcams ist das ja heute keine Hexerei mehr. Deshalb hatte ich das Schneetaxi (=E-Bike) dabei und hoffte wie immer, dass die Übergangszone zwischen nicht mehr Bike-fahrbar und noch nicht Ski-fellbar möglichst klein wäre. Nach einem Start um ca. 8.20 Uhr ging das auf wie gewünscht. Bis zur Chrüzsteinrüti (ca. 1170m) war die Strasse weitgehend aper, bzw. am Ende auf dünn-kompakter Schneedecke gut fahrbar. Damit war das erste Teilstück zügig und ohne Mühen erledigt. Das Gefährt wurde deponiert, ich ging wenige Schritte durch den folgenden Tunnel, danach konnte ich die Bretter anschnallen. Es lag zwar generell schon sehr wenig Schnee, auf dem Trassee war er aber kompakt und durchgehend. Ziemlich subito wurde ich mir gewahr, dass bis zu den Gipfelzielen noch ein sehr weiter Weg wartete - das störte mich aber nicht, denn es war das erste Mal, dass ich ins Etzlital schritt. So bedeutete jeder Meter Neuland und neue Ausblicke, zudem gewann ich zügig an Distanz und Höhe.

Wenig Schnee hier im Etzliboden - aber alles fahrbar! Hinten Chli und Gross Windgällen.

Bis zur Müllersmatt, dem Boden unterhalb der Etzlihütte, konnte ich der Spur der Hüttencrew folgen. Es war nicht so, dass dies bei der kompakten Schneedecke mit einem Pulverflaum eine wesentliche konditionelle Erleichterung gebracht hätte. Aber so gab es bezüglich der Orientierung null Fragezeichen. Wie sich zeigte, verlief der Parcours durchgehend exakt entlang des Sommerwegs, nur bei üppigerer Einschneiung stehen andere Optionen offen. Die Müllersmatt stellt quasi den Knotenpunkt für alle Touren im Etzlital dar. Während der Piz Nair noch nicht sichtbar ist, präsentieren sich dafür viele andere Gipfel, Couloirs und Abfahrtslinien im besten Licht. Ich schwankte kurz, ob ich meinen Plan anpassen sollte. Vieles lockte, ja einiges aus dieser Perspektive gleich richtig extrem. Aber wie es so ist im Leben, man kann nicht alles gleichzeitig haben. Somit hielt ich an meinem ursprünglichen Plan mit dem Piz Nair fest. Wer weiss, vielleicht ergäbe sich ja auf dem Rückweg noch eine Gelegenheit...

Da gibt es noch zu tun! Ausblick auf den Witenalpstock (3015m) und seine Trabanten.

In flachem Marsch ging es dem Etzlibach entlang nach Hinter Felleli, wo (nun im Angesicht des Piz Nair) der steile Aufstieg in die Fuorcla begann. Erst konnte ich noch von einer älteren Spur profitieren, etablierte mich dann auf der markanten Mittelmoräne bis zum Fuss der Felsen vom Hälsistock. Schon gleich die erste Steilstufe danach war dann ziemlich ätzend: es hatte eine superkompakte Unterlage, darauf lagen 10-20cm kohäsionsloser Schnee, der beständig wegrutschte. Es blieb mir nichts anderes als ein kurzer Bootpack übrig. Bei der nächsten Steilstufe dann dieselbe Situation - ansonsten gelangte ich aber ohne weitere Schwierigkeiten und ohne übermässige Anstrengung beim Spuren unter die Fuorcla Piz Nair (2830m, ca. 12.50 Uhr, 4:30h ab Bristen). Dort wurden die Bretter deponiert, die letzten 10hm in die Lücke sind recht steil, bei ungünstigen Bedingungen würde ein fix installiertes Seil die Sache erleichtern.

Die letzten (ca. 150!) Höhenmeter hinauf zur Fuorcla Piz Nair. Das Gelände ist durchaus steiler, wie es hier auf diesem Foto den Anschein macht. Die Sonne lugt übrigens gerade dort hinter dem Grat bevor, wo sich der steilste Abschnitt mit der Schlüsselstelle befindet.

Von der Lücke war bzw. ist der NW-Grat schwierig einzuschätzen. Er ist wenig scharf geschnitten, alles sieht ein wenig gleichförmig aus. Also hinauf und probieren! Global bleibt man immer in der Nähe der Kante, die sich aber meist mehr in der Form von einem Rücken präsentiert. Ansonsten ist die Routenwahl wohl ziemlich beliebig - der Nase entlang heisst es. Los geht's noch in mässig schwierigem Terrain, bald wird es steiler und noch in der ersten Hälfte folgt die Schlüsselstelle. Eine ca. 25m hohe Felsbastion stellt sich in den Weg - ganz ordentlich steil, luftig-exponiert, aber zum Glück mit so richtig griffigem und solidem Fels. Trotzdem, für eine II+ muss man doch recht zupacken! Danach legt sich das Terrain wieder etwas zurück. Die Neigung ist aber beständig >45 Grad, es geht auf alle Seiten runter, Fehler sind da absolut keine erlaubt - ein Sturz wäre nicht aufzuhalten. Irgendwie hat's mich in der Art fast ein wenig an den Hörnligrat am Matterhorn erinnert. 

Es ist eher schwierig, den Grat gut fotografisch einzufangen. In Bildmitte die Schlüsselstelle.

Um 13.50 Uhr (5:30h ab Bristen) war ich schliesslich am schlichten, eisernen Kreuz angelangt. Südseitig war es angenehm windstill und warm. So konnte ich die Rast geniessen, das fantastische Panorama bestaunen und im Gipfelbuch blättern. Die letzte Begehung war am 1.8.2022 eingetragen, im Schnitt verirren sich ca. 5-10 Tourengänger pro Jahr auf diesen eindrücklichen Kulminationspunkt. Ich war etwas erstaunt, dass anteilsmässig doch ein substanzieller Teil der Begehungen im Winter stattfand. Andererseits hat dies durchaus seine Logik - bei guten Verhältnissen ist der NW-Grat eben nicht bedeutend schwieriger wie im Sommer, zudem ist der Zustieg zur Fuorcla mit den Ski bestimmt viel angenehmer wie im Sommer, wenn man über endloses Geröll gehen muss. 

Cumbre - einfach fantastisch da oben!

So schön es am Top war, irgendwann musste ich wieder aufbrechen. Auch diesbezüglich war das Gefühl ein wenig ähnlich wie auf dem Matterhorn, wo man ja um den anspruchsvollen Abstieg weiss. Schlussendlich ging aber alles gut über die Bühne - auch die Steilstufe konnte ich souverän abklettern. Oberhalb von dieser gibt es einen Stand mit BH und Ring, so dass man ca. 25m Abseilen könnte, sofern man einen Strick mitführt. Um 15.00 Uhr war ich retour in der Fuorcla und machte mich für die Abfahrt parat. Diese war dann von der Marke ganz ordentlich. Sprich meist pulvrig, dazwischen gab es ein paar Zonen mit leichtem bis mässigem Winddeckel, welche vorausschauend erkannt und umfahren werden wollten. Da ich noch über genügend Power in den Beinen verfügte, zog ich auf 2450m östlich zu den Ausläufern des Fellifirns hinaus. Mein Rückweg ins Tal sollte nicht komplett über die Aufstiegsroute verlaufen, ein kleiner Abstecher über den Chli Mutsch passte noch ins Programm.

Panorama von der Fuorcla Piz Nair, links Hälsistock (2965m), rechts Piz Nair (3059m).

Alpinistisch ist dieser kleine Gipfel absolut unbedeutend. Für den begeisterten Skifahrer ist er aber der Wächter über das fantastische NE-Couloir hinunter zur Müllersmatt. Dieses hatte mich schon beim ersten Anblick begeistert - ja ich hätte deswegen sogar meine Pläne mit dem Piz Nair in Frage gestellt. Doch eben, ich konnte ja sogar beides haben. Nur wohl leider nicht mehr mit der First Line, denn zwei von der Etzlihütte kommende Tourengänger hatten ca. 100hm "Vorsprung" auf mich. Naja, es würde sich bestimmt trotzdem noch lohnen, sagte ich mir. Umso überraschter war ich dann, als ich ca. 40hm unter der Lücke auf die beiden Splitboarder traf, die dort wie 2 begossene Pudel Rast hielten. Der Weiterweg sei nicht mehr möglich, sie würden umdrehen, sagten sie mir. Tatsächlich, es gab ab diesem Punkt das mir bereits schon bekannte Problem mit der harten Unterlage mit dem rutschigen Pulver drauf - für sie zusätzlich mit der Schwierigkeit, dass ein Fussaufstieg mit den "Gummischuhen" nicht drin lag. So passierte ich die beiden und erreichte die Lücke im Nu.

Mutsch (2790m) und Chli Mutsch (2592m) in der rechten Bildhälfte, fotografiert von der Müllersmatt (noch am Vormittag im Aufstieg). Im Blick die fantastische NE-Abfahrt von der Lücke zwischen den beiden Gipfeln.

Mit kurzer Kraxelei über ein paar Felstürme am Südgrat konnte ich tatsächlich auch noch den Gipfel des Chli Mutsch (2594m, ca. 16.00 Uhr) mitnehmen. Bald war ich zurück bei den Brettern, schnallte diese unter die Füsse und freute mich auf die bevorstehende Abfahrt. In meinem Rücken nahm ich war, wie die anderen beiden Tourengänger nun meinen Spuren folgend doch noch den Aufstieg wagten - mit einigem Lamento und gegenseitigen Vorwürfen, denn offenbar reute es sie extrem, die First Line verloren zu haben. Naja, ich hatte sie ja nicht gestohlen. Ohne mein Auftauchen hätten sie die Lücke gar nie erreicht. Und sowieso sind das doch alles Luxusprobleme - auch wenn der Zauber natürlich schon nicht derselbe ist, wie wenn alles noch unberührt vor einem liegt! Es ist aber auch so, dass schon vieles zusammenpassen muss, dass man da als Erster bei guten Bedingungen fahren kann. Der riesige, leeseitige NE-Hang mit oben 40-45 Grad Steilheit liegt lawinentechnisch nur bei ausgewählten Bedingungen drin, er darf nicht durch spontane Lawinen in Mitleidenschaft gezogen sein und dann hätte man gerne noch lockeren Powder. Das Ganze einerseits für Tagestouristen extrem abgelegen, andererseits von der Etzlihütte gut einsehbar und relativ rasch erreichbar. Kurzum, wenn man hier eine First Line bei Top-Bedingungen unbedingt wollte, es wäre ein möglicherweise sehr schwierig zu erreichendes Ziel. Mir aber fiel es einfach so in die Hände, welch glückliche Fügung und welch Privileg!

Vor lauter Action habe ich am Chli Mutsch keine Fotos mehr gemacht. Hier nochmals ein Blick auf diese Gipfel während dem Aufstieg, fotografiert bei der Ebene von Gulmen (ca. 1900m).

Dem bewusst stürzte ich mich in die Tiefe. Der Schnee war prima, die Decke absolut solide und so waren die 600hm in die Ebene hinunter ein einmaliger Genuss! Der Rest der Abfahrt ab der Müllersmatt kann da schon rein geländetechnisch nicht mithalten. Schlussendlich war es aber doch besser wie gedacht. Einige Abschnitte musste man zwar im Bereich der Aufstiegsspur fahren, aber doch erstaunlich oft konnte man eine direkte Linie wählen. Dank der auch hier kompakten Unterlage mit Pulverflaum gingen sich trotz generell geringer Schneemenge ganz lässige Schwünge aus. Ab Hinter Etzliboden war dann fertig mit "zöpflen". Dafür ging es in rasanter Schussfahrt zurück zum Bikedepot, wo dem Temporausch weiter gefrönt werden konnte. Wenige Minuten nach 17.00 Uhr war ich retour am Ausgangspunkt. Nein, da musste ich nicht lange überlegen: das war die beste Skitour seit langer Zeit gewesen - ein Erlebnis, welches sich nahtlos in die Reihe der genialen Maderanertouren einreiht. Ebenso freudig war ich über die Tatsache, dass auch 10-15 Jahre nach meiner Blütezeit in dieser Region bei fortgeschrittenem Alter immer noch solche langen Touren möglich sind. Vielleicht bin ich nicht mehr ganz genau gleich schnell unterwegs wie damals, aber was spielt das für eine Rolle.

Facts

Piz Nair (3059m) von Bristen (834m)
2250hm (+200hm für den Chli Mutsch), Ski-Schwierigkeit ZS, Hochtouren WS, II+
Material: Skitourenausrüstung, Steigeisen, Leichtpickel, evtl. 50m-Seil