Ich konnte es selber kaum glauben, als ich es nachprüfte. Aber seit meiner letzten ernsthaften MSL waren doch tatsächlich schon 8 Monate vergangen. Höchste Zeit, um wieder einmal in diesem Modus unterwegs zu sein. Doch Wetterkapriolen und noch viel Schnee mach(t)en den Saisoneinstieg nicht einfach. Die beste Alternative war schliesslich, wieder einmal der famosen Wand des Pizzo d'Eus eine Aufwartung zu machen. Im Tessin war der Schnee bereits verschwunden, es hatte nicht kürzlich sintflutartig geregnet, schon über 10 Jahre waren seit meinem letzten Besuch vergangen und den mir noch unbekannten Routen eilte bester Ruf voraus. Unsere Wahl fiel schliesslich auf die 'Cacciatori di Pareti' (10 SL, 7b max, 6c obl).
Nunja, die Anreise zum Pizzo d'Eus von der Alpennordseite ist nicht gerade kurz. Durch den Gotthard und wieder tief hinein ins Verzascatal bis nach Lavertezzo mit seiner berühmten Bogenbrücke. In der Literatur sind für den Zustieg zwei Varianten beschrieben. Einerseits die 'rechte' via Rancone, allerdings besteht dort in der Zufahrt ein Fahrverbot und die Parksituation in Rancone ist auch problematisch. Die 'linke' Strasse ist hingegen bis unterhalb Cognera (ca. 680m) frei befahrbar, parkieren kann man dort auch. Allerdings beinhaltet der Zustieg dann gleich als erstes Element die Querung des Bergbachs, was gewisse Mühen mit sich bringen kann. Nach trockenen Perioden im Herbst kann man möglicherweise von Stein zu Stein springen. Doch im Frühling, wenn in den Bergen noch Schnee liegt, keine Chance. Es gibt 2 Optionen: a) Schuhe und Hosen ausziehen, dann Kneippkur im eiskalten, bis hüfthohen Wasser oder b) die Tyrolienne am Drahtseil. Am Ende des Tages hatten wir beides ausprobiert. Ich würde sagen: handle nach persönlicher Vorliebe. Für b) braucht's zwingend eine Rolle, idealerweise aus Stahl und mit Kugellager, schmalbrüstigere Varianten sind eine Notlösung.
Danach geht's mit etwas auf und ab dem Hang entlang (man vernichtet wieder Höhenmeter), erst nach dem Einmünden des Weges von Rancone geht's dann richtig aufwärts, und zwar noch etwa 650 Höhenmeter. Man passiert unterwegs diverse Steinbauten, Zeugen aus einer längst vergangenen Zeit, als die Hänge am Pizzo d'Eus kultiviert wurden. Wie das Leben wohl damals war? Und was ein Bewohner von damals wohl denken würde, wenn er wüsste, dass wir mal eben so rasch aus dem Norden hierherkommen, um rein fürs Vergnügen durch die 'unmögliche' Wand des Pizzo d'Eus zu steigen?!? Fragen über Fragen. Wir näherten uns derweil dem Wandfuss. Man umrundet einen Vorbau und passiert dann eine plattige Zone mit Ketten und in den Fels gehauenen Tritten. Kurz darauf heisst es links abbiegen (Steinmann) und auf schwachen Pfadspuren (teilweise Fixseile) nach links oben zu steigen. Man erreicht schliesslicht den Wandfuss, quert an diesem entlang links hinauf und zuletzt sogar wieder leicht absteigend bis zum Einstieg. Vom Automobil hatten wir inkl. Kneippen gerade 1:25h für die netto 750hm gebraucht. Achtung, das letzte Stück ist massiv zeckenverseucht. Gegen ein Dutzend der Biester musste ich von Kleidung und Rucksack klauben. Nach weiteren Vorbereitungen fiel der Startschuss um 10:30 Uhr.
Hier geht's los! |
L1, 45m, 6a: Hm, nach all den vielen Trainings, Wettkämpfen und Erfolgen beim Sportklettern hatte ich doch ein gewisses Selbstvertrauen entwickelt. Eine 7b-Kletterstelle ist ja kein Ding der Unmöglichkeit. Aber die folgte ja sowieso erst weiter oben. Als ich mich dann mit 15 Exen, einem Satz Cams, der Jacke, Getränk, Verpflegung und den Seilen behängt hatte stellte ich fest, dass auf MSL vielleicht doch etwas andere Gesetze gelten. Vor allem stecken in L1 auch nur gerade 5 BH, der Rest will selber abgesichert werden. Dazu sind Cams 0.2-1 nötig, für den Rest der Route brauchten wir diese dann nicht mehr. Die Kletterei an Knobs und Rissspuren ist herausragend, wirklich eine geniale Aufwärmlänge. Zwar nirgends wirklich schwierig, für eine 6a aber trotzdem anhaltend und nicht bloss etwas 'verschärftes Gehgelände'.
Grandiose und teilweise selbst abzusichernde Kletterei in L1 (6a). |
L2, 25m, 6b: Griffige Querung nach links, danach ein plattiger und ziemlich zwingender Aufsteher über dem zweiten Bolt (Crux). In einem älteren Topo, welches wir zusätzlich dabei hatten, war diese Stelle noch mit 6c bewertet, was wir auch geglaubt hätten. Nach der Crux einfacher hinauf zum Stand.
L3, 30m, 6c+: Die Einstiegswand sieht sehr abweisend aus, doch durch ein Wunder der Natur (oder auch nicht?!?) gibt's hier ein paar ausreichend positive Leisten zu krallen. Ein henkliges Dach leitet zu einer anhaltenden, nicht immer griffigen Piazverschneidung mit heiklem Klipp (Crux). Dann weiter ziemlich anhaltend und ausdauernd in schöner Wandkletterei zum Stand.
Athletischer Auftakt in L3 (6c+), die nachher mit einer heiklen Piazstelle aufwartet. |
L4, 25m, 7a: Die Rampe hinauf und querend nach links in die Wand, es wartet ein heftiger, technischer Boulder (Crux). Ich fürchtete, dass ich entweder rauskippe oder dann die Füsse rutschen, doch nix von dem passierte - coole Stelle! Nach den beiden folgenden Haken heisst's je nochmals kurz tüfteln, darauf geht's dann gemütlicher zum Stand.
Grandioser Blick in die Tessiner Bergwelt. |
L5, 25m, 7b: Der Start bietet sehr schöne Kletterei an griffigen Schuppen. Steil geht's hier in die Höhe! In der Mitte spitzt sich die Sache zu. Planen, ausführen, dranbleiben! Vor der eigentlichen Crux kann man sich nochmals kurz sammeln und überlegen, wie man die Seitgriffe nutzt, um die Stelle zu überlisten, bevor man gutgriffig zum Stand schreiten kann. Das gelang mir bestens, da war ich im Gegensatz zur 7a davor noch längst nicht am Limit.
Super Gneiskletterei in der ersten Cruxlänge (L5, 7b). |
L6, 30m, 7b: Ein grosser Rechtsquergang, der bis auf eine kurze Stelle unschwierig (5c/6a) ist. Eine überaus glatte, ca. 4m lange Plattenquerung stellt die Crux dar. Schlipfrig antreten auf Reibung, Griffe gibt's nicht. Ob möglich oder nicht hängt hier sehr davon ab, wie viel Seilreibung mit im Spiel ist. Für einmal schadet es definitiv nicht, wenn der Seilpartner gerade im richtigen Moment auf dem Schlauch steht und grosszügiges Verlängern der vorhandenen Ecken im Seilverlauf ist hier nicht unbedingt die Strategie der Wahl ;-) Beim Sichern des Nachsteigers fragte ich mich dann, ob man das nicht auch dynamisch machen könnte?!? Halt einfach rüberrennen und die Kante fassen. Naja, vielleicht doch zu viel Boulder-Weltcup-Livestream geschaut...
L7, 30m, 6b+: Sehr schön griffig und teilweise recht kräftig hinauf, bis man entlang von einer Fuge wieder luftig weit zurück nach links traversieren kann. Eine richtig spassige Genusslänge!
L8, 45m, 6a+: Laut offizieller Verlautbarung soll das eine 6a+ sein, die Stelle über die ersten 2 Haken hinweg (Crux) ist allerdings nicht geschenkt. In unserem alten Topo stand 6c, die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen (d.h. 6b oder 6b+), es kommt im Gesamtkontext der Route aber nicht wirklich darauf an. Der Rest dann deutlich einfacher im 6a-Bereich, im Gegensatz zu L6 sollte man hier grosszügig verlängern und vorausschauend klippen, um sich nicht ein Ei zu legen. Im oberen Teil teilweise etwas bewachsen und flechtig, aber schon ok.
Die grandiose, luftige Traverse im zweiten Teil von L7 (6b+). |
L9a, 40m, Gehgelände: Querung nach rechts, dann entweder am Fixseil über die meist nasse, ca. 10m hohe Stufe hampeln oder für Freikletter-Enthusiasten im etwa 3./4. Grad klettern. Noch kurz etwas durch Gras aufwärts und man steht vor der nächsten Länge.
L9, 30m, 7a+: Eine Hammerverschneidung mit anhaltender Kletterei und total abgefahrenen Moves! Spreizen, Stemmen, Piaz, Leisten dübeln, das volle Programm! Ein ganz grosser Genuss. Die volle Härte gibt's eher unten, doch dranbleiben muss man bis am Ende. Achtung: bei einem Sturz vor dem zweiten Haken muss aufmerksam gesichert werden, sonst könnte es einen Grounder geben. Man könnte einen Cam legen (wohl 0.3-0.5), das Placement ist aber nicht optimal. Auch weiter oben wartet ein Runout, wo kurz vor dem nächsten Bolt ein Cam (wohl 0.75-1) gelegt werden kann. Der Konjunktiv heisst: keine Cams gelegt, Seillänge onsight durchgestiegen, es geht also auch ohne.
Die Hammerverschneidung in L9 (7a+), eine echte Traumseillänge! |
L10, 30m, 6b+: Erst noch etwas der Verschneidung entlang. Ganz witzig, doch der Fels nun etwas belagig und teilweise noch feucht. Dann deutlich Querung nach links hinaus und in plattiger Wandkletterei (ebenfalls teilweise wasserüberronnen) hinauf zum Stand.
Die letzten Meter in L10 (6b+), kurz vor dem Top. Hier war's da und dort noch feucht bis nass. |
Um 16:20 Uhr hatten wir nach knapp 6 Stunden sehr vergnüglicher Kletterei das Top erreicht. Mit einem Aufstieg von gut 100hm durch schrofiges Gelände könnte man den Gipfel des Pizzo d'Eus erreichen und zu Fuss absteigen. Das ist aber nur eine sinnvolle Option, wenn man das Depot beim Abzweiger vom Eus-Weg und nicht am Einstieg eingerichtet hat. Wir hatten von Beginn weg auf die Karte Abseilen gesetzt. Mit einem 50m-Manöver kommt man aufs Band, steigt kurz ab, bevor es mit 5 weiteren Abseilern zurück an den Einstieg geht. Ob der steilen Wand ist sehr wenig Seilpflege erforderlich, es geht bei speditiver Technik ruck-zuck. Nach einem Vesper setzten wir uns in Bewegung. Erst geht's zügig talwärts, zuletzt schmerzen dann 2x50hm Gegenanstieg noch etwas und natürlich stellt sich auch der Bach noch in den Weg. Dieses Mal wählten wir die Tyrolienne, um auch den Bauchmuskeln noch etwas Training zu gewähren. Um 18:20 Uhr (2:00 Stunden vom Top) waren wir retour beim Ausganspunkt. Es wartete noch der lange Weg zurück auf die Alpennordseite, doch die Strassen waren frei und mit einem solchen Erlebnis im Gepäck wurde die Fahrerei frohsten Mutes erledigt.
Der Rückweg per Tyrolienne anstatt Kneippkur. Ohne Rolle allerdings kaum machbar. |
Das wäre die bequemere Variante für die Flusstraverse. Ist leider jedoch mit Kette abgeschlossen und nicht nutzbar. |
Pizzo d'Eus - Cacciatori di Pareti 7b (6c obl.) - 11 SL, 350m - Fratagnoli/Pellizon/Vaudo 2003 - ****;xxxx
Material: 2x50m-Seile, 14 Express, Camalots 0.3-1 für L1, danach nicht mehr zwingend nötig.
Fantastische Gneiskletterei am steilen Felsdom im Val Carecchio, einem Seitental des Val Verzasca. Es wartet viel Abwechslung mit griffig-athletischer Kletterei, Verschneidungen und technischer Wandkletterei. Risse und Schleicherplatten sind hingegen weitgehend absent. Für die Krönung mit dem fünften Schönheitsstern fehlt nicht viel: vielleicht das fehlende, ausgesetzte Wandfeeling, die Hammerlinie (man sieht die Wand leider von nirgends komplett und richtig) und stellenweise ist auch die Felsoberfläche ein wenig brösmelig. Achtung, früh oder spät im Jahr (Schneereste) oder nach intensivem Regen könnten Wasserstreifen einen Showstopper abgeben, man plane entsprechend. Die Absicherung mit Inoxmaterial ist sehr gut, die Kletterstellen >6c lassen sich durch Hakenhilfe wohl (nahezu?) komplett entschärfen. Auch das einfachere Gelände ist gut behakt, nur in L1 muss zwingend mit Cams ergänzt werden. Danach empfand ich sie nirgends mehr unabdingbar. Ein Topo zur Route findet man im Extrem Sud.
Ein paar Seilstücke um die Stände neu zu verbinden wären auch noch anzuraten. Sieht schon fast pflanzlich aus, dieses Stück! |