Am Torbeccio in Avegno ist wohl manch ein Kletterer schon vorbeigekommen. Sei es auf dem Weg ins Maggiatal, zum Klettern auf den Anfängerplatten an seinem rechten Ausläufer, für die tolle MSL der Viso di Luna oder für die kürzlich erschlossenen Sportklettersektoren Zio Fiasco, Underzero, Aspis oder Zufolo. In den letzten Jahren hatte ich diese kennen und schätzen gelernt. Der gefaltete Gneis von bester Qualität verspricht Tessiner Kletterei der allerbesten Güteklasse. Durch die rund 250m hohe Wand führen auch 3 Routen, welche vor und nach der Millenniumswende eingerichtet wurden: Bala Balengo, Anima Ribelle und Zufolandia. Populär geworden sind sie nie und die Suche nach Informationen bringt nur gerade den empfohlenen Kletterverzicht von 1.1.-15.9. eines jeden Jahres hervor. Zugegeben, aus der Distanz sieht die Wand eher vegetativ und mässig lohnend aus. Aber das trifft eben auch auf die doch so formidablen Sportklettersektoren zu. Und so konnte der logische Schluss nur lauten, dass hier einmal ein Besuch mit dem MSL-Gear überfällig wäre...
Wintersonne im Maggiatal - che bello! |
Unmittelbar vor dem kürzesten Tag im Jahr machte ich mit Viktor auf den Weg ins Tessin. Angesagt war ein ruhiger Hochdrucktag mit 10 Grad Höchsttemperatur, somit sollten die Bedingungen passen. Etwas Sonne gibt's auch, das Fenster dauert von exakt 9.30 Uhr (am Einstieg) bis ca. 13.30 Uhr, je nach Wandpartie. Für die ganze Route reicht das nur, wenn man richtig zügig und/oder mit Verzicht auf Freikletterambitionen unterwegs ist - wie bekannt ist das weniger unser Ding und so nahmen wir eben einen Haulbag mit allerhand warmen Kleidern, Zwischenverpflegung und warmen Getränken mit. Ein paar Minuten nach 9.00 Uhr liefen wir bei der Hängebrücke los, im Gegensatz zu den Osterferien musste man um einen Parkplatz nicht besorgt sein ;-) Im Talboden war es eisig gefroren und schlipfrig, bereits wenige Meter oberhalb war man aus der Kaltluftschicht draussen. Nachdem ich im Frühling bei einem Sportkletterbesuch bereits den Einstieg ausgecheckt hatte, war es natürlich kein Problem, diesen direkt anzulaufen. Doch hier die Beta: dort, wo der Zustiegspfad an die Wand trifft, beginnen die hinauf nach rechts führenden Fixseile zur Zufolandia. Ziemlich genau 15m links davon geht's über den Vorbau hinauf zur Anima Ribelle. Auch da ist ein (schon beinahe kompostiertes!) Fixseil, sollte es irgendwann fehlen, hilft ein BH zur Identifikation der entsprechenden Stelle. Vorsicht, Stand Dezember 2021 ist das Seil an einer Stelle bis auf 2 Litzen durch, man vertraue sich ihm nicht blind an. Unser Timing ging perfekt auf, um 9.30 Uhr ging's mit den ersten Sonnenstrahlen los.
Die Wand mit der Route (die viel besser ist, wie man es aufgrund vom Foto denkt!) |
L1, 25m, 7a: Mit vielen Fragezeichen, was uns hier erwartet, steigen wir ein, "wird schon gehen" ist der naheliegende Gedanke. In Tat und Wahrheit sind dann schon die ersten, de visu noch fast trivial eingestuften Meter bis unter das Dächli hinauf ziemlich fordernd. Subito heisst es, kleine Leisten und Seitgrifflein zu bedienen und ohne Vertrauen in die Füsse geht gar nichts. Am Dächlein wird es dann erst recht zäh, erst kräftig auf Gegendruck an Untergriffen, dann mit Power, Entschlossenheit und einer Prise Zauberei darüber hinweg. Was wir jetzt schon bemerken: die Absicherung ist definitiv sehr eng gehalten und A0 kein Problem, die Haken aus der Kletterstellung aber auch zu klippen manchmal durchaus. Der zweite Teil der Länge ist dann mit Benutzung einer auffälligen Kante gutmütiger zu haben. Ob jetzt L1 tatsächlich wie von uns wahrgenommen die zweitschwierigste Stelle der Route bietet oder ob's mangels Aufwärmen, langer Abstinenz vom Fels und noch längerer vom Tessiner Gneis nur so schien?!? Tja, wenn wir das wüssten...
Brain to eyes: "Search for footholds". Eyes to brain: "Search negative". Echt so, an dieser Stelle in L1 (7a). |
L2, 30m, 7a: In diesem Abschnitt kommt die Wandneigung etwas gutmütiger daher und hier will nun der Punkt einfach im ersten Anlauf geholt werden. Mit einer 7a macht "man" in den Sportklettersektoren hier ja auch jeweils kurzen Prozess. Doch der Flow will sich auch hier nicht gleich einstellen: zwar stecken die Bolts auch hier eng, die ersten Schritte aus dem Stand raus fordern aber dennoch etwas Committment, denn die Moves spielen sich etwas links der Hakenlinie ab und wer fällt, kollidiert mit dem Sicherungspersonal. Naja, extrem schwierig ist diese Stelle nicht und bis auf einen heiklen Schritt mittig in der Länge geht's vorerst recht gut dahin. Anspruchsvoll wird's dann am Ende mit technisch-kniffliger Wandkletterei, die bouldrig-geniale Moves fordert. Mehrmals musste ich mich so bewegen (und vor allem im Kopf dazu überwinden), dass ich dachte "geht nicht, hält nicht" - tat es aber und genau das macht eben die Faszination von dieser Art Kletterei aus.
Hervorragende Steilplattenkletterei, oft an Steigriffleisten am Ende von L2 (7a). |
L3, 20m, 6b: Kurzer Abschnitt, nachdem wir nun ja schon auf höhere Schwierigkeiten vorkonditioniert waren, sollte der uns vermeintlich leicht von der Hand gehen. Schon bald einmal stellt sich aber eine ziemlich schwierige, aber sehr originelle Stelle mit einem kleinen Mono-Loch in den Weg. Damit ist es nicht ganz gegessen, wartet doch am Ende noch eine knifflige Reibungsstelle. Steht man in eine Trittschlinge bzw. steht auf den BH, so geht's auch hier sicher A0, klettert man auf dem einfachsten Weg frei und somit etwas um die Haken rum, so ist doch Vertrauen in die Füsse nötig.
L4, 25m, 7a+: Eine leicht überhängende Wand mit speziell gefaltetem Fels stellt sich hier in den Weg, sehr originell und herausragend! Fingerkräftig-ausdauernde Kletterei wird hier gefordert, vorerst geht's an vertikalen Schlitzen bzw. Rissspuren noch ganz ordentlich voran. Doch es ist nicht nur die (Laktat)uhr die hier tickt, je weiter man kommt desto rarer werden die Tritte und längst nicht mehr jeder Griff hängt schön an. Unweigerlich stellt sich auch die Frage, ob man die nahende Kante links in die Beta einbauen soll oder nicht - eine Frage, die wir auch im Rückblick nicht ganz schlüssig beantworten können (und sonst würde ich es an dieser Stelle nicht tun, hehe ;-)). Mein Onsight-Versuch endete mit einem vom Tritt zippenden Fuss, doch möglicherweise wäre mir irgendwann noch der Saft ausgegangen. Aufgrund der Unübersichtlichkeit bestimmt eine harte 7a+ ohne Vorkenntnisse.
Der Charakter von L4 (7a+) kommt auf diesem Foto nicht extrem gut zur Geltung. |
L5, 20m, 6b+: Nachdem der Stand nach L4 eher unbequem ist und das nach L5 zu erreichende Band schon zum Greifen nah scheint, habe ich diese Länge gleich an L4 angehängt. Das geht problemlos und es war auch mit den 15 mitgeführten Exen möglich, indem ich ein paar Mal nach dem Klippen die letzte wieder mitnahm. Zum Klettern warten nicht wirklich die grossen Schwierigkeiten, d.h. es kam uns nicht unbedingt schwieriger wie L3 vor: eine etwas rutschig-brösmelige, reibungslastige Stelle gleich zu Beginn, dann wird es einfacher. Bestimmt aber ist's die qualitativ schlechteste Länge der Route, v.a. am Ende ist der Fels ziemlich moosig und um auf's Band zu kommen, muss auch noch an Grasbüscheln gezogen werden.
Das Finish von L5 (6b+) ist ziemlich bewachsen, es ist die schlechteste Passage der Route. |
L5', 15m, 2a: Um die folgende L6 zu klettern, muss auf jeden Fall der Stand rechts auf dem Band bezogen werden. Möglicherweise kann man das gleich an L5 anhängen, wenn man den Stand nach L4 bezieht. Die Querung ist unschwierig, aber kein Gehgelände - hinderlich waren v.a. das Totholz und ein paar weitere, morsche Gehölze. Wir haben ein wenig aufgeräumt, um für richtig Ordnung zu sorgen, wären aber Rasenmäher, Gartenschere und Säge nötig.
L6, 30m, 7a: Es sind nur gerade knappe 30m zu klettern hier, die sich aber doch wie eine kleine Reise anfühlen, v.a. auch weil man definitiv die Sicht- und möglicherweise auch die Hörverbindung zum Kameraden verliert. Los geht's mit athletischen Zügen an Henkeln und positiv-scharfen Leisten an einer 5m hohen, überhängenden Stufe - kräftig, aber gewusst wie nicht bösartig. Über eine geneigte Platte schleicht man an die nächste Aufgabe heran. Eine Stufe mit einer Art Verschneidung will mit 3D-Moves durch Spreizen und Stemmen bewältigt werden. Auch hier sind die Haken nahe beisammen, ein Sturz führt aber aufgrund der ganzen Anlage ziemlich sicher zu einem fürs Geläuf heiklen Aufprall auf der Platte. Zuletzt bietet die Länge dann noch ein drittes Problem, nämlich einen Wulst, wo an Slopern mit der nötigen Entschlossenheit operiert werden muss.
Mega schöne Felsstruktur in L6 (7a). |
L7, 15m, 6c+: Rein metermässig eine Mini-Seillänge, wo man aber trotzdem etwas geboten kriegt und durchaus Kraft verballern darf. Die ersten 2-3 Haken stecken zwar nahe beisammen, aber deutlich rechts der Kletterlinie, was wiederum die Gefahr eines Techtelmechtels mit dem Sicherungspartner bietet. Zum Glück ist's da noch nicht so schwierig. Es ist hier nicht zu viel verraten, wenn ich schreibe, dass die Crux erst nach der Rechtsquerung folgt. Der Wulst ist zwar tatsächlich so gutgriffig, wie man sich das aus der Distanz erhofft. Allerdings auch stark überhängend, ohne etwas Reserven und dem geschickten Einsatz aller Körperteile für den Fortschritt bzw. gegen die Schwerkraft geht's kaum! Uns dünkte diese Länge als gerade so schwierig wie L6.
Kurz, aber definitiv nicht schnurz: L7, 6c+ |
L8, 20m, 7b: Eine Dächerzone wartet direkt oberhalb vom Stand, doch die Route sucht sich einen einfacheren Ausweg rechtsherum. Über eine erste, verschneidungsähnliche Stufe und eine Plattenquerung kommt man in einen Winkel, wo es steil wird. Was auf den ersten Blick gar nicht so schwierig aussieht, wird durch die glatte, trittarme Wand rechts und die Sloprigkeit der Griffe mehr kompliziert, als einem lieb sein könnte. Die Crux ist kurz, aber doch reichlich knifflig. Wer kurze Hebel aufweist, kann sich möglicherweise geschickt im Winkel platzieren, für uns ging es schliesslich nur mit einer innovativen, aber wenig offensichtlichen, komplizierten Beta frei. Zuletzt dann noch ein paar athletische Züge an den eher unbequemen Stand, wo es wie beim Eisklettern von oben tropfte.
Im noch einfacheren, unteren Teil der nominellen Cruxlänge (L8, 7b). |
L9, 25m, 7a+: Der Auftakt in diese Länge begeistert wenig. Der Fels ist feucht, etwas bewachsen und über die ersten paar Meter von nur durchschnittlicher Qualität. Immerhin bietet dieser Abschnitt nur wenige Schwierigkeiten. Man wird dann aber doch noch reichlich dafür entschädigt, dass man sich auf diese letzte Seillänge begeben hat. Mittig folgt eine richtig coole Steilplatte mit Zangengriffen und Slopern, wo man sich sehr ausgewählt zu bewegen hat. Den Abschluss findet die Route mit einer kniffligen Linksquerung und einem athletischen Ausstiegswulst, ein richtig cooles Finale.
Nochmals grandiose Kletterei zum Abschluss in L9 (7a+). |
Um 15.45 Uhr und damit nach 6:15h Kletterei waren wir am Top. Zwar hatten wir die Punktebuchhaltung nicht komplett ins Reine gebracht, aber doch immerhin alle Stellen in freier Kletterei entschlüsselt und es waren nur L1 und L8 ohne einen stilreinen Durchstieg von Standplatz zu Standplatz geblieben. Die Sonne hatte uns bereits etwas nach 13.30 Uhr verlassen, doch nachdem es windstill und mild war und wir auch noch vom bereits aufgewärmten Fels profitieren konnten, waren die Bedingungen weiterhin gut. Viel zu tun gibt's am Ende der Route nicht, sie endet nämlich bereits ca. 2 Seillängen vor dem Top. Wir konnten nur darüber rätseln, warum dem so ist. Gewisse Indizien sind schon sichtbar, linkerhand wäre es wohl gut gangbar, der Fels aber dafür bewachsen und die Kletterei daher beschränkt attraktiv. Eher rechts hinauf hätte es zwar durchaus noch sauberen, kompakten Fels, aber dafür würden vielleicht hohe Schwierigkeiten warten?!? Naja, vermutlich haben die Erschliesser ja schon einen weisen und informierten Entscheid getroffen. Wir fädelten unsere 2x50m-Seile, mit 4 Manövern (à 50+, 35, 35, 50 Metern) waren wir zurück am Einstieg. Von da war es nur ein kurzer Weg zurück zum Ausgangspunkt. Bald hatten wir Caffè und Dolce in der Hand und konnten heimwärts fahren. Ja, heute hatten wir wieder einmal eine verborgene Perle entdeckt und einen grandiosen Klettertag bestritten. Wir waren uns einig, dass wir einen solchen Event baldmöglichst wiederholen sollten.
Facts
Torbeccio - Anima Ribelle 7b (6b+ obl.) - 10 SL, 225m - M. Bassi 2004 - ***;xxxxx
Material: mind. 1x70m oder 2x40m-Seile, 15 Express, Keile/Friends nicht nötig
Kaum bekannte, aber echt lohnende, sportliche MSL-Route in Talnähe, welche vom 1.1.-15.9. eines jeden Jahres aufgrund von Vogelschutz mit einem Kletterverzicht belegt ist. Die Moves sind sehr abwechslungsreich, von Steilplatten welche gute Fusstechnik erfordern, über vertikale Wandkletterei an Leisten und Seitgriffen, typischen Tessiner Boulderproblemen bis hin zu athletisch-henkligen Überhängen wird vieles geboten. Schon von weitem erkennt man, dass in der Wand da und dort Bäume wachsen und Graspolster spriessen. Die Route führt aber fast ausschliesslich durch kompakte Zonen und der raue, hautfressende Gneis ist auf der Linie zum grössten Teil sauber und frei von Bewuchs (eine höhere Frequentierung schadet der Sache aber bestimmt nicht). Die Absicherung mit Inox-BH ist sehr üppig, mit Verwendung einer Trittschlinge geht vermutlich die ganze Route A0. Aus der Kletterstellung sind aber nicht alle Bolts mühelos zu klippen und so fühlt es sich subjektiv schon nach 6b/6b+ obl. an. Die Bewertungen schienen uns im MSL-Kontext stimmig, in den Klettergärten am Wandfuss fallen mir dieselben Grade jedoch typischerweise deutlich leichter (woran es auch immer liegen mag...). Ein Topo zur Route findet man nur noch in älteren Ausgaben des SAC-Kletterführers Tessin, in der neusten Version ist es nicht mehr enthalten. Nach längerer Zeit habe ich nun zum Glück doch noch eine Kopie des Originaltopos erhalten (danke Joachim!). Ich stelle es hier gerne als PDF-Download zur Verfügung.